Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 V 125



130 V 125

21. Auszug aus dem Urteil i.S. D. gegen Amt für Wirtschaft und Arbeit,
Arbeitslosenversicherung, Zürich, und Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich

    C 162/02 vom 29. Oktober 2003

Regeste

    Art. 17 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 3 Satz 3 AVIG; Art. 17 Abs. 3
und Art. 30 Abs. 1 lit. d AVIG (in der bis 30. Juni 2003 in Kraft
gewesenen Fassung); Art. 45 Abs. 2 und 3 AVIV: Einstellungsdauer, Grad
des Verschuldens.

    Bei Vorliegen eines entschuldbaren Grundes ist auch bei Ablehnung
einer amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit nicht zwingend von einem
schweren Verschulden auszugehen. Unter einem entschuldbaren Grund ist
ein Grund zu verstehen, der das Verschulden als mittelschwer oder leicht
erscheinen lassen kann. Ein solcher im konkreten Einzelfall liegender
Grund kann die subjektive Situation der betroffenen Person oder eine
objektive Gegebenheit beschlagen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.

    3.1  Art. 45 Abs. 3 AVIV lautet in deutscher, französischer und
italienischer Sprache wie folgt:

      "Ein schweres Verschulden liegt vor, wenn der Versicherte ohne

    entschuldbaren Grund eine zumutbare Arbeitsstelle ohne Zusicherung
einer

    neuen aufgegeben oder eine zumutbare Arbeit abgelehnt hat."

      "Il y a faute grave lorsque l'assuré abandonne un emploi réputé

    convenable sans être assuré d'obtenir un nouvel emploi ou lorsqu'il

    refuse un emploi réputé convenable sans motif valable."

      "La colpa grave è data se l'assicurato ha abbandonato senza valido

    motivo un impiego idoneo senza garanzia di uno nuovo o ha rifiutato un

    lavoro idoneo."

    In der Rechtsprechung wird der Vorbehalt des entschuldbaren Grundes
(motif valable/valido motivo) in Übereinstimmung mit der deutschen
und französischen, aber im Widerspruch zur italienischen Fassung im
Zusammenhang mit beiden Tatbeständen, sowohl der Aufgabe einer zumutbaren
Arbeitsstelle ohne Zusicherung einer neuen (z.B. ARV 2000 Nr. 8 S. 41
Erw. 2c; Urteil H. vom 8. November 2001, C 156/01, Erw. 3a) als auch
der Ablehnung einer zumutbaren Arbeit (z.B. ARV 2000 Nr. 9 S. 48 Erw. 1;
Urteil I. vom 23. August 2001, C 21/01, Erw. 1b) genannt.

    3.2  Nach ständiger Rechtsprechung zu Art. 30 Abs. 3 Satz 3 und
Abs. 3bis AVIG in Verbindung mit Art. 45 Abs. 3 AVIV ist der Bemessung der
Einstellungsdauer sowohl bei Aufgabe einer zumutbaren Arbeitsstelle ohne
Zusicherung einer neuen (Einstellungsgrund gemäss Art. 30 Abs. 1 lit. a
AVIG in Verbindung mit Art. 44 Abs. 1 lit. b AVIV) als auch bei Ablehnung
einer nicht amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit (Einstellungsgrund
gemäss Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG in Verbindung mit Art. 44 Abs. 2 AVIV
in der bis 30. Juni 2003 geltenden Fassung) nicht zwingend ein schweres
Verschulden zugrunde zu legen. Dabei werden für die Unterschreitung
des für schweres Verschulden vorgesehenen Sanktionsrahmens statt eines
entschuldbaren Grundes (z.B. ARV 2000 Nr. 9 S. 50 Erw. 4b/aa; Urteile
F. vom 20. September 2002, C 48/02, Erw. 5, G. vom 20. Juni 2001, C 32/01,
Erw. 4, sowie T. vom 16. Februar 2001, C 15/00, Erw. 3b und 4b) oft -
gleichbedeutend (vgl. insbesondere Urteile F. vom 20. September 2002, C
48/02, Erw. 5, und T. vom 16. Februar 2001, C 15/00, Erw. 3) - besondere
Umstände des Einzelfalls verlangt, indem festgehalten wird, die Bestimmung
von Art. 45 Abs. 3 AVIV bilde hier lediglich die Regel, von welcher beim
Vorliegen besonderer Umstände im Einzelfall abgewichen werden dürfe,
sodass insoweit das Ermessen von Verwaltung und Sozialversicherungsgericht
nicht auf eine Einstellungsdauer im Rahmen eines schweren Verschuldens
beschränkt sei, sondern auch eine mildere Sanktion zulasse (z.B. ARV 2000
Nr. 8 S. 42 Erw. 2c; RJJ 1999 S. 56 Erw. 3; Urteile J. vom 17. März
2003, C 278/01, Erw. 2.1, K. vom 8. Oktober 2002, C 392/00, Erw. 4.5,
und D. vom 21. Mai 2001, C 424/00, Erw. 2b).

    3.3  Zur Frage, ob der für schweres Verschulden vorgesehene
Sanktionsrahmen auch bei Ablehnung einer amtlich zugewiesenen zumutbaren
Arbeit (Einstellungsgrund gemäss Art. 30 Abs. 1 lit. d AVIG in der
bis 30. Juni 2003 geltenden Fassung) unterschritten werden kann, ist
die Rechtsprechung hingegen uneinheitlich.

    3.3.1  In einem Urteil B. vom 15. Februar 1999, C 226/98, dessen
hier interessierende Erw. 2c in ARV 2000 Nr. 8 S. 41 abgedruckt ist,
setzte sich das Eidgenössische Versicherungsgericht mit seinem in
ARV 1999 Nr. 23 S. 136 publizierten Urteil U. vom 9. November 1998,
C 386/97, auseinander, welches die Ablehnung einer amtlich zugewiesenen
zumutbaren Arbeit betraf. Es führte aus, der Begründung dieses Urteils
sei zu entnehmen, dass eine den für schweres Verschulden vorgesehenen
Rahmen von 31 bis 60 Tagen (Art. 45 Abs. 2 lit. c AVIV) unterschreitende
Einstellungsdauer im Rahmen dieses Einstellungsgrundes generell unzulässig
sei und sich das Ermessen von Verwaltung und Sozialversicherungsgericht
auf die Festsetzung einer Einstellungsdauer zwischen 31 und 60 Tagen
beschränke (ARV 2000 Nr. 8 S. 41 Erw. 2c).

    Im gleichen Urteil C 226/98 warf das Eidgenössische
Versicherungsgericht indessen - ohne sie zu beantworten - die Frage auf,
ob - unter dem Titel der entschuldbaren Gründe - nicht auch bei der
Ablehnung zumutbarer Arbeit Ausnahmen vorzubehalten seien, so wenn die
Zumutbarkeit nach den gesamten Umständen nur als Grenzfall zu bejahen sei
(ARV 2000 Nr. 8 S. 42 Erw. 2c). Die Frage ist, nachdem die Zulässigkeit der
Unterschreitung des für schweres Verschulden vorgesehenen Sanktionsrahmens
für die Ablehnung einer nicht amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit
zwischenzeitlich im positiven Sinne beantwortet worden ist (Erw. 3.2
hievor), nur (noch) in Bezug auf die Ablehnung einer amtlich zugewiesenen
Arbeit aktuell. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat sie auch
in verschiedenen späteren Urteilen offen gelassen (z.B. in den Urteilen
M. vom 24. Juni 2003, C 126/02, Erw. 4, T. vom 22. Oktober 2002, C 207/02,
Erw. 3.2, und C. vom 10. Januar 2002, C 195/00).

    3.3.2  Demgegenüber brachte das Eidgenössische Versicherungsgericht in
verschiedenen eine Einstellung wegen Ablehnung einer amtlich zugewiesenen
zumutbaren Arbeit betreffenden Urteilen zum Ausdruck, dass bei allen in
Art. 45 Abs. 3 AVIV erwähnten Einstellungstatbeständen nicht ausnahmslos
von einem schweren Verschulden auszugehen sei (z.B. Urteile B. vom
6. Februar 2003, C 3/02, Erw. 3.2, G. vom 15. Februar 2002, C 93/01,
Erw. 3a, und U. vom 28. September 2001, C 119/01, Erw. 3a). Dementsprechend
erachtete es in mehreren Fällen eine Unterschreitung des für schweres
Verschulden vorgesehenen Sanktionsrahmens bei Einstellungen in der
Anspruchsberechtigung wegen Ablehnung einer amtlich zugewiesenen
zumutbaren Arbeit ausdrücklich für zulässig. So ging es in einem nicht
veröffentlichten Urteil R. vom 2. September 1999, C 61/99, von einem
leichten Verschulden aus und beanstandete in seinen Urteilen B. vom
6. Februar 2003, C 3/02, G. vom 15. Februar 2002, C 93/01, sowie H. vom
17. September 2001, C 391/00, die Annahme eines mittelschweren Verschuldens
nicht.

    3.3.3  Zusammenfassend ist festzuhalten, dass hinsichtlich des
Einstellungsgrundes der Ablehnung einer amtlich zugewiesenen zumutbaren
Arbeit die Möglichkeit der Annahme eines mittelschweren oder leichten statt
des in Art. 45 Abs. 3 AVIV vorgeschriebenen schweren Verschuldens bald
offen gelassen und bald bejaht wird. Die Rechtsprechung bedarf der Klärung.

    3.4

    3.4.1  Zunächst ist festzustellen, dass der Wortlaut aller drei
Sprachfassungen des Art. 45 Abs. 3 AVIV keinerlei Anhaltspunkt enthält,
der dafür sprechen würde, hinsichtlich der Ablehnung einer zumutbaren
Arbeit zwischen amtlich zugewiesenen auf der einen und nicht amtlich
zugewiesenen Stellen auf der andern Seite zu differenzieren. Eine solche
Unterscheidung wurde lediglich - teilweise - von der Rechtsprechung
eingeführt bzw. offen gelassen. Das Urteil C 226/98 (Erw. 3.3.1 hievor)
gab indessen das frühere, den Einstellungstatbestand der Ablehnung einer
amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit betreffende Urteil C 386/97 ungenau
wieder. In Letzterem war nicht entschieden worden, im Falle der Ablehnung
einer amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit müsse immer ein schweres
Verschulden angenommen werden. Vielmehr war darin erst nach Verneinung
eines entschuldbaren Grundes auf ein nach Art. 45 Abs. 3 AVIV zwingend
schweres Verschulden geschlossen worden (ARV 1999 Nr. 23 S. 137 Erw. 1b
und S. 139 Erw. 2c). Damit sollte demnach entgegen ARV 2000 Nr. 8 S. 41
Erw. 2c (sowie z.B. Urteil C. vom 10. Januar 2002, C 195/00, Erw. 1b)
nicht gesagt werden, im Rahmen des Einstellungsgrundes der Ablehnung
einer amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit sei eine Unterschreitung
der für schweres Verschulden vorgeschriebenen Einstellungsdauer generell
unzulässig. Vielmehr sollte damit festgestellt werden, dass bei Vorliegen
dieses Einstellungstatbestandes im Rahmen von Art. 45 Abs. 3 AVIV, das
heisst nur bei Fehlen eines entschuldbaren Grundes, zwingend von einem
schweren Verschulden auszugehen sei (vgl. Urteile I. vom 23. August 2001,
C 21/01, Erw. 1b, S. vom 20. Juli 2001, C 74/01, Erw. 1b und 4a, sowie
D. vom 19. Januar 2001, C 75/00). Art. 45 Abs. 3 AVIV schreibt nicht nur
bei Aufgabe einer zumutbaren Arbeitsstelle ohne Zusicherung einer neuen,
sondern auch bei Ablehnung einer zumutbaren Arbeit nur unter dem Vorbehalt
eines entschuldbaren Grundes die Annahme eines schweren Verschuldens vor
(Erw. 3.1 hievor). Wird ein solcher Grund bejaht, ist diese Bestimmung
nicht anwendbar und die Einstellungsdauer bemisst sich nach der Regel
des Art. 30 Abs. 3 Satz 3 AVIG.

    3.4.2  Abgesehen davon, dass schon der Wortlaut von Art. 45 Abs. 3 AVIV
keine Handhabe dafür bietet, die Ablehnung einer amtlich zugewiesenen
zumutbaren Arbeit anders zu behandeln als jene einer nicht amtlich
zugewiesenen zumutbaren Tätigkeit, vermag auch das im Urteil C 226/98
angeführte Argument, bei der Ablehnung einer zugewiesenen zumutbaren Arbeit
stünden Tatsache und Schwere des Verschuldens meist klar fest (ARV 2000
Nr. 8 S. 42 Erw. 2c; ebenso z.B. ARV 2000 Nr. 9 S. 50 Erw. 4b/aa und Urteil
C. vom 10. Januar 2002, C 195/00, Erw. 1b), für diesen Einstellungsgrund
einen Ausschluss einer die Einstellungsdauer bei schwerem Verschulden
unterschreitenden Sanktion nicht zu begründen. Selbst wenn bei diesem
Einstellungstatbestand Tatsache und Schwere des Verschuldens häufiger
klar feststehen sollten als bei den Einstellungsgründen der Aufgabe einer
zumutbaren Arbeitsstelle ohne Zusicherung einer neuen und der Ablehnung
einer nicht amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit, könnte dies nicht dazu
führen, die Möglichkeit einer Unterschreitung der für schweres Verschulden
vorgesehenen Einstellungsdauer bei Einstellungen wegen Ablehnung einer
amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit generell zu verneinen. Damit würden
diejenigen, durchaus auch bei diesem Einstellungsgrund vorkommenden,
Konstellationen vernachlässigt, in denen Tatsache und Schwere des
Verschuldens gerade nicht klar feststehen.

    3.4.3  Aufgrund dieser Erwägungen ist die Rechtsprechung im
Sinne der in Erw. 3.3.2 hievor angeführten Urteile dahin zu klären,
dass bei Vorliegen eines entschuldbaren Grundes, weil Art. 45 Abs. 3
AVIV diesfalls nicht anwendbar ist, auch bei Ablehnung einer amtlich
zugewiesenen zumutbaren Arbeit nicht zwingend von einem schweren
Verschulden auszugehen ist. Es verhält sich damit nicht anders als bei
der Aufgabe einer zumutbaren Arbeitsstelle ohne Zusicherung einer neuen
und bei der Ablehnung einer nicht amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit
(vgl. auch THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 712, der auch bei
den in Art. 45 Abs. 3 AVIV genannten Gründen eine Verschuldensprüfung
im Einzelfall postuliert, ohne zwischen den verschiedenen betroffenen
Einstellungstatbeständen zu differenzieren).

    3.5  Zu prüfen bleibt, was unter entschuldbaren Gründen zu verstehen
ist, deren Vorliegen dazu führt, dass anders als nach Art. 45 Abs. 3 AVIV
nicht zwingend von einem schweren Verschulden auszugehen ist. Dazu ist
vorab festzuhalten, dass der deutsche Wortlaut dieser Bestimmung, der
von einem "entschuldbaren Grund" spricht, nicht treffend ist, könnte
er doch dazu verleiten, nach Gründen zu suchen, die ein Verschulden
ausschliessen. Dies ist jedoch nicht gemeint, wie aus der Rechtsprechung
folgt, die bei entschuldbaren Gründen bzw. unter besonderen Umständen des
Einzelfalls nicht auf eine Einstellung verzichtet, sondern unter Umständen
auch bei den in Art. 45 Abs. 3 AVIV erwähnten Einstellungstatbeständen
den für schweres Verschulden vorgesehenen Rahmen unterschreitet (Erw. 3.2
und 3.3 hievor). Es ist vielmehr gestützt auf die französische und die
italienische Fassung, worin von einem "motif valable" bzw. "valido motivo"
gesprochen wird, festzustellen, dass unter einem "entschuldbaren Grund"
im Sinne von Art. 45 Abs. 3 AVIV ein Grund zu verstehen ist, der das
Verschulden leichter als schwer erscheinen lassen kann. Dies steht auch
in Übereinstimmung mit den Urteilen, in denen statt von entschuldbaren
Gründen von besonderen Umständen des Einzelfalls die Rede ist (vgl. für die
Aufgabe einer zumutbaren Arbeitsstelle ohne Zusicherung einer neuen sowie
die Ablehnung einer nicht amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit Erw. 3.2,
hievor und für die Ablehnung einer amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit
Urteile G. vom 15. Februar 2002, C 93/01, Erw. 3, und U. vom 28. September
2001, C 119/01, Erw. 3).

    Es handelt sich somit um Gründe, die - ohne zur Unzumutbarkeit zu
führen, ansonsten es schon an der Erfüllung der in Art. 45 Abs. 3 AVIV
erwähnten Einstellungstatbestände fehlen würde (vgl. Art. 44 Abs. 1 lit. b
AVIV, Art. 44 Abs. 2 AVIV in der bis 30. Juni 2003 geltenden Fassung
und Art. 30 Abs. 1 lit. d AVIG in der bis 30. Juni 2003 geltenden
Fassung) - das Verschulden als mittelschwer oder leicht erscheinen
lassen können. Diese im konkreten Einzelfall liegenden Gründe können -
wie etwa gesundheitliche Probleme (RJJ 1999 S. 57 Erw. 4) - die subjektive
Situation der betroffenen Person oder - so die Befristung einer Stelle
(ARV 2000 Nr. 9 S. 49 Erw. 4b/aa) - eine objektive Gegebenheit beschlagen.