Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 V 380



130 V 380

55. Auszug aus dem Urteil i.S. D. gegen Winterthur Versicherungen und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich

    U 199/03 vom 10. Mai 2004

Regeste

    Art. 6 Abs. 1 und 2, Art. 22 UVG; Art. 9 Abs. 1 und 2 UVV (je
in der bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung): Voraussetzungen für
Fallabschluss.

    Der Unfallversicherer hat die Möglichkeit, die durch Ausrichtung von
Heilbehandlung und Taggeld anerkannte Leistungspflicht mit Wirkung ex nunc
et pro futuro ohne Berufung auf den Rückkommenstitel der Wiedererwägung
oder der prozessualen Revision einzustellen, d.h. den Fall abzuschliessen,
dies mit der Begründung, ein versichertes Ereignis liege - bei richtiger
Betrachtungsweise - gar nicht vor (Erw. 2).

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Die Winterthur erbrachte dem Versicherten aus dem Ereignis
vom 12. Januar 2000 bis August 2000 Heilbehandlung und richtete
Taggelder aus. Im Einspracheentscheid vom 30. Januar 2002 hat sie das
Ereignis vom 12. Januar 2000 weder als Unfall im Sinne von Art. 9 Abs. 1
UVV noch als unfallähnliche Körperschädigung nach Art. 9 Abs. 2 UVV
anerkannt und demgemäss ihre Leistungspflicht negiert. Die bis August 2000
ausgerichteten Leistungen hat sie nicht zurückgefordert. Zwar schickte sie
der Krankenkasse des Versicherten eine Kopie der dem Einspracheentscheid
vorausgegangenen Verfügung vom 18. Mai 2001 "mit der Bitte, uns die
bereits bezahlten Behandlungskosten zurückzuzahlen". Darin ist indessen
keine rechtsverbindlich angeordnete Leistungsrückerstattung - jedenfalls
nicht gegenüber dem hier am Recht stehenden Versicherten - zu erblicken.

    Nach dem Gesagten liegt eine Leistungseinstellung mit Wirkung ex nunc
et pro futuro ab September 2000 vor. Die Winterthur stützte sich hiebei
weder auf den Rückkommenstitel der Wiedererwägung noch auf denjenigen
der prozessualen Revision (BGE 129 V 110 Erw. 1.1). Die Vorinstanz hat
demgegenüber geprüft, ob die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung
der durch faktisches Verwaltungshandeln - Ausrichtung von Krankenpflege
und Taggeld - erfolgten Anerkennung des Versicherungsfalles als solchem
erfüllt sind, und hat dies bejaht.

    2.2  Es fragt sich, ob es dem Unfallversicherer freigestellt ist,
die durch Ausrichtung von Unfallpflege und Taggeld einmal anerkannte
Leistungspflicht ohne die Rückkommenstitel der Wiedererwägung oder der
prozessualen Revision ex nunc et pro futuro mit der Begründung zu negieren,
die Leistungszusprechung sei - in casu wegen Nichtvorliegens eines Unfalls
im Rechtssinne - anfänglich unrichtig gewesen. Die Rechtsprechung ist
diesbezüglich uneinheitlich.

    2.2.1  Im von der Vorinstanz zitierten RKUV 1998 Nr. U 308 S. 455
f. Erw. 3a führte das Eidgenössische Versicherungsgericht aus, die
Heilbehandlung und Ausrichtung von Taggeldern durch den Unfallversicherer
stellten de facto eine Anerkennung der Leistungspflicht dar, weshalb
hinsichtlich der nachträglichen Verneinung eines Unfalltatbestandes die
Wiedererwägungsvoraussetzungen erfüllt sein müssten.

    In RKUV 2000 Nr. U 377 S. 183 war der Fall eines Versicherten zu
beurteilen, der am 3. November 1992 beim Treppensteigen Schmerzen im linken
Fuss erlitten hatte. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
kam für die Heilbehandlung auf. Nachdem ein Rückfall gemeldet wurde, gab
sie am 16. Juli 1993 eine Deckungszusage ab und richtete die gesetzlichen
Leistungen aus. Mit Schreiben vom 27. Januar 1994 teilte sie dem
Versicherten mit, sie komme auf ihre Erklärung vom 16. Juli 1993 zurück,
da es sich bei den gemeldeten Beschwerden um Krankheitsfolgen handle. Mit
Verfügung vom 15. Februar 1994 - bestätigt mit Einspracheentscheid vom 17.
März 1995 - lehnte sie ihre Leistungspflicht ab, verzichtete aber auf die
Rückforderung der bereits ausgerichteten Leistungen. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht liess offen, ob nach einer formlosen Deckungszusage
des Unfallversicherers eine formelle Wiedererwägung erforderlich sei,
und ob das Ereignis vom 3. November 1992 ein Unfall gewesen sei. Es
verneinte den natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Ereignis und den
Beschwerden des Versicherten. Im Ergebnis führte es aus, damit stehe fest,
dass die ursprüngliche Deckungszusage der SUVA, sollte sie als formelle
Verfügung qualifiziert werden, zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung
von erheblicher Bedeutung gewesen sei, mithin die Voraussetzungen für ihre
Wiedererwägung mit Verfügung vom 15. Februar 1994 erfüllt gewesen seien.

    2.2.2  Gemäss Urteil F. vom 23. Dezember 2002, U 408/00, verneinte die
SUVA mit Verfügung vom 3. März 1998 - bestätigt mit Einspracheentscheid
vom 9. Juli 1998 - einen Leistungsanspruch des Versicherten hinsichtlich
der im Februar 1995 als Rückfall gemeldeten Rückenbeschwerden; bei diesen
habe es sich nie um die Folgen versicherter Unfälle gehandelt. Die
Kosten der zu Unrecht übernommenen Heilbehandlung würden zum Teil von
der Krankenversicherung zurückgefordert werden, während "gegenüber
Herrn F. (...) von einer Rückforderung der zu Unrecht erbrachten
Leistungen" abgesehen werde. Das Eidgenössische Versicherungsgericht
legte dar, die Vorinstanz habe die Verfügung der SUVA vom 3. März
1998 (namentlich im Hinblick auf die darin angekündigte Rückforderung
eines Teils der Heilbehandlung gegenüber der Krankenkasse) zu Recht als
Wiedererwägungsverfügung qualifiziert, mit welcher der Unfallversicherer
auf seine formlose Deckungszusage vom 21. April 1995 bzw. auf die durch
das faktische Verwaltungshandeln erfolgte Anerkennung der Leistungspflicht
zurückgekommen sei.

    In diesem Urteil wurde mithin auf die Beziehung zwischen der
Rückforderung gegenüber der Krankenkasse und der Berufung auf den
Rückkommenstitel der Wiedererwägung hingewiesen. Unbeantwortet blieb
die Frage, ob auf den Rückkommenstitel hätte verzichtet werden können,
wenn einzig die Leistungseinstellung ex nunc et pro futuro gegenüber dem
Versicherten streitig gewesen wäre.

    2.2.3  Im Urteil S. vom 29. Juni 1954, U 28/54 (publiziert im
SUVA-Jahresbericht 1954 Nr. 3a S. 18), wurde ausgeführt, der SUVA
könne bei der grossen Zahl der ihr gemeldeten Bagatellschäden nicht
zugemutet werden, vorgängig deren Übernahme (in casu Bezahlung von
Behandlungskosten) jeweilen eingehende Erhebungen tatbeständlicher
Natur durchzuführen. Vielmehr müsse ihr das Recht zugebilligt werden,
bei Fällen, in denen nachträglich weiter gehende Forderungen erhoben
würden, die Gewährung zusätzlicher Leistungen zu verweigern, wenn die
späteren Nachforschungen das Fehlen eines Unfalltatbestandes ergäben
(vgl. auch ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Bundesgesetz über die Unfallversicherung,
in: MURER/STAUFFER [Hrsg.], Rechtsprechung des Bundesgerichts zum
Sozialversicherungsrecht, 3. Aufl., Zürich 2003, S. 22).

    2.3

    2.3.1  In Fällen wie dem vorliegenden ist die Berufung auf die
Wiedererwägung oder die prozessuale Revision nicht erforderlich,
da die Leistungseinstellung mit Wirkung ex nunc et pro futuro kein
Rückkommen auf die bisher gewährten Versicherungsleistungen bedeutet. Nur
wenn der Unfallversicherer diese zurückfordert, muss er den hiefür
erforderlichen Rückkommenstitel der prozessualen Revision oder der
Wiedererwägung ausweisen (BGE 129 V 110 Erw. 1.1, 110 V 176). Will er
aber nicht so weit gehen, sondern die bisher zu Unrecht ausgerichteten
Leistungen stehen lassen (BGE 119 V 479 Erw. 1b/cc mit Hinweisen),
ist Verfügungsgegenstand nur die zukünftige Leistungseinstellung,
welche - wenn materiellrechtlich begründet und mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit nachgewiesen (RKUV 1994 Nr. U 206 S. 328 Erw. 3b)
- der Unfallversicherer ohne Rückkommensvoraussetzungen und damit ohne
Bindung an früher ausgerichtete Leistungen vornehmen kann.

    In diesem Sinne hat das Eidgenössische Versicherungsgericht auch
hinsichtlich der Prüfung der adäquaten Kausalität zwischen Unfall und
Gesundheitsschaden entschieden. Danach kann der Unfallversicherer trotz
vorheriger Ausrichtung von Heilbehandlung und Taggeld ohne Berufung
auf Wiedererwägung oder prozessuale Revision die Adäquanz verneinen und
gestützt hierauf die Leistungen ex nunc einstellen. Denn es ist erst nach
Abschluss des normalen, unfallbedingt erforderlichen Heilungsprozesses
zu prüfen, ob die geklagten Beschwerden zum Unfall adäquat kausal
sind. Nur im Rahmen einer allfälligen Leistungsrückerstattung sind die
Rückkommensvoraussetzungen zu beachten (Urteil K. vom 6. Mai 2003 Erw.
4.2.1, U 6/03, mit Hinweisen). Entsprechendes muss auch hinsichtlich
des Unfalltatbestandes gelten, dessen eingehende Prüfung unter Umständen
längere Zeit beanspruchen kann und oft von zusätzlichen Feststellungen
abhängt. Es ist mithin der in Erw. 2.2.3 dargelegten Rechtsprechung zu
folgen, und zwar unabhängig davon, ob eine Bagatell-Unfallmeldung oder
eine Unfallmeldung vorliegt.

    Vorbehalten bleiben lediglich Fälle, in denen der Vertrauensschutz
(BGE 127 V 258 Erw. 4b mit Hinweisen) einem sofortigen Leistungsstopp
entgegensteht.

    2.3.2  Das soeben Gesagte (Erw. 2.3.1) gilt nicht für Invalidenrenten,
da deren Aufhebung für die Zukunft unter Anpassungs- oder - im Rahmen
der substituierten Begründung - unter Wiedererwägungs- oder prozessualem
Revisionsvorbehalt (Art. 22 UVG; BGE 125 V 369 Erw. 2) steht. Analoges
gilt für jene über längere Zeit ausgerichteten Dauerleistungen, auf
welche die Rechtsprechung die Regeln über die Rentenanpassung sinngemäss
anwendet (z.B. BGE 113 V 27 mit Hinweisen), soweit der Grund der
Leistungseinstellung in einer Änderung der anspruchserheblichen Tatsachen
liegt (beim Taggeld die für die Arbeitsunfähigkeit und ihre Entwicklung
wesentlichen [gesundheitlichen, leistungsmässigen usw.] Verhältnisse).