Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 V 132



130 V 132

22. Urteil i.S. P. gegen IV-Stelle für Versicherte im Ausland und
Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden
Personen

    I 474/03 vom 27. Januar 2004

Regeste

    Art. 32 und 106 Abs. 1 OG; Art. 11 FZA; Art. 86 Verordnung Nr. 1408/71:
Fristberechnung bei Beschwerdeerhebung durch eine in einem anderen
Vertragsstaat wohnhafte Person.

    Art. 86 der Verordnung Nr. 1408/71 regelt die Berechnung einer durch
nationales Verfahrensrecht festgelegten Rechtsmittelfrist nicht. Auch
bezüglich der Fristberechnung ist deshalb das Recht des zuständigen
Staates massgebend (Erw. 3.2). Vorbehalten bleiben die Grundsätze der
Gleichwertigkeit und der Effektivität (Erw. 3.1).

    Die Berechnung der Frist von 30 Tagen zur Erhebung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde (Art. 106 Abs. 1 OG) gemäss Art. 32
OG verstösst nicht gegen die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der
Effektivität (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Nach einer Rentenrevision verneinte die IV-Stelle für Versicherte
im Ausland mit Wirkung ab 1. Mai 2002 einen Anspruch von P. auf eine
Rente der Invalidenversicherung (Verfügung vom 11. März 2002).

    B.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies die Eidgenössische
Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen
am 12. Mai 2003 ab. Dieser Entscheid wurde P. gemäss postamtlicher
Bescheinigung am 3. Juni 2003 zugestellt.

    C.- P. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die Rechtsschrift wurde
am 6. Juli 2003 der spanischen Post übergeben. Vom Eidgenössischen
Versicherungsgericht aufgefordert, zur Frage der Rechtzeitigkeit
Stellung zu nehmen, macht P. geltend, gemäss Art. 48 des spanischen
Verwaltungsverfahrensgesetzes würden für die Berechnung einer nach
Tagen bestimmten Frist nur Werktage (ohne Sonn- und Feiertage)
gezählt, weshalb die Frist erst am 8. Juli 2003 geendet habe. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei demnach fristgerecht erhoben worden.

    Die IV-Stelle für Versicherte im Ausland und das Bundesamt für
Sozialversicherung, dieses sinngemäss, beantragen Nichteintreten auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.

    1.1  Gemäss Art. 106 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 132 OG ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
innert 30 Tagen seit Eröffnung des vorinstanzlichen Entscheides
einzureichen. Diese Frist kann gemäss Art. 33 Abs. 1 OG (anwendbar
nach Art. 135 OG) nicht erstreckt werden. Bei der Berechnung der
Fristen wird laut Art. 32 Abs. 1 OG der Tag, an dem die Frist zu laufen
beginnt, nicht mitgezählt. Ist der letzte Tag einer Frist ein Sonntag
oder ein vom zutreffenden kantonalen Recht anerkannter Feiertag, so
endigt sie gemäss Art. 32 Abs. 2 OG am nächstfolgenden Werktag. Nach
Art. 32 Abs. 3 OG ist die 30-tägige Frist nur gewahrt, wenn die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim
Eidgenössischen Versicherungsgericht eingegangen oder zu dessen Handen
der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder
konsularischen Vertretung übergeben worden ist.

    1.2  Der Entscheid der Rekurskommission wurde dem Beschwerdeführer am
3. Juni 2003 zugestellt. In Anwendung der genannten Bestimmungen begann
die 30-tägige Beschwerdefrist am 4. Juni 2003 zu laufen und endete am
3. Juli 2003. Die Beschwerde vom 6. Juli 2003 wäre demnach verspätet.

Erwägung 2

    2.

    2.1  Am 1. Juni 2002 ist das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen
der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit
(nachfolgend: FZA) in Kraft getreten.

    Nach Art. 1 Abs. 1 des auf der Grundlage des Art. 8 FZA ausgearbeiteten
und Bestandteil des Abkommens bildenden (Art. 15 FZA) Anhangs II
"Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit" des FZA in Verbindung
mit Abschnitt A dieses Anhangs wenden die Vertragsparteien untereinander
insbesondere die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni
1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer
und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern (nachfolgend: Verordnung Nr. 1408/71),
und die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über
die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der
Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie
deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern
(nachfolgend: Verordnung Nr. 574/72), oder gleichwertige Vorschriften an.

    2.2  Der Beschwerdeführer ist spanischer Staatsangehöriger, hat
Wohnsitz in Spanien und bezog seit Mai 1997 Leistungen der schweizerischen
Invalidenversicherung. In Anbetracht dieses grenzüberschreitenden
Sachverhaltes, der einen Angehörigen eines EU-Mitgliedstaates betrifft, ist
zu prüfen, ob und inwieweit das nationale Verfahrensrecht, insbesondere
hinsichtlich der Festlegung und Berechnung von Rechtsmittelfristen,
durch das FZA eine Änderung erfahren hat.

    2.3  In BGE 128 V 315 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
den Grundsatz, wonach in einem gerichtlichen Beschwerdeverfahren
das neue (materielle) Recht nicht anzuwenden ist, wenn die streitige
Verwaltungsverfügung vor dessen In-Kraft-Treten erlassen wurde, auch
bezüglich des FZA bestätigt (Erw. 1).

    Demgegenüber sind neue Verfahrensvorschriften nach der Rechtsprechung
grundsätzlich mit dem Tag des In-Kraft-Tretens sofort und in vollem
Umfange anwendbar, es sei denn, das neue Recht kenne anders lautende
Übergangsbestimmungen (BGE 129 V 115 Erw. 2.2, 112 V 360 Erw. 4a; RKUV
1998 Nr. KV 37 S. 316 Erw. 3b).

    2.4  Weder das FZA noch die Übergangsvorschriften in der Verordnung
Nr. 1408/71 (Art. 94 ff.) oder der Verordnung Nr. 574/72 (Art. 118
ff.) äussern sich zur Anwendbarkeit allfälliger Verfahrensvorschriften. Der
sofortigen Anwendung von Verfahrensbestimmungen, die sich aus dem FZA
ergeben, steht deshalb nichts entgegen.

Erwägung 3

    3.

    3.1  Das FZA legt in Art. 11 verfahrensrechtliche Mindestgarantien
fest: Die unter das Abkommen fallenden Personen haben ein Recht auf
Beschwerde bei der zuständigen Behörde (Abs. 1); Beschwerden müssen
innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden (Abs. 2); Abs. 3
gewährleistet die Möglichkeit, beim zuständigen Gericht "Berufung"
einzulegen (vgl. dazu BETTINA KAHIL-WOLFF, Im APF nicht geregelte
Fragen des Rechtsschutzes, in: Rechtsschutz der Versicherten und der
Versicherer gemäss Abkommen EU/CH über die Personenfreizügigkeit [APF]
im Bereich der Sozialen Sicherheit, St. Gallen 2002, S. 67 ff.; SPIRA,
L'application de l'Accord sur la libre circulation des personnes par le
juge des assurances sociales, in: Bilaterale Abkommen Schweiz-EU [Erste
Analysen], Basel 2001, S. 369 und 374 ff.).

    Bereits in BGE 128 V 318 Erw. 1c hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht - unter Hinweis auf Lehre und Rechtsprechung des
Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (nachfolgend: EuGH) -
festgestellt, dass die Regelung des Verfahrens der innerstaatlichen
Rechtsordnung überlassen ist, soweit das FZA und die gemäss dessen Anhang
II anwendbaren Rechtsakte keine einschlägige Bestimmung enthalten. Die
Modalitäten dürfen jedoch nicht weniger günstig sein als bei gleichartigen
Verfahren, die das innerstaatliche Recht betreffen (Grundsatz der
Gleichwertigkeit), und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie
die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte
praktisch unmöglich machen oder übermässig erschweren (Grundsatz der
Effektivität) (Urteil des EuGH vom 22. Februar 2001 in den verbundenen
Rechtssachen C-52/99 und C-53/99, Office national des pensions [ONP]
gegen Gioconda Camarotto und Giuseppina Vignone, Slg. 2001 S. I-1395
ff. [nachfolgend: EuGH-Urteil Camarotto und Vignone], Randnr. 21, mit
Hinweis). Die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität sind
auch im Anwendungsbereich des FZA zu beachten (BGE 128 V 319 Erw. 1c).

    3.2  Die Verordnung Nr. 1408/71 enthält in den Art. 84 bis 93
Bestimmungen zum internationalen Verwaltungsverfahrensrecht (vgl. ROB
CORNELISSEN, in: MAXIMILIAN FUCHS [Hrsg.], Kommentar zum Europäischen
Sozialrecht, 3. Aufl., Baden-Baden 2002, Vorbemerkungen zu Art. 84 der
Verordnung Nr. 1408/71). Laut Art. 86 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr.
1408/71 können Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe, die gemäss
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten
Frist bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht dieses Staates
einzureichen sind, innerhalb der gleichen Frist bei einer entsprechenden
Behörde, einem entsprechenden Träger oder einem entsprechenden Gericht
eines anderen Mitgliedstaats eingereicht werden. Das Stellen eines
Antrages bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht eines anderen
Mitgliedstaates als desjenigen, der die Leistung zu erbringen hat, soll
die gleichen Wirkungen entfalten, wie wenn der Antrag unmittelbar bei der
zuständigen Stelle (im Staat, der die Leistung zu erbringen hat) gestellt
worden wäre (HEINZ-DIETRICH STEINMEYER, in: FUCHS, aaO, N 4 zu Art. 86).

    Gemäss Art. 86 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ist die Stelle,
bei der eine Eingabe eingereicht wurde, zur unverzüglichen Weiterleitung an
die entsprechende Stelle im zuständigen Mitgliedstaat verpflichtet. Über
die Zulässigkeit eines Antrages oder eines Rechtsmittels - insbesondere
auch über die Rechtzeitigkeit - entscheidet ausschliesslich die zuständige
Stelle nach ihren Rechtsvorschriften (Urteil des EuGH vom 22. Mai 1980 in
der Rechtssache 143/79, Walsh gegen National Insurance Officer, Slg. 1980
S. 01639 ff., Randnrn. 11 f.).

    Mit dem Einreichen eines Antrages oder Rechtsbehelfs bei
einer Stelle in einem anderen Mitgliedstaat wird - im Sinne des
Gleichwertigkeitsprinzips - die Frist unter den gleichen Voraussetzungen
gewahrt, wie wenn das entsprechende Begehren direkt bei der zuständigen
Stelle eingereicht worden wäre (Art. 86 Abs. 1 Satz 3). Für die Berechnung
einer Frist lässt sich aus Art. 86 der Verordnung Nr. 1408/71 aber
nichts ableiten.

Erwägung 4

    4.  Mangels einer einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Regelung
bestimmt sich somit die Fristberechnung nach schweizerischem
Verfahrensrecht, soweit dieses nicht gegen die Grundsätze der
Gleichwertigkeit und Effektivität (Erw. 3.1 hievor) verstösst.

    4.1  Die Berechnung und die Einhaltung einer Frist ist für
die Bundesrechtspflege in Art. 32 OG in Verbindung mit Art. 1 des
Bundesgesetzes vom 21. Juni 1963 über den Fristenlauf an Samstagen
geregelt. Die Modalitäten sind für alle Beschwerdeverfahren vor
Bundesgericht gleich, unabhängig davon, ob es sich um rein innerstaatliche
oder Sachverhalte mit Auslandsbezug handelt. Ein Verstoss gegen den
Grundsatz der Gleichwertigkeit im Sinne der Rechtsprechung des EuGH liegt
somit nicht vor.

    4.2  Das nationale Verfahrensrecht darf zudem nicht so ausgestaltet
sein, dass es die Ausübung der Rechte, welche das Freizügigkeitsabkommen
einräumt, praktisch unmöglich macht oder übermässig erschwert. Nach
ständiger Rechtsprechung des EuGH sind angemessene "Ausschlussfristen
für die Rechtsverfolgung" (darunter fallen auch Rechtsmittelfristen) im
Interesse der Rechtssicherheit und mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar
(Urteil des EuGH vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33/76,
Rewe-Zentralfinanz AG und Rewe-Zentral-AG gegen Landwirtschaftskammer für
das Saarland, Slg. 1976 S. 1989 ff., Randnr. 5; EuGH-Urteil Camarotto und
Vignone, Randnr. 28 mit Hinweisen). Der Grundsatz der Effektivität wird
durch solche Fristen nicht verletzt (Urteil des EuGH vom 2. Dezember 1997
in der Rechtssache C-188/95, Fantask A/S e.a. gegen Industriministeriet,
Slg. 1997 S. I-6783, Randnr. 48 mit Hinweisen; Urteil des EuGH vom
28. November 2000 in der Rechtssache C-88/99, Roquette Frères SA
gegen Direction des services fiscaux du Pas-de-Calais, Slg. 2000 S.
I-10465 ff., Randnr. 23). Dies gilt insbesondere in Fällen wie dem hier
vorliegenden, wenn die Frist erst ab dem Tag läuft, an dem der Entscheid
dem Beschwerdeführer zugestellt wurde und er davon Kenntnis nehmen konnte
(vgl. Urteil des EuGH vom 27. Februar 2003 in der Rechtssache C-327/00,
Santex SpA gegen Unità Socio Sanitaria Locale n. 42 di Pavia, Beteiligte:
Sca Mölnlycke SpA, Artsana SpA und Fater SpA, für Slg. 2003 vorgesehen,
Randnrn. 55 ff.).

    4.3  Die Frage der Berechnung der Frist zur Einreichung einer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidgenössischen Versicherungsgericht ist
demnach auch im Anwendungsbereich des FZA nach den Bestimmungen des OG zu
beurteilen. Die vom Beschwerdeführer am 6. Juli 2003 der Post übergebene
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist deshalb verspätet (Erw. 1 hievor).