Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 V 284



130 V 284

41. Auszug aus dem Urteil i.S. CSS Kranken-Versicherung AG gegen
W. (K 35/02) und W. gegen CSS Kranken-Versicherung AG (K 36/02) und
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau

    K 35/02 und K 36/02 vom 29. März 2004

Regeste

    Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV: Ergotherapie.

    Eine Ergotherapie bei Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen
(F82, ICD-10) stellt nur dann eine Pflichtleistung der Krankenversicherer
dar, wenn eine schwerwiegende Störung vorliegt, welche somatische
Auswirkungen hat, die das betroffene Kind in seinem Alltagsleben erheblich
beeinträchtigen (Erw. 5).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Streitig und zu prüfen ist, ob die CSS Krankenversicherung AG
(nachfolgend: CSS) die Kosten der Ergotherapie des Versicherten von Januar
2000 bis Januar 2001 zu übernehmen hat.

    2.1  Die Vorinstanz bejahte die Voraussetzungen von Art. 6
Abs. 1 lit. a KLV, indem sie sich auf ein von einer interdisziplinären
Konsenskonferenz von Ärzten und Versicherern entwickeltes Erfassungsblatt
(Scoreblatt) abstützte, gemäss welchem Dr. med. H. am 27. November 2001
den Störungen bis Juli 2000 Krankheitswert zusprach.

    2.2  Die CSS vertritt die Ansicht, die blosse Tatsache, dass ein
Arzt eine Therapie verordne, führe noch nicht zur Leistungspflicht
der Krankenkasse. Erforderlich sei das Vorliegen einer Krankheit im
Rechtssinne. Die Störungen des Versicherten beträfen durchwegs die
Schule und seien pädagogisch, nicht aber medizinisch zu behandeln. Die
notwendigen Förderungsmassnahmen gingen nicht zu Lasten der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung.

    2.3  Dem hält der Versicherte entgegen, die Störungen würden ihn auch
im Alltag behindern. Es handle sich um erhebliche Beeinträchtigungen
der Gesundheit. Ihnen komme auch über den von der Vorinstanz genannten
Zeitpunkt hinaus Krankheitswert zu.

Erwägung 3

    3.  Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten
für Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer
Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Diese Leistungen umfassen unter anderem
die Behandlungen, die ambulant von Personen durchgeführt werden, welche
auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen
erbringen (Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 KVG). Zu diesen Personen, welche
auf ärztliche Anordnung hin und in selbstständiger Weise sowie auf eigene
Rechnung Leistungen erbringen, gehören unter anderem Ergotherapeuten und
Ergotherapeutinnen (Art. 46 Abs. 1 lit. b KVV). Gemäss Art. 6 Abs. 1
KLV übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten
der Leistungen, die auf ärztliche Anordnung hin von Ergotherapeuten und
Ergotherapeutinnen erbracht werden, soweit sie der versicherten Person bei
somatischen Erkrankungen durch Verbesserung der körperlichen Funktionen
zur Selbstständigkeit in den alltäglichen Lebensverrichtungen verhelfen
(lit. a) oder im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung durchgeführt
werden (lit. b). Die KLV umschreibt somit nicht die einzelnen zu
vergütenden Leistungen in der Ergotherapie, sondern beschränkt sich
auf die Formulierung des Ziels (vgl. BARBARA HÜRLIMANN et al.,
Krankenversicherung, ein Ratgeber aus der Beobachter-Praxis, Zürich
1998, S. 163). Allgemein gilt im Krankenversicherungsrecht, dass es
sich beim Begriff Krankheit um einen Rechtsbegriff handelt, welcher
sich nicht notwendigerweise mit dem medizinischen Krankheitsbegriff
deckt (BGE 124 V 121 Erw. 3b mit Hinweisen). Demnach ist es letztlich
Aufgabe des Sozialversicherungsgerichts, über die Leistungspflicht der
Krankenversicherer zu entscheiden.

Erwägung 4

    4.  Nachdem vorliegend weder eine psychiatrische Behandlung des
Versicherten erfolgte noch empfohlen wurde, fällt die Übernahme der Kosten
der Ergotherapie gestützt auf Art. 6 Abs. 1 lit. b KLV von vornherein
ausser Betracht.

Erwägung 5

    5.  Zu prüfen bleibt, ob allenfalls eine somatische Erkrankung im
Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV vorliegt.

    5.1

    5.1.1  Ausgangslage ist die Diagnose einer "Entwicklungsstörung
der motorischen Funktionen" (F82, ICD-10). Diese wird gemäss der
internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation
bei den psychischen Störungen eingeordnet (ICD-10, Kapitel V) und
umfasst als Hauptmerkmal eine schwerwiegende Beeinträchtigung der
Entwicklung der motorischen Koordination, die nicht allein durch
eine Intelligenzverminderung oder eine umschriebene angeborene
oder erworbene neurologische Störung erklärbar ist; üblicherweise
ist die motorische Ungeschicklichkeit verbunden mit einem gewissen
Grad von Leistungsbeeinträchtigungen bei visuell-räumlichen Aufgaben
(Weltgesundheitsorganisation [WHO], Internationale Klassifikation
psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V [F], Klinisch-diagnostische
Leitlinien, 4. Aufl., Bern 2000, S. 279 ff.; vgl. auch A. WARNKE,
Entwicklungsstörungen, in: MÖLLER/LAUX/KAPFHAMMER[Hrsg.], Psychiatrie
und Psychotherapie, Berlin 2000, S. 1603 ff.).

    5.1.2  Diese motorischen Störungen sind bei Kindern häufig.
Sie behindern diese im Alltag und insbesondere in der Schule. Leichten
derartigen Entwicklungsstörungen wird in der Regel durch Massnahmen wie
Förderunterricht in kleinen Gruppen, Besuch einer Einführungsklasse,
gezielte Freizeitaktivitäten wie Judo oder Karate etc. begegnet. Diese
stellen pädagogische Massnahmen dar, da sie auf eine Erziehung im
Sinne einer günstigen Beeinflussung des Verhaltens und der anlagemässig
gegebenen Möglichkeiten zielen (GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 84
FN 176). Somit fallen sie - im Gegensatz zu medizinischen Massnahmen -
nicht unter die Leistungspflicht der Krankenversicherer (vgl. bezüglich der
mit den motorischen Störungen verwandten Entwicklungsstörungen schulischer
Fertigkeiten [F81, ICD-10] EUGSTER, aaO, Rz 84).

    5.1.3  Eine Behandlung dieser motorischen Störungen kann auch im
Rahmen einer Ergotherapie erfolgen.

    Bei einer Ergotherapie werden im Allgemeinen alltägliche
Lebensverrichtungen wie Essen, Waschen, Ankleiden, Schreiben oder der
Umgang mit anderen Menschen geübt; daraus erhellt, dass sich Ergotherapie
im Rahmen der Krankenversicherung vor allem auf die Rehabilitation
nach einer schweren Krankheit oder einem schweren Unfall bezieht
und die weitestmögliche Selbstständigkeit im täglichen Leben sowie
im Beruf bezweckt (HÜRLIMANN, aaO, S. 163 f.; vgl. auch Pschyrembel,
Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl., Berlin 2002, S. 477). Demnach ist
eine ergotherapeutische Behandlung einer leichten Entwicklungsstörung,
welche vornehmlich mit pädagogischen Mitteln arbeitet, atypisch und eine
restriktive Unterstellung unter Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV folgerichtig. Ist
hingegen eine schwerwiegende Störung gegeben, welche somatische
Auswirkungen hat, die das betroffene Kind in seinem Alltagsleben erheblich
beeinträchtigen, ist eine somatische Erkrankung im Sinne von Art. 6 Abs. 1
lit. a KLV und somit die Kostenpflicht der Krankenversicherer zu bejahen.

    5.3  [Aus keinem der ärztlichen und psychologischen Berichte ergibt
sich], dass der Versicherte im hier massgeblichen Zeitpunkt (Herbst 1999)
unter einer schwerwiegenden Störung litt, die ihn in seinen alltäglichen
Verrichtungen erheblich beeinträchtigte und somit den Begriff der
somatischen Erkrankung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV erfüllt.
Dabei ist unbeachtlich, dass nach Ansicht des Dr. med. H. gestützt auf
das Scoreblatt eine Behandlungsbedürftigkeit ausgewiesen ist (Bericht
vom 1. November 2001, im Auftrag des Verwaltungsgerichts des Kantons
Thurgau verfasst). Denn einerseits handelt es sich bei diesem Scoreblatt
um ein im Rahmen einer interdisziplinären Konsenskonferenz von Ärzten
und Versicherern ausgearbeitetes Erfassungsblatt zur Beurteilung der
Behandlungsbedürftigkeit (vgl. Schweizerische Ärztezeitung 2001 S. 1793
ff.), welches bei den einzelnen Beurteilungskriterien einen erheblichen
Ermessensspielraum der medizinischen Fachperson zulässt und somit
lediglich ein Hilfsmittel zur Beantwortung der Frage der Leistungspflicht
darstellt. Andererseits hält Dr. med. H. in seinem Bericht nur eine
leichte motorische Dysfunktion sowie eine leichte Dyspraxie fest, womit
selbst unter Berücksichtigung der attestierten Fortschritte bei Aufnahme
der Ergotherapie keine somatische Erkrankung im Sinne von Art. 6 Abs. 1
lit. a KLV vorlag.