Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 V 570



130 V 570

83. Urteil i.S. Z. gegen IV-Stelle Nidwalden und Verwaltungsgericht des
Kantons Nidwalden

    I 164/04 vom 23. September 2004

Regeste

    Art. 52 Abs. 3 ATSG: Parteientschädigung im Einspracheverfahren.

    Der Einsprecher, der im Falle des Unterliegens die unentgeltliche
Verbeiständung beanspruchen könnte, hat bei Obsiegen Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Erw. 2.1 und 2.2).

    Frage offen gelassen, ob ein Parteientschädigungsanspruch auch
in weiteren Ausnahmefällen - wie bei besonderen Aufwendungen oder
Schwierigkeiten - anzuerkennen ist (Erw. 2.3).

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 2. April 2003 sprach die IV-Stelle Nidwalden dem
1953 geborenen Z. rückwirkend ab 1. Mai 1996 eine halbe Invalidenrente zu.
Die Nachzahlung der beiden Kinderrenten für O. und R. im Betrag von Fr.
67'822.-, einschliesslich des Vergütungszinses und der Betreffnisse
für den Monat April 2003, erfolgte gemäss einer weiteren Verfügung vom
2. April 2003 an die geschiedene Ehefrau E.

    Z. liess gegen die verfügte Ausrichtung der Kinderrenten an seine
geschiedene Ehefrau Einsprache erheben. Mit Entscheid vom 7. Juli 2003 hob
die IV-Stelle die angefochtene Verfügung vom 2. April 2003 in Gutheissung
der Einsprache insoweit auf, als darin die Nachzahlung der Kinderrenten an
die Mutter angeordnet wurde, und veranlasste die Nachzahlung des Betrages
von Fr. 67'822.- an Z. Weiter verpflichtete sie sich, von E. diesen
zu Unrecht ausbezahlten Betrag zurückzufordern. Den in der Einsprache
gestellten Antrag auf Zusprechung einer Parteientschädigung lehnte die
IV-Stelle ab.

    B.- Z. liess Beschwerde führen mit dem Begehren, unter teilweiser
Aufhebung des Einspracheentscheides sei ihm für das Einspracheverfahren
eine Parteientschädigung zuzusprechen. Mit Entscheid vom 22. Dezember
2003 wies das Versicherungsgericht des Kantons Nidwalden die Beschwerde ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Z. den vorinstanzlich
gestellten Antrag erneuern.

    Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.  Gemäss Art. 52 ATSG kann gegen Verfügungen innerhalb von
30 Tagen bei der verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden; davon
ausgenommen sind prozess- und verfahrensleitende Verfügungen (Abs. 1). Die
Einspracheentscheide sind innert angemessener Frist zu erlassen. Sie werden
begründet und mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen (Abs. 2). Das
Einspracheverfahren ist kostenlos. Parteientschädigungen werden in der
Regel nicht ausgerichtet (Abs. 3).

Erwägung 2

    2.  Streitig ist, ob der Beschwerdeführer für das Einspracheverfahren,
in welchem er obsiegt hat, eine Parteientschädigung zu Lasten der IV-Stelle
beanspruchen kann. Dabei ist zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen
von der in Art. 52 Abs. 3 Satz 2 ATSG statuierten Regel, wonach für das
Einspracheverfahren keine Parteientschädigungen ausgerichtet werden,
abgewichen werden kann, und ob im vorliegenden Fall ein derartiger
Ausnahmetatbestand gegeben ist.

    2.1  Im Bericht und Entwurf zu einem Allgemeinen Teil der
Sozialversicherung einer Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesellschaft
für Versicherungsrecht zur Verbesserung der Koordination in der
Sozialversicherung (publiziert in einem Beiheft zur SZS, Bern 1984) war
vorgesehen, dass im Einspracheverfahren, welches nach dem Vorbild der
obligatorischen Unfallversicherung (Art. 105 UVG und 130 UVV je in der
bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) konzipiert war, keine
Parteientschädigungen ausgerichtet werden (S. 52 und 76).

    Im Bericht der ständerätlichen Kommission zur Parlamentarischen
Initiative Allgemeiner Teil Sozialversicherung vom 27. September 1990,
der sich an denjenigen der Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesellschaft
für Versicherungsrecht anlehnt, ist für das Einspracheverfahren wiederum
kein Parteientschädigungsanspruch vorgesehen (BBl 1991 II 201 oben). In
den Erläuterungen zum Einspracheverfahren wird im Einklang mit den
Ausführungen der Arbeitsgruppe auf den Zweck dieses Rechtsbehelfs
hingewiesen (Vermeiden unnötiger Prozesse) sowie darauf, dass das
Einspracheverfahren kostenlos und weitgehend formlos sei, wie es in der
obligatorischen Unfallversicherung mit Erfolg angewendet werde (BBl 1991
II 262).

    Die Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und
Gesundheit schliesslich hielt in ihrem Bericht vom 26. März 1999 zur
Parlamentarischen Initiative Sozialversicherungsrecht u.a. fest, dass die
Rechtsprechung in bestimmten Fällen des Einspracheverfahrens den Anspruch
eines Minderbemittelten, dessen Standpunkt nicht aussichtslos ist, auf
Vergütung der Kosten für die notwendige anwaltschaftliche Vertretung
zuerkannt habe. Der ständerätliche Antrag würde dem entgegenstehen. Die
Kommission stellte sodann klar, dass die ständerätliche Fassung
die normale, voraussetzungslos geschuldete Parteientschädigung bei
Obsiegen ausschliesse, und beantragte, den Grundsatz zu relativieren und
festzuhalten, dass Parteientschädigungen in der Regel nicht ausgerichtet
werden. Damit soll - bei vorerst unentgeltlicher Verbeiständung - die
Entschädigung im Falle des Obsiegens ermöglicht werden (BBl 1999 4612).

    Diese Fassung der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit
und Gesundheit erfuhr in den parlamentarischen Beratungen keine Änderung
mehr und wurde in Art. 52 Abs. 3 Satz 2 ATSG vom 6. Oktober 2000 Gesetz.

    2.2  Die Entstehungsgeschichte (zur Bedeutung der Materialien für
die Gesetzesauslegung, insbesondere bei verhältnismässig jungen Gesetzen
siehe BGE 126 V 439 Erw. 3b mit Hinweisen) des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 ATSG
mit der engen Anlehnung an die analoge Regelung in der obligatorischen
Unfallversicherung, die den Anspruch auf Parteientschädigung im
Einspracheverfahren in Art. 130 Abs. 2 Satz 2 UVV (gültig bis 31. Dezember
2002) ausschloss, was vom Eidgenössischen Versicherungsgericht wiederholt
als gesetzmässig erachtet wurde (BGE 117 V 402 Erw. [II.] 1.; RKUV 2003
Nr. U 490 S. 364), zeigt klar, dass der Gesetzgeber die ausnahmsweise
Zusprechung einer Parteientschädigung im Einspracheverfahren unter
einer Bedingung als zulässig und geboten erachtete: Der Einsprecher,
der nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, um die Anwaltskosten
selbst zu tragen, und der im Falle des Unterliegens die unentgeltliche
Verbeiständung (Art. 37 Abs. 4 ATSG) hätte beanspruchen können, soll bei
Obsiegen vom unterliegenden Versicherungsträger entschädigt werden. Dieser
Tatbestand der Entschädigung der prozessarmen Partei im Obsiegensfall
ist hier unstreitig nicht gegeben.

    2.3

    2.3.1  Ob auch Ausnahmen vorzubehalten sind, wo gestützt auf Art. 8
BV im Einzelfall ein Anspruch auf Parteientschädigung anzuerkennen ist
(vgl. BGE 117 V 405 oben, Erw. [II.] 1/b), kann hier offen bleiben. Denn
es spricht nichts dafür, dass die Verweigerung einer Parteientschädigung
für das Einspracheverfahren im vorliegenden Fall in verfassungsmässig
unhaltbarer Weise dem Gebot der Gerechtigkeit zuwiderliefe.

    2.3.2  Nicht zu entscheiden ist hier schliesslich die Frage, ob
der Wortlaut von Art. 52 Abs. 3 Satz 2 ATSG die Zusprechung einer
Parteientschädigung auch bei Vorliegen besonderer Umstände (etwa
besonderer Aufwendungen oder Schwierigkeiten) zulässt, wie UELI KIESER
(ATSG-Kommentar: Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil
des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, N 28
zu Art. 52) annimmt. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers hatte
im Einspracheverfahren keine übermässigen Aufwendungen zu tätigen, da
der Fall weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht besondere
Schwierigkeiten bot. Dementsprechend konnte der Rechtsvertreter sich denn
auch mit einer knapp gehaltenen Einsprache im Umfang von drei Seiten
begnügen. Denn die Verfügung der IV-Stelle war insofern fehlerhaft,
als die Nachzahlung der Kinderrentenbetreffnisse an die Mutter und
geschiedene Ehefrau des Beschwerdeführers erfolgte, obwohl diese keinen
entsprechenden Antrag (Art. 82 IVV in Verbindung mit Art. 71ter AHVV)
gestellt hatte. Die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde sind
nicht geeignet, zu einem abweichenden Ergebnis zu führen. Der Umstand,
dass der Rechtsvertreter vor Abfassung der Einsprache einmal telefonisch
und einmal schriftlich bei der Verwaltung intervenierte, diese aber
untätig blieb, zeigt wohl die Nützlichkeit des Einspracheverfahrens und
dessen Zweck, Irrtümer des Versicherungsträgers zu korrigieren, ohne dass
der Betroffene ein Gerichtsverfahren anstrengen muss, belegt aber keine
besondere Komplexität des Verwaltungsverfahrens.

Erwägung 3

    3.  Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Dem
Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer
aufzuerlegen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG).