Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 V 241



130 V 241

35. Urteil i.S.Bundesamt für Sozialversicherung gegen A., S. und T.,
alle vertreten durch ihre Mutter C. und Kantonale Rekurskommission für
die Ausgleichskassen und die IV-Stellen, Basel

    H 63/02 vom 19. Februar 2004

Regeste

    Art. 29sexies Abs. 1 AHVG; Art. 298 Abs. 1 und Art. 298a Abs. 1
ZGB: Anspruch des unverheirateten Vaters auf die Anrechnung von
Erziehungsgutschriften.

    Grundlegendes Abgrenzungskriterium bildet die elterliche Sorge (vor 1.
Januar 2000: "elterliche Gewalt") im Sinne der Art. 296 ff. ZGB. Bis
Ende 1999 liess das schweizerische Recht eine gemeinsame Ausübung
der elterlichen Gewalt nicht zu, weshalb dem unverheirateten Vater,
welcher mit seinen Kindern und deren Mutter (Inhaberin des Sorgerechts)
zusammenlebte und die Hälfte der Kinderbetreuungs- und -erziehungsarbeit
verrichtete, für Versicherungszeiten vor dem 1. Januar 2000 von vornherein
keine Erziehungsgutschriften angerechnet werden können. Die Anrechnung
von Erziehungsgutschriften für spätere Versicherungszeiten setzt voraus,
dass die Vormundschaftsbehörde dem unverheirateten Vater (und der Mutter
seiner Kinder) die gemeinsame elterliche Sorge nach Art. 298a Abs. 1 ZGB
tatsächlich übertragen hat.

Sachverhalt

    A.- Am 28. Januar 2001 verstarb der 1958 geborene K. Mit Verfügung
vom 19. März 2001 sprach die Ausgleichskasse Basel-Stadt seinen Kindern
A. (geb. 1987), S. (geb. 1990) und T. (geb. 1994) ab 1. Februar 2001 je
eine ordentliche Waisenrente der AHV im Betrag von Fr. 594.- pro Monat
zu. Diesen Hinterlassenenrenten liegt die Vollrentenskala 44 sowie ein
massgebendes durchschnittliches Jahreseinkommen des verstorbenen Vaters von
Fr. 33'372.- zu Grunde. Erziehungsgutschriften wurden nicht angerechnet,
weil K. mit der Mutter seiner Kinder, C., nicht verheiratet war und die
elterliche Sorge nur ihr zustand.

    B.- Die Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen und
die IV-Stellen, Basel (heute: Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt),
hiess die hiegegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 6. Dezember
2001 gut und wies die Sache zur Neuberechnung der Waisenrenten unter
Mitberücksichtigung halber Erziehungsgutschriften an die Ausgleichskasse
zurück.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids.

    C. lässt für ihre Kinder Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen, während die Ausgleichskasse auf deren Gutheissung schliesst.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.  Streitig und zu prüfen ist, ob bei der Berechnung der den
Beschwerdegegnern zustehenden Waisenrenten Erziehungsgutschriften
zu Gunsten ihres verstorbenen Vaters (Art. 33 Abs. 1 AHVG) mit zu
berücksichtigen sind. Dabei ist unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten
unbestritten, dass die unverheirateten Eltern "zusammen in der gleichen
Liegenschaft lebten" und von der Geburt der ersten Tochter an bis zum
Tode des Vaters die gesamte Kinderbetreuungs- und -erziehungsarbeit
untereinander hälftig aufteilten. Der Verstorbene konnte deshalb in seinem
Beruf als selbstständiger Anwalt stets nur ein Teilpensum verrichten.

Erwägung 2

    2.

    2.1  Nach Art. 29quater AHVG wird die Rente nach Massgabe des
durchschnittlichen Jahreseinkommens berechnet, welches sich aus
dem Erwerbseinkommen, den Erziehungs- und den Betreuungsgutschriften
zusammensetzt. Gemäss Art. 29sexies Abs. 1 AHVG (in der hier anwendbaren,
ab 1. Januar 2000 geltenden Fassung) wird Versicherten für diejenigen Jahre
eine Erziehungsgutschrift angerechnet, in welchen ihnen die elterliche
Sorge (bis Ende 1999: "elterliche Gewalt") für eines oder mehrere Kinder
zusteht, die das 16. Altersjahr noch nicht erreicht haben. Dabei werden
Eltern, die gemeinsam Inhaber der elterlichen Sorge sind, jedoch nicht zwei
Gutschriften kumulativ gewährt. Der Bundesrat regelt die Einzelheiten,
insbesondere die Anrechnung der Erziehungsgutschrift, wenn (a) Eltern
Kinder unter ihrer Obhut haben, ohne dass ihnen die elterliche Sorge
zusteht, (b) lediglich ein Elternteil in der schweizerischen Alters-
und Hinterlassenenversicherung versichert ist, (c) die Voraussetzungen
für die Anrechnung einer Erziehungsgutschrift nicht während des ganzen
Kalenderjahres erfüllt werden und (d) geschiedenen oder unverheirateten
Eltern gemeinsam die elterliche Sorge zusteht.

    Die am 1. Januar 2000 in Kraft getretene Revision des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches vom 26. Juni 1998 brachte im Rahmen von Scheidungs- und
Kindesrecht als grosse Neuerung die Möglichkeit der gemeinsamen elterlichen
Sorge für geschiedene oder unverheiratete Eltern (Art. 133 Abs. 3 und
Art. 298a Abs. 1 ZGB). Nach früherem Recht konnten unverheiratete oder
geschiedene Eltern die elterliche Gewalt nie gemeinsam ausüben (BGE 114 II
415 Erw. 2; 117 II 523). Aber auch nach neuem Recht gilt der Grundsatz,
dass bei unverheirateten Eltern das Sorgerecht der Mutter zusteht,
und zwar von Gesetzes wegen von der Geburt an (Art. 298 Abs. 1 ZGB;
TUOR/SCHNYDER/SCHMID/RUMO-JUNGO, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch,
12. Aufl., Zürich 2002, S. 430). Die gemeinsame elterliche Sorge
setzt gemäss Art. 298a Abs. 1 ZGB die entsprechende Übertragung durch
die Vormundschaftsbehörde bei Erfüllung besonderer Erfordernisse
voraus (genehmigungsfähige Vereinbarung der unverheirateten Eltern
über ihre Anteile an der Betreuung des Kindes und die Verteilung der
Unterhaltskosten, gemeinsamer Antrag der Eltern, Vereinbarkeit der Lösung
mit dem Kindeswohl).

    2.2  Das AHV-Gesetz macht den Anspruch auf Anrechnung von
Erziehungsgutschriften grundsätzlich davon abhängig, dass der versicherten
Person für eines oder mehrere Kinder die elterliche Sorge zustand. Dieser
Begriff ist im Sinne der Art. 296 ff. ZGB zu verstehen. Eine Ausnahme von
der Voraussetzung der elterlichen Sorge sieht Art. 29sexies Abs. 1 AHVG
lediglich insofern vor, als der Bundesrat Vorschriften über die Anrechnung
von Erziehungsgutschriften u.a. für den Fall erlassen kann, dass Eltern
Kinder unter ihrer Obhut haben, ohne dass ihnen die elterliche Sorge
zusteht (lit. a der letztgenannten Gesetzesvorschrift). Die vom Bundesrat
gestützt hierauf erlassene Bestimmung von Art. 52e AHVV beschränkt sich
darauf, einen Anspruch auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften auch
für Jahre vorzusehen, in denen die Eltern Kinder unter ihrer Obhut
hatten, ohne dass ihnen die elterliche Sorge zustand. Mit dieser
Verordnungsbestimmung soll nicht etwa Versicherten ein Anspruch auf
Erziehungsgutschrift eingeräumt werden, denen von Gesetzes wegen keine
elterliche Sorge zusteht. Geregelt werden damit vielmehr die Fälle,
in denen den leiblichen Eltern oder Adoptiveltern die elterliche Sorge
entzogen wurde, die Kinder jedoch einem Elternteil zur Pflege und Erziehung
überlassen werden (Art. 311 ff. ZGB; vgl. hiezu BGE 112 II 21 Erw. 5;
zum Ganzen: BGE 126 V 2 Erw. 2, 431 f. Erw. 2a und 2b in fine, 125 V 246
Erw. 2a).

Erwägung 3

    3.

    3.1  Mit Blick auf diese grundlegende Abgrenzungs- und
Scharnierfunktion, welche nicht nur der Verordnungs- (AHI 1996 S. 35),
sondern bereits der Gesetzgeber (Amtl. Bull. 1993 N 255 f., 1994
S 550 und 597 sowie N 1355 f.) der elterlichen Gewalt im Rahmen von
Art. 29sexies Abs. 1 AHVG beigemessen hat, verneinte das Eidgenössische
Versicherungsgericht einen (eigenen) Anspruch auf die Anrechnung von
Erziehungsgutschriften bei Stief- und Pflegekindverhältnissen (BGE 126 V
432 Erw. 2b, 125 V 245), weil Stief- und Pflegeeltern keine elterliche
Gewalt (heute: elterliche Sorge) zukommt (Art. 299 und 300 Abs. 1
ZGB). Dagegen wurde in BGE 126 V 1 der Anspruch auf Erziehungsgutschriften
im Falle einer Vormundin bejaht, welche einen unmündigen Neffen in
persönlicher Obhut hatte. Als ausschlaggebend hiefür erachtete das Gericht,
dass der Vormund bei Unmündigkeit des Bevormundeten zwar nicht über die
elterliche Gewalt verfügt, ihm nach Art. 405 Abs. 2 ZGB unter Vorbehalt
der Mitwirkung der vormundschaftlichen Behörden aber grundsätzlich die
gleichen Rechte zustehen wie den Eltern und er über Befugnisse verfügt,
welche der elterlichen Gewalt nahe kommen (BGE 126 V 3 Erw. 4a). Diese
in Anwendung von Art. 29sexies Abs. 1 AHVG in seiner bis Ende 1999
geltenden Fassung ergangene Rechtsprechung beansprucht ohne weiteres
auch Gültigkeit für Fälle, welche nach der geänderten Gesetzesbestimmung
zu beurteilen sind. Denn die mit Wirkung ab 1. Januar 2000 vorgenommenen
Änderungen von Art. 29sexies Abs. 1 AHVG beschränken sich zum einen auf die
Ersetzung des bisherigen Ausdrucks "elterliche Gewalt" durch "elterliche
Sorge" und zum andern auf den Umstand, dass nach der bereits dargelegten
(Erw. 2.1 hievor), ebenfalls auf den 1. Januar 2000 in Kraft gesetzten
Revision des Scheidungs- und Kindsrechts nunmehr auch für geschiedene oder
unverheiratete Eltern die Möglichkeit der gemeinsam ausgeübten elterlichen
Sorge besteht.

    3.2  Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat denn auch mit
Urteil G. vom 24. Oktober 2003 (H 234/03 Erw. 3.2), in welchem bereits
die neue Fassung von Art. 29sexies Abs. 1 AHVG zur Anwendung gelangte,
einen Anspruch des unverheirateten, mit seinem Sohn und dessen Mutter im
gemeinsamen Haushalt lebenden Vaters auf die Anrechnung von Gutschriften
für Erziehungszeiten vor dem 1. Januar 2000 verneint, weil in einem
solchen Fall die elterliche Gewalt von Gesetzes wegen der Mutter zustand
und das schweizerische Recht eine gemeinsame Ausübung damals noch nicht
zuliess (vgl. Erw. 2.1 hievor). Es besteht kein Anlass, von dieser
Rechtsprechung abzuweichen. Entgegen der Auffassung von Rekurskommission
und Beschwerdegegnern genügt die Tatsache, dass Letztere praktisch auch
unter der väterlichen Obhut aufwuchsen und die Mutter als Inhaberin
des elterlichen Sorgerechts dieses faktisch mit dem Vater ihrer Kinder
gemeinsam ausübte, nicht für den Anspruch auf Erziehungsgutschriften,
weil die dargelegte gesetzliche Konzeption in diesem Bereich auf das
formelle zivilrechtliche Erfordernis der elterlichen Sorge abstellt
(vgl. auch Urteil Y.Z. vom 17. Januar 2001, H 346/00). Nichts anderes kann
sich mit Bezug auf die hier ebenfalls zu beantwortende Rechtsfrage nach
der Anrechnung von Erziehungsgutschriften für Versicherungszeiten nach
Inkrafttreten des revidierten Kindsrechts, d.h. ab 1. Januar 2000 ergeben:
Eine entsprechende Gutschrift setzt voraus, dass die Vormundschaftsbehörde
dem unverheirateten Vater (und der Mutter seiner Kinder) die gemeinsame
elterliche Sorge nach Art. 298a Abs. 1 ZGB tatsächlich übertragen
hat. Eine solche vormundschaftsbehördliche Übertragung des Sorgerechts
hat im vorliegenden Fall nicht stattgefunden. Den in diesem Zusammenhang
angestellten Rechtsgleichheitsüberlegungen der Beschwerdegegner kann nicht
gefolgt werden. Gerade weil die Revision des Zivilgesetzbuchs nicht nur
geschiedenen, sondern auch unverheirateten Eltern die Möglichkeit der
gemeinsamen elterlichen Sorge einräumt, kann von einer Besserstellung
der geschiedenen gegenüber den unverheirateten Vätern nicht die Rede sein.

    Nach dem Gesagten hat die Ausgleichskasse bei der Berechnung der
Waisenrenten zu Recht keine Erziehungsgutschriften berücksichtigt.