Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 V 237



130 V 237

34. Auszug aus dem Urteil i.S. K. gegen Arbeitslosenkasse des Kantons
Zug und Verwaltungsgericht des Kantons Zug

    C 103/03 vom 13. Februar 2004

Regeste

    Art. 277 ZGB; Art. 22 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 lit. a AVIG;
Art. 33 Abs. 1 AVIV sowie Rz C53 des Kreisschreibens des seco über die
Arbeitslosenentschädigung (KS-ALE) (je in der seit 1. Juni 2002 geltenden
Fassung).

    Rz C53 KS-ALE, wonach im Rahmen der Taggeldfestsetzung die
Unterhaltspflicht gegenüber Kindern gemäss Art. 276 ff. ZGB höchstens
bis zum 25. Altersjahr anzuerkennen sei, ist nicht gesetzmässig. Eine
absolute zeitliche Begrenzung der Unterhaltspflicht auf das vollendete
25. Altersjahr besteht zivilrechtlich nicht.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.  Arbeitslose erhalten gemäss Art. 22 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 lit. a
[e contrario] AVIG ein Taggeld von 80 % des versicherten Verdienstes,
sofern sie eine Unterhaltspflicht gegenüber Kindern haben.

    3.1  Nachdem das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 124
V 67 ff. Erw. 4 und 5 befunden hatte, dass die bisherige Umschreibung
des Begriffes der Unterhaltspflicht in Art. 33 Abs. 1 AVIV gesetzes-
und verfassungswidrig ist (weil die Annahme einer Unterhaltspflicht
von der kantonalen Gesetzgebung im Bereich der Kinderzulagen und
nicht vom entsprechenden zivilrechtlichen Begriff abhängig gemacht
worden war), passte der Bundesrat die betreffende Bestimmung auf
den 1. Juni 2002 an. Dem geänderten Wortlaut zufolge besteht nun
eine Unterhaltspflicht gegenüber Kindern nach Art. 22 Abs. 2 AVIG,
wenn der Versicherte nach Art. 277 ZGB unterhaltspflichtig ist. Die
arbeitslosenversicherungsrechtliche Erhöhung des Taggeldansatzes steht und
fällt daher mit der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht, ohne dass Gesetz-
oder Verordnungsgeber einen Ausnahmetatbestand vorgesehen hätten.

    3.2  Die Unterhaltspflicht der Eltern (oder eines Elternteils) dauert
bis zur Mündigkeit des Kindes (Art. 277 Abs. 1 ZGB). Hat es dann noch
keine angemessene Ausbildung, so haben die Eltern, soweit es ihnen nach den
gesamten Umständen zugemutet werden darf, für seinen Unterhalt aufzukommen,
bis eine entsprechende Ausbildung ordentlicherweise abgeschlossen werden
kann (Art. 277 Abs. 2 ZGB). Diese Bestimmung und die dazugehörende Lehre
und Praxis sehen eine obere zeitliche Grenze der Unterhaltspflicht nicht
vor. Wie die Vorinstanz richtig erwogen hat, wollte der Bundesrat im
Entwurf zum neuen Kindesrecht die Dauer der Unterhaltspflicht zunächst
auf das vollendete 25. Altersjahr des Kindes begrenzen (vgl. Botschaft
vom 5. Juni 1974 über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches
[BBl 1974 II 57]). Das Parlament hat jedoch diese Lösung verworfen und
als Ende der Unterhaltspflicht den Zeitpunkt bestimmt, in welchem die
Ausbildung ordentlicherweise abgeschlossen werden kann (ROLANDO FORNI,
Die Unterhaltspflicht der Eltern nach der Mündigkeit des Kindes in
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, in: ZBJV 1996 S. 431). Der
frühere Ausnahmecharakter der Unterstützungspflicht über die Mündigkeit
hinaus wurde mit der Herabsetzung des Mündigkeitsalters relativiert
(vgl. die Hinweise zur Lehre in BGE 129 III 377 Erw. 3.3). Es sollten
damit zwar nicht Bummelstudenten gefördert, aber auch nicht vom Kind
ausserordentliche Leistungen verlangt werden, sondern Fleiss, Einsatz
und guter Wille. Massstab kann nicht der Idealverlauf des jeweiligen
Bildungsganges sein. Ebenso sind obligatorische oder doch faktisch
unentbehrliche Praktika oder Sprach(schul)aufenthalte und Ähnliches
zu berücksichtigen (PETER BREITSCHMID, Kommentar zum Schweizerischen
Privatrecht [Basler Kommentar], Zivilgesetzbuch I, Art. 1-456 ZGB,
2. Aufl., Basel 2002, N 22 zu Art. 277 mit zusätzlichen Hinweisen zur
Praxis der Mündigenunterhaltspflicht). Ein Alter von 25 Jahren (oder
mehr) zur Erreichung eines ersten akademischen Titels gilt dabei als
nicht ungewöhnlich. Ein einmaliger Misserfolg oder ein vorübergehender
Unterbruch machen die Ausbildungsdauer noch nicht unverhältnismässig. Das
Kind muss aber nach einer gewissen Zeit einen Erfolg ausweisen können,
namentlich dartun, dass es Prüfungen bestanden und die vorgeschriebenen
schriftlichen Arbeiten eingereicht hat (FORNI, aaO, S. 439).

    3.3  Zwar beruft sich die Arbeitslosenkasse darauf, sie habe sich
an die für sie nach Art. 110 Abs. 3 AVIG verbindliche Weisung in Rz C53
des Kreisschreibens des seco über die Arbeitslosenentschädigung (KS-ALE)
gehalten, wo (in der seit 1. Juni 2002 gültigen Fassung) vorgeschrieben
ist, im Rahmen der Taggeldfestsetzung sei die Unterhaltspflicht
gegenüber Kindern gemäss Art. 276 ff. ZGB höchstens bis zum 25. Altersjahr
anzuerkennen. Eine solche Regelung ist aber auf Grund der in Erw. 3.1 und
3.2 dargelegten, gesetzlich stipulierten Bindung der Taggelderhöhung an
die zivilrechtliche Unterhaltspflicht nicht rechtskonform. Vielmehr haben
in Fällen wie dem hier anstehenden die Organe der Arbeitslosenversicherung
vorfrageweise über die Mündigenunterhaltspflicht zu befinden (BGE 120 V
382 Erw. 3a mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.  Wie das kantonale Gericht zu Recht erwogen hat, ist somit nicht
einzig der Wegfall der Altersgrenze ausschlaggebend für den Entscheid
über einen allfälligen Anspruch auf das höhere Taggeld. Nach Art.
277 Abs. 2 ZGB spielt auch die Angemessenheit der Ausbildung des Kindes
eine Rolle, und es ist die Frage zu klären, bis wann eine entsprechende
Ausbildung ordentlicherweise abgeschlossen werden kann. Ebenso ist
darüber zu befinden, ob nach den gesamten Umständen die Zumutbarkeit der
Unterhaltsverpflichtung gegeben ist (vgl. dazu CYRIL HEGNAUER, Kommentar
zum schweizerischen Privatrecht [Berner Kommentar], Schweizerisches
Zivilgesetzbuch, Das Familienrecht: Art. 270-295 ZGB, Bern 1997, N 88
bis 140 zu Art. 277 mit Hinweisen zur Praxis). Diese Fragen sind ohne
Kenntnis der konkreten Umstände nicht zu beantworten. Deshalb ist der
vorinstanzliche Rückweisungsentscheid zu bestätigen.