Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 I 360



130 I 360

31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X.
und Z. GmbH gegen Untersuchungsrichter 3 des Unter- suchungsrichteramtes
IV Berner Oberland sowie Ober- gericht des Kantons Bern (staatsrechtliche
Beschwerde)

    1P.439/2004 vom 9. Dezember 2004

Regeste

    Art. 26 Abs. 1 i.V.m. Art. 36 Abs. 1 BV, Art. 145 StPO/BE, Art. 58
StGB; Eigentumsgarantie; Vernichtung beschlagnahmten Hanfs während des
Untersuchungsverfahrens.

    Die Bestimmung der Berner Strafprozessordnung über die vorzeitige
Verwertung beschlagnahmter Gegenstände bildet keine hinreichende
gesetzliche Grundlage für die Anordnung der vorzeitigen Vernichtung
beschlagnahmten Hanfs durch den Untersuchungsrichter (E. 14.2). Möglichkeit
eines zeitlich vorgezogenen selbständigen Einziehungsverfahrens und
entsprechenden Antrages an den dafür zuständigen Richter (E. 14.3).

Sachverhalt

    Am 4. Mai 2004 eröffnete der Untersuchungsrichter 3 des
Untersuchungsrichteramtes IV Berner Oberland die Strafverfolgung durch
Einleitung einer Voruntersuchung gegen X. und Y. wegen gewerbsmässiger
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Beide sind Gesellschafter
und Geschäftsführer der Z. GmbH.

    Am gleichen Tag stellte die Polizei anlässlich einer Hausdurchsuchung
bei der Z. GmbH in mehreren Treibhäusern ca. 62'000 Hanfstecklinge und
804 Hanf-Mutterpflanzen fest.

    Mit Verfügung ebenfalls noch vom selben Tag beschlagnahmte der
Untersuchungsrichter sämtliche festgestellten Hanfpflanzen sowie technische
Gerätschaften zu deren Aufzucht und Unterhalt. Er ordnete die Belassung
der Pflanzen und Gerätschaften an ihrem Standort an und untersagte der
Z. GmbH, sie zu entfernen oder darüber zu verfügen; dies unter Androhung
der Straffolgen gemäss Art. 292 StGB. Er gab der Z. GmbH Gelegenheit,
innert 14 Tagen den Nachweis für eine rechtmässige Verwendung bzw. einen
rechtmässigen Absatz der Pflanzen zu erbringen.

    Am 18. Mai 2004 wies der Untersuchungsrichter das Gesuch der Z. GmbH
um Freigabe von "Schnittgrün" für eine Lieferung an die Blumenbörse ab.

    Am 21. Mai 2004 wies er das Gesuch der Z. GmbH um Freigabe der
beschlagnahmten Hanfpflanzen ab. Er ordnete deren vorzeitige Vernichtung
durch die Kantonspolizei an.

    Am 27. Mai 2004 wies er ein weiteres Gesuch der Z. GmbH um Freigabe
von "Schnittgrün" ab.

    Mit Beschluss vom 22. Juni 2004 wies die Anklagekammer des Obergerichts
des Kantons Bern die von X. und der Z. GmbH gegen die Verfügungen des
Untersuchungsrichters vom 18., 21. und 27. Mai 2004 erhobenen Beschwerden
ab.

    X. und die Z. GmbH führen staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag,
den Beschluss der Anklagekammer aufzuheben.

    Mit Verfügung vom 16. September 2004 ist der Präsident der I.
öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes auf das Gesuch um
aufschiebende Wirkung nicht eingetreten, da die beschlagnahmten Pflanzen
zwei Tage nach dem angefochtenen Beschluss bereits vernichtet worden waren.

    Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 14

    14.

    14.1  Die Beschwerdeführerinnen rügen, die vorzeitige Vernichtung
der Hanfpflanzen verletze die Eigentumsgarantie. Es fehle dafür an einer
genügenden gesetzlichen Grundlage.

    14.2  Gemäss Art. 26 Abs. 1 BV ist das Eigentum gewährleistet.

    Ein Eingriff in die Eigentumsgarantie bedarf einer hinreichenden
gesetzlichen Grundlage. Zudem muss er durch ein öffentliches Interesse
gerechtfertigt und verhältnismässig sein (Art. 36 BV).

    Für einen schweren Eingriff in die Eigentumsgarantie ist eine klare
und eindeutige Grundlage in einem formellen Gesetz erforderlich (Art. 36
Abs. 1 Satz 2 BV; BGE 126 I 112 E. 3c S. 116; 119 Ia 362 E. 3a S. 366;
118 Ia 384 E. 4a S. 387; Urteil 1P. 23/2001 vom 5. September 2001,
publ. in: Pra 91/2002 S. 91 ff., E. 3b). Das Bundesgericht prüft insoweit
die Auslegung des kantonalen Rechts frei (BGE 126 I 219 E. 2c S. 221 f.;
121 I 117 E. 3a/bb S. 120 f., mit Hinweisen). Bei einem leichten Eingriff
genügt ein Gesetz im materiellen Sinn (vgl. BGE 109 Ia 188 E. 2 S. 190;
108 Ia 33 E. 3a S. 35; RAINER J. SCHWEIZER, St. Galler Kommentar, N. 12
zu Art. 36 BV; KLAUS A. VALLENDER, ebenda, N. 39 zu Art. 26 BV). Das
Bundesgericht prüft insoweit die Auslegung des kantonalen Rechts unter
dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür (BGE 119 Ia 88 E. 5c/bb S. 96,
141 E. 3b/dd S. 146 f.).

    Die Vernichtung beschlagnahmter Hanfpflanzen stellt nach der
Rechtsprechung - jedenfalls in einem Ausmass wie hier - einen schweren
Eingriff in die Eigentumsgarantie dar (Urteil 1P.775/2000 vom 10. April
2001, publ. in: Pra 90/2001 Nr. 111 S. 645 ff. und ZBl 103/2002 S. 150
ff., E. 3f). Einen schweren Eingriff hat das Bundesgericht auch bei
einer blossen Beschlagnahme bejaht, sofern die Gefahr besteht, dass
die Hanfpflanzen verderben und damit unwiederbringlich verloren gehen
(Urteil 1P.149/2003 vom 16. Mai 2003, E. 3.3).

    Die vorgenommene Vernichtung bedurfte danach einer klaren und
eindeutigen Grundlage in einem formellen Gesetz.

    Die Anklagekammer stützt die Vernichtung auf Art. 145 StPO/BE. Die
Bestimmung trägt den Randtitel "Vorzeitige Verwertung" und lautet:

      Beschlagnahmte Gegenstände oder Vermögenswerte, die schneller

      Wertverminderung ausgesetzt sind oder einen kostspieligen Unterhalt

      erfordern, können vorzeitig freihändig verwertet werden, sofern eine

      Rückerstattung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht in

      Frage kommt.

    Werden Gegenstände gemäss Art. 145 StPO/BE vorzeitig verwertet, fällt
ein Gegenwert an. Darüber ist im Aufhebungsbeschluss oder Endurteil
zu befinden (JÜRG AESCHLIMANN, Einführung in das Strafprozessrecht:
Die neuen bernischen Gesetze, Bern 1997, S. 260 N. 961). Die vorzeitige
Verwertung dient einerseits dem Interesse des Angeschuldigten, der damit
keinen Vermögensnachteil erleidet; anderseits dem Interesse des Staates,
der sonst gegebenenfalls schadenersatzpflichtig würde (Urteil 1P.479/1998
vom 16. Februar 1999, E. 3; THOMAS MAURER, Das bernische Strafverfahren,
2. Aufl., Bern 2003, S. 248).

    Bei der Vernichtung beschlagnahmter Gegenstände verhält es sich
grundlegend anders (ebenso Urteil 1P.775/2000 vom 10. April 2001,
publ. in: Pra 90/2001 Nr. 111 S. 645 ff. und ZBl 103/2002 S. 150 ff.,
E. 3e und 4). Es fällt kein Gegenwert an. Die Vernichtung liegt daher
nicht im Interesse des Angeschuldigten. Sie nimmt faktisch den Entscheid
des Richters vorweg (Urteil 1P.699/2000 vom 5. Februar 2001, E. 4). Dieser
ist gemäss Art. 58 StGB für die Einziehung zuständig (Abs. 1) und kann
anordnen, dass die eingezogenen Gegenstände vernichtet werden (Abs. 2).

    Ist die Vernichtung danach etwas wesentlich anderes, stellt Art. 145
StPO/BE dafür keine eindeutige und klare Grundlage dar. Die Anklagekammer
räumt das in der Sache selber ein, wenn sie ausführt, die Vernichtung
beschlagnahmter Gegenstände im Untersuchungsverfahren könne "nicht ohne
weiteres direkt auf Art. 145 StPO/BE gestützt werden".

    Die Beschwerde ist insoweit begründet. Die vom Untersuchungsrichter
angeordnete Vernichtung verletzte mangels hinreichender gesetzlicher
Grundlage die Eigentumsgarantie.

    14.3  Die Vernichtung beschlagnahmter Gegenstände ist grundsätzlich dem
Sachrichter vorbehalten (ebenso MAURER, aaO, S. 249; ROBERT HAUSER/ERHARD
SCHWERI, Schweizerisches Strafprozessrecht, 5. Aufl., Basel 2002,
S. 320 N. 35).

    Einzuräumen ist, dass in einem Fall wie hier ein Interesse daran
bestehen kann, beschlagnahmte Hanfpflanzen möglichst rasch der Vernichtung
zuzuführen. Werden die Pflanzen an ihrem Standort belassen, erfordert das
aufwändige Polizeikontrollen; werden sie an einen anderen Ort verbracht,
muss für ihren Unterhalt gesorgt werden. Beides verursacht erhebliche
Kosten. Um dies zu vermeiden, besteht die Möglichkeit, ein selbständiges
Einziehungsverfahren mit allfälliger anschliessender Vernichtung der
Pflanzen durchzuführen. Eine Einziehung muss nicht zwingend erst mit
dem Sachurteil angeordnet werden. Sie kann zeitlich vorgezogen werden
(vgl. NIKLAUS SCHMID, Urteilskommentar, Freiburger Zeitschrift für
Rechtsprechung 1998, S. 91/92; derselbe, in: Einziehung/Organisiertes
Verbrechen/Geldwäscherei, Kommentar, Bd. I, Zürich 1998, N. 80 am
Schluss zu Art. 58 StGB). Der Untersuchungsrichter kann noch während
der Strafuntersuchung dem gemäss Art. 58 f. StGB für die Einziehung
zuständigen Richter beantragen, beschlagnahmte Gegenstände einzuziehen
und zu vernichten.

    14.4  Da die Vernichtung die Eigentumsgarantie verletzte und
der angefochtene Beschluss schon aus diesem Grunde aufzuheben ist,
kann offen bleiben, ob die Vernichtung - wie die Beschwerdeführerinnen
geltend machen - überdies im Hinblick auf die Wirtschaftsfreiheit und
die Unschuldsvermutung verfassungswidrig war.