Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 V 288



130 V 288

42. Auszug aus dem Urteil i.S. CSS Kranken-Versicherung AG gegen H. und
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau

    K 103/02 vom 7. Mai 2004

Regeste

    Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV: Ergotherapie.

    Eine Ergotherapie bei Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen
(F82, ICD-10) stellt nur dann eine Pflichtleistung der Krankenversicherer
dar, wenn eine schwerwiegende Störung vorliegt, welche somatische
Auswirkungen hat, die das betroffene Kind in seinem Alltagsleben erheblich
beeinträchtigen (Erw. 3). Das von der interdisziplinären Konsenskonferenz
von Ärzten und Versicherern entwickelte Erfassungsblatt (Scoreblatt) stellt
lediglich ein Hilfsmittel zur Beantwortung der Frage der Leistungspflicht
dar (Erw. 3.3); insbesondere kann nicht ab einer bestimmten Punktzahl
auf eine schwerwiegende Störung geschlossen und damit die Kostenpflicht
bejaht werden (Erw. 4.2).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Streitig und zu prüfen ist, ob die CSS Kranken-Versicherung AG
(nachfolgend: CSS) die Kosten für die vom Kinder- und Jugendpsychiatrischen
Dienst X. (KJPD) angeordnete Ergotherapie im Jahr 2000 zu übernehmen hat.

Erwägung 3

    3.

    3.1  Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten
für Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer
Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Diese Leistungen umfassen unter anderem
die Behandlungen, die ambulant von Personen durchgeführt werden, welche
auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen
erbringen (Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 KVG). Zu diesen Personen, welche
auf ärztliche Anordnung hin und in selbstständiger Weise sowie auf eigene
Rechnung Leistungen erbringen, gehören unter anderem Ergotherapeuten und
Ergotherapeutinnen (Art. 46 Abs. 1 lit. b KVV). Gemäss Art. 6 Abs. 1
KLV übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten
der Leistungen, die auf ärztliche Anordnung hin von Ergotherapeuten und
Ergotherapeutinnen erbracht werden, soweit sie der versicherten Person bei
somatischen Erkrankungen durch Verbesserung der körperlichen Funktionen
zur Selbstständigkeit in den alltäglichen Lebensverrichtungen verhelfen
(lit. a) oder im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung durchgeführt
werden (lit. b). Die KLV umschreibt somit nicht die einzelnen zu
vergütenden Leistungen in der Ergotherapie, sondern beschränkt sich
auf die Formulierung des Ziels (vgl. BARBARA HÜRLIMANN et al.,
Krankenversicherung, ein Ratgeber aus der Beobachter-Praxis, Zürich
1998, S. 163). Allgemein gilt im Krankenversicherungsrecht, dass es
sich beim Begriff Krankheit um einen Rechtsbegriff handelt, welcher
sich nicht notwendigerweise mit dem medizinischen Krankheitsbegriff
deckt (BGE 124 V 121 Erw. 3b mit Hinweisen). Demnach ist es letztlich
Aufgabe des Sozialversicherungsgerichts, über die Leistungspflicht der
Krankenversicherer zu entscheiden.

    3.2  Ausgangslage ist die Diagnose einer "Entwicklungsstörung
der motorischen Funktionen" (F82, ICD-10). Diese wird gemäss der
internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation
bei den psychischen Störungen eingeordnet (ICD-10, Kapitel V) und
umfasst als Hauptmerkmal eine schwerwiegende Beeinträchtigung der
Entwicklung der motorischen Koordination, die nicht allein durch
eine Intelligenzverminderung oder eine umschriebene angeborene
oder erworbene neurologische Störung erklärbar ist; üblicherweise
ist die motorische Ungeschicklichkeit verbunden mit einem gewissen
Grad von Leistungsbeeinträchtigungen bei visuell-räumlichen Aufgaben
(Weltgesundheitsorganisation [WHO], Internationale Klassifikation
psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V [F], Klinisch-diagnostische
Leitlinien, 4. Aufl., Bern 2000, S. 279 ff.; vgl. Auch A. WARNKE,
Entwicklungsstörungen, in: MÖLLER/LAUX/KAPFHAMMER, Psychiatrie und
Psychotherapie, Berlin 2000, S. 1603 ff.).

    3.3  In BGE 130 V 284 setzte sich das Eidgenössische
Versicherungsgericht mit der Frage der Kostenübernahme der Ergotherapie
bei einer Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (F82, ICD-10)
auseinander. Es hielt fest, dass diese motorischen Störungen bei
Kindern häufig sind und leichten Entwicklungsstörungen in der Regel mit
pädagogischen Massnahmen, d.h. einer Erziehung im Sinne einer günstigen
Beeinflussung des Verhaltens und der anlagemässig gegebenen Möglichkeiten
(z.B. Förderunterricht in kleinen Gruppen, gezielte Freizeitaktivitäten
oder der Besuch einer Einführungsklasse), begegnet wird; diese fallen -
im Gegensatz zu medizinischen Massnahmen - nicht unter die Leistungspflicht
der Krankenversicherer (BGE 130 V 286 Erw. 5.1.2 mit Hinweis).

    Die Behandlung einer motorischen Störung kann auch im Rahmen einer
Ergotherapie erfolgen. Bei einer Ergotherapie werden im Allgemeinen
alltägliche Lebensverrichtungen wie Essen, Waschen, Ankleiden, Schreiben
oder der Umgang mit anderen Menschen geübt; daraus ergibt sich, dass
sich Ergotherapie im Rahmen der Krankenversicherung vor allem auf die
Rehabilitation nach einer schweren Krankheit oder einem schweren Unfall
bezieht und die weitestmögliche Selbstständigkeit im täglichen Leben sowie
im Beruf bezweckt. Demnach ist eine ergotherapeutische Behandlung einer
leichten Entwicklungsstörung, welche vornehmlich mit pädagogischen Mitteln
arbeitet, atypisch und eine restriktive Unterstellung unter Art. 6 Abs. 1
lit. a KLV folgerichtig. Ist hingegen eine schwerwiegende Störung gegeben,
welche somatische Auswirkungen hat, die das betroffene Kind in seinem
Alltagsleben erheblich beeinträchtigen, ist eine somatische Erkrankung
im Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV und somit die Kostenpflicht der
Krankenversicherer zu bejahen (BGE 130 V 287 Erw. 5.1.3 mit Hinweisen).

    Bezüglich des Scoreblattes hält das Eidgenössische
Versicherungsgericht im erwähnten Urteil fest, dass es sich hierbei
um ein im Rahmen einer interdisziplinären Konsenskonferenz von Ärzten
und Versicherern ausgearbeitetes Erfassungsblatt zur Beurteilung
der Behandlungsbedürftigkeit handelt, welches bei den einzelnen
Beurteilungskriterien einen erheblichen Ermessensspielraum der
medizinischen Fachperson zulässt und somit lediglich Hilfsmittel zur
Beantwortung der rechtlichen Frage der Leistungspflicht darstellt (BGE
130 V 287 Erw. 5.3).

Erwägung 4

    4.

    4.1  In der Verordnung der Ergotherapie vom 17. August 2000 hält
Dr. med. Z., Chefarzt KJPD, eine Störung der Grob- und Feinmotorik mit
psychosomatischen Auswirkungen fest; mittels der Ergotherapie solle eine
Verbesserung der Selbstständigkeit in den für das Lebensalter des Patienten
adäquaten Lebensverrichtungen erzielt werden. Dieselben Angaben macht er
in der Verordnung vom 10. November 2000.

    Im Fragebogen Ergotherapie der CSS gibt Dr. med. Z. am 3. Januar
2001 eine umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen
(F82 nach ICD-10) mit psychomotorischen Auswirkungen an. Die Art der
Behinderung bezeichnet er als massive muskuläre Anspannung mit Problemen im
Dosieren der groben Kraft, mit Auswirkungen im Handlungsbereich und in den
sozialen Kontakten, sowie als dezente visuomotorische Schwierigkeiten. Die
psychomotorischen Beschwerden beschreibt er als motorische Unruhe nach
langer Konzentrationsphase mit wenig Gespür für den Körper (Kraftdosierung
und Druck) und Auswirkungen im sozialen Kontakt (Ausgrenzungssituation
mit Kollegen).

    Gemäss Dr. med. W., Vertrauensarzt der CSS, bestehen einerseits
Probleme im feinmotorischen Bereich, andererseits ein Verhaltensproblem
(Aktennotiz vom 13. März 2001).

    In ihrem Zwischenbericht vom 10. April 2001 hält die behandelnde
Ergotherapeutin Frau D. fest, der Versicherte wirke allgemein sehr nervös,
unruhig und unsicher. Er sei sehr waghalsig und schätze die Gefahr eines
Sturzes oder Ähnliches oft falsch ein, was in einer mangelnden Wahrnehmung
des Bezugs seines Körpers zum Raum begründet liege. Feinmotorisch habe er
insofern Schwierigkeiten, als er die Materialien schlecht wahrnehme und so
inadäquat mit ihnen umgehe. Es falle eine Hyperkinese auf. Er sei taktil
unterempfindlich und lehne alle Materialien ab, die keinen eindeutigen Reiz
hervorrufen würden. Dies alles führe zu einer schlechten Kraftdosierung.
Er habe auch Schwierigkeiten, Gegenstände durch den Tastsinn zu erkennen.
Seine Ausdauer- und Konzentrationsspanne sei herabgesetzt, habe sich im
Laufe der Therapie aber verbessert. Sein Verständnis für seriale Abläufe
und verbale Anweisungen sowie seine schulischen Fähigkeiten seien gut. Mit
der dreidimensionalen Vorstellung habe er keine Schwierigkeiten. Oft
verhalte er sich gegenüber Erwachsenen distanzlos und gegenüber anderen
Kindern provokativ; er suche die körperliche Auseinandersetzung, bevor er
selbst verletzt werde. Er habe sehr grosse elementare Ängste; es fehle
ihm am kindlichen Urvertrauen und er sei psychisch nicht gefestigt,
sondern eher labil. Die Ergotherapeutin hält eine psychotherapeutische
Behandlung für sinnvoll, da seine Ängste und Sorgen den Versicherten sehr
belasteten und einschränkten.

    Gemäss Bericht der Frau lic. phil. Y. vom 9. Mai 2001 war der
Versicherte von seinem Hausarzt, Dr. med. V. wegen dem Symptom
Hyperaktivität an den KJPD überwiesen worden. Auf Grund der von
Dr. med. Z. durchgeführten und ihrer eigenen Untersuchungen sei die
Diagnose einer Hyperkinese (F90.1, F83 nach ICD-10) sowie motorischer
Schwierigkeiten bei der Dosierung der groben Kraft gestellt worden. Die
Untersuchung von Dr. med. A., Facharzt für Pädiatrie, habe zur gleichen
Diagnose geführt. Die Schwierigkeiten liessen sich nicht alleine
mit pädagogischen Massnahmen beheben und hätten aus fachlicher Sicht
Krankheitswert, weshalb sie es als gegeben erachte, dass die Kosten der
Ergotherapie von der Krankenkasse zu übernehmen seien.

    Auf Aufforderung des kantonalen Gerichts hin füllte Dr. med. Z. am
29. April 2002 das Scoreblatt aus; es resultierten 19 von möglichen
35 Punkten.

    4.2  Nachdem das Scoreblatt lediglich ein Hilfsmittel zur Beurteilung
der Behandlungsbedürftigkeit ist (Erw. 3.3 in fine), kann nicht gesagt
werden, dass ab einer bestimmten Punktzahl eine schwerwiegende Störung
und damit die Kostenpflicht nach Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV zu bejahen
ist. Die den Beschwerdegegner betreffende Punktzahl von 19 bei maximal
35 Punkten ist jedoch als Indiz für eine mittlere bis schwere Störung zu
werten; anzufügen bleibt, dass aus dem Scoreblatt nicht hervorgeht, ob
die notierte Punktzahl sich auf den Beginn der Ergotherapie oder auf das
Datum seiner Ausstellung bezieht. Überdies werden die visuomotorischen
Schwierigkeiten als dezent bezeichnet (Bericht des Dr. med. Z. vom
3. Januar 2001). Hingegen wird nebst der umschriebenen Entwicklungsstörung
der motorischen Funktionen (F82, ICD-10) resp. der kombinierten
umschriebenen Entwicklungsstörung (F83, ICD-10) auch eine hyperkinetische
Störung des Sozialverhaltens (F90.1, ICD-10) diagnostiziert (Bericht der
Frau lic. phil. Y. vom 9. Mai 2001 mit Hinweis auf die Untersuchungen des
Dr. med. A. und des Dr. med. V.; vgl. auch Bericht der Ergotherapeutin Frau
D. vom 10. April 2001). Bezüglich der kognitiven Fähigkeiten werden dem
Beschwerdegegner gute Leistungen attestiert (Bericht der Ergotherapeutin
Frau D. vom 10. April 2001). Probleme zeigen sich jedoch bei der Umsetzung;
so werden eine grundlose Aggressivität, eine grosse Impulsivität, eine
mangelnde Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum und damit verbunden
eine hohe Waghalsigkeit, eine unsorgfältige Arbeitsweise, sowie eine
schlechte Kraftdosierung (mit ungewolltem Zerbrechen von Dingen oder
grobem Verhalten gegenüber Mitmenschen) beschrieben. Schliesslich regt die
behandelnde Ergotherapeutin auf Grund der grossen Ängste des Versicherten
sowie seiner eher labilen psychischen Verfassung eine psychotherapeutische
Behandlung an (Bericht vom 10. April 2001).

    4.3  Nach dem Gesagten ist somit tendenziell von einer mittleren
bis schweren Störung auszugehen. Allerdings ergeben sich aus den
Akten nicht genügend Hinweise, die diesen Gesamteindruck erhärteten.
Insbesondere findet sich kein Bericht des zuständigen Dr. med. Z.,
der dies durch eine überzeugende Begründung untermauern könnte. Es ist
somit ein entsprechender Bericht bei Dr. med. Z. einzuholen; er wird sich
vor allem dazu zu äussern haben, ob es sich um eine leichte, mittlere
oder schwere Entwicklungsstörung handelt, wo diese im Rahmen der ganzen
Bandbreite anzusiedeln ist, welche Schwierigkeiten auf die Entwicklungs-
und welche auf die hyperkinetische Störung zurückzuführen sind sowie
in welcher Art und Weise sich die diagnostizierten Störungen somatisch
äussern. Die Sache ist demnach an die Krankenkasse zurückzuweisen, damit
sie nach erfolgter Abklärung über den Anspruch auf Übernahme der Kosten
der Ergotherapie neu verfüge.