Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 I 180



130 I 180

16. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Obergericht
des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)

    5P.182/2004 vom 1. Juli 2004

Regeste

    Unentgeltliche Rechtsverbeiständung (Art. 29 Abs. 3 BV).

    Die Mutter, der die elterliche Obhut über ihr Kind entzogen
worden ist, hat für das von ihr zur Aufhebung dieser Massnahme bei der
Vormundschaftsbehörde eingeleitete Verfahren grundsätzlich Anspruch auf
einen unentgeltlichen Rechtsbeistand (E. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Mit Eingabe vom 24. März 2003 liess X., Mutter der Tochter Y.,
bei der Vormundschaftsbehörde A. das Begehren stellen, es sei die ihr
am 3. Dezember 2001 entzogene elterliche Obhut über das bei Z., ihrer
Schwester, platzierte Kind wieder auf sie zu übertragen. Gleichzeitig
stellte sie das Gesuch, ihr im eingeleiteten Verfahren die unentgeltliche
Rechtspflege zu gewähren und ihren Anwalt zum unentgeltlichen
Rechtsvertreter zu bestellen.

    Die Vormundschaftsbehörde A. beschloss am 16. Juni 2003, auf das
Armenrechtsgesuch nicht einzutreten mit der Begründung, im Verfahren
vor den Vormundschaftsbehörden sei das Institut der unentgeltlichen
Rechtspflege nicht vorgesehen.

    Am 6. Januar 2004 wies das Bezirksamt Baden die von X. gegen den
vormundschaftsbehördlichen Beschluss vom 16. Juni 2003 eingereichte
Beschwerde ab.

    B.- X. erhob Beschwerde an das Obergericht des Kantons Aargau
(Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche
Aufsichtsbehörde). Mit Entscheid vom 16. März 2004 änderte das Obergericht
den Beschluss der Vormundschaftsbehörde vom 16. Juni 2003 von Amtes wegen
dahin ab, dass das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
und Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes abgewiesen werde. Im
Übrigen wies es die Beschwerde wie auch das für das obergerichtliche
Verfahren gestellte Armenrechtsgesuch ab.

    C.- X. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9
und 29 Abs. 3 BV, eventuell von Art. 6 EMRK, und verlangt, den Entscheid
des Obergerichts aufzuheben; allenfalls sei ihr für das gesamte kantonale
Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht sowohl
eine willkürliche Anwendung von § 35 Abs. 3 des Aargauer
Verwaltungsrechtspflegegesetzes (wonach in Fällen, wo die Schwere
einer Massnahme oder die Rechtslage es als gerechtfertigt erscheinen
lässt, ein unentgeltlicher Rechtsvertreter bestellt werden kann)
als auch einen Verstoss gegen Art. 29 Abs. 3 BV vor. Sie geht nicht
davon aus, dass die unentgeltliche Rechtspflege nach dem kantonalen
Recht unter leichteren Bedingungen gewährt werden könne, als es
auf Grund der Verfassungsbestimmung der Fall ist. Die Beschwerde ist
daher ausschliesslich unter dem Gesichtswinkel von Art. 29 Abs. 3 BV zu
beurteilen, zumal in diesem Fall das Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht
frei prüfen kann, ob der Anspruch auf Gewährung des Armenrechts missachtet
worden sei. Auf Willkür beschränkt ist die Prüfungsbefugnis indessen,
soweit tatsächliche Feststellungen der kantonalen Instanz beanstandet
werden (BGE 129 I 129 E. 2.1 S. 133 mit Hinweisen).

    2.2  Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die
erforderlichen Mittel verfügt und deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos
erscheint, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege. Falls es zur Wahrung
ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen
Rechtsbeistand.

    Angesichts der obergerichtlichen Feststellung, das Verfahren vor
der Vormundschaftsbehörde sei kostenfrei, ist das hiefür gestellte
Armenrechtsgesuch der Beschwerdeführerin ausschliesslich bezüglich
der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung von Bedeutung. Ob eine solche
sachlich notwendig ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des
Einzelfalles. Die Rechtsnatur des Verfahrens ist ohne Belang. Grundsätzlich
fällt die unentgeltliche Verbeiständung für jedes staatliche Verfahren
in Betracht, in das der Gesuchsteller einbezogen wird oder das zur
Wahrung seiner Rechte notwendig ist (BGE 128 I 225 E. 2.3 S. 227
mit Hinweisen). Die bedürftige Partei hat Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen
sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten
bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Droht
das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition der
betroffenen Person einzugreifen, ist die Bestellung eines unentgeltlichen
Rechtsvertreters grundsätzlich geboten, sonst nur dann, wenn zur relativen
Schwere des Falles besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten
hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht
gewachsen wäre (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232; 125 V 32 E. 4b S. 35 f.,
mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.

    3.1  Die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung hat das
Obergericht mit der Begründung verneint, das Verfahren vor der
Vormundschaftsbehörde und den vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden
sei vergleichbar mit dem Verfahren vor den Betreibungs- und
Konkursämtern und den betreibungsrechtlichen Aufsichtsbehörden. In
beiden Fällen handle es sich um ein seiner Natur nach einfaches, von
der Offizialmaxime beherrschtes Einparteienverfahren mit allenfalls
weiteren Verfahrensbeteiligten. Für das Verfahren vor den Betreibungs-
und Konkursämtern habe die unentgeltliche Rechtsvertretung stets
ausser Frage gestanden und für das Beschwerdeverfahren sei festgestellt
worden, dass ein strenger Massstab anzulegen und die Mitwirkung eines
Rechtsanwalts in aller Regel nicht erforderlich sei. Das müsse für das
Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde um so mehr gelten, als diese,
anders als eine obere Aufsichtsbehörde, nicht endgültig entscheide und
zudem, wie auch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden, im Rahmen der
Offizialmaxime dafür zu sorgen habe, dass keinem Verfahrensbeteiligten
wegen Unbeholfenheit Nachteile erwüchsen. Hinzu komme, dass der Entscheid
einer Vormundschaftsbehörde durch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden
in deren Doppelfunktion als Aufsichts- und Beschwerdeinstanzen in einem
Beschwerdeverfahren selbst bei Verwirkung der Beschwerdefrist und auch
ausserhalb eines solchen Verfahrens von Amtes wegen aufgehoben werden
könne, wenn er als Verstoss gegen eine klare Gesetzesvorschrift oder einen
Rechtsgrundsatz im wohlverstandenen Interesse des Massnahmebedürftigen
nicht hingenommen werden könnte.

    3.2  Die vom Obergericht erwähnte Untersuchungsmaxime und die von
ihm angeführte Möglichkeit einer aufsichtsrechtlichen, von Amtes wegen
anzuordnenden Aufhebung eines vormundschaftsbehördlichen Entscheids durch
die Aufsichtsbehörden lassen eine anwaltliche Vertretung der am Verfahren
Beteiligten nicht ohne weiteres als unnötig erscheinen (vgl. BGE 125 V 32
E. 4b S. 36): Das sachgerechte Anlegen eines jeden Verfahrens und dessen
richtige Leitung erfordern von der Behörde eine umfassende Kenntnis der
einschlägigen Rechtsfragen, geht es doch darum, die rechtserheblichen
tatsächlichen Umstände einfliessen zu lassen. Die Erfahrung zeigt, dass ein
schlecht begonnenes Verfahren später nur sehr schwer in die richtige Bahn
zu bringen ist. Abgesehen davon, dass die Untersuchungsmaxime allfällige
Fehlleistungen der Behörde nicht zu verhindern vermag, ist zu bedenken,
dass sie nicht unbegrenzt ist. Sie verpflichtet die Behörde zwar, von sich
aus alle Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich sind,
und unabhängig von den Anträgen der Parteien Beweise zu erheben. Diese
Pflicht entbindet die Beteiligten indessen nicht davon, durch Hinweise zum
Sachverhalt oder Bezeichnung von Beweisen am Verfahren mitzuwirken (dazu
BGE 128 III 411 E. 3.2.1 und 3.2.2 S. 412 ff.). An der in BGE 111 Ia 5
(E. 4 S. 9 f.) unter Hinweis auf die umfassende Beschwerdemöglichkeit
geäusserten Auffassung, für das Verfahren zur Entziehung der elterlichen
Gewalt vor der erstinstanzlichen vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde
bestehe generell kein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, kann
nicht festgehalten werden.

    3.3  Der angefochtene Entscheid lässt sich sodann auch durch die
Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Verfahren vor den Betreibungsbehörden
und den betreibungsrechtlichen Aufsichtsbehörden nicht stützen: Wohl wurde
in BGE 122 I 8 (E. 2c S. 10) - unter Hinweis auf den Untersuchungsgrundsatz
- festgehalten, die Mitwirkung eines Rechtsanwalts sei in aller Regel nicht
erforderlich. Doch ist zu bedenken, dass sich diese Äusserung ausdrücklich
auf die Ermittlung des pfändbaren Einkommens des Schuldners bezog, bei der
die Betreibungsbehörden die massgebenden tatsächlichen Verhältnisse von
Amtes wegen abzuklären haben und sich in der Tat nur selten anspruchsvolle
Rechts- oder Tatfragen stellen. Der Auffassung des Obergerichts, das
Gleiche treffe auch hier zu und es liege somit kein Fall vor, der eine
unentgeltliche Rechtsverbeiständung rechtfertige, ist nicht beizupflichten:

    3.3.1  Das Bezirksamt Baden, auf dessen Entscheid vom 6. Januar 2004
sich das Obergericht beruft, hatte festgehalten, die Beschwerdeführerin
habe in dem an die Vormundschaftsbehörde zu richtenden Rechtsbegehren auf
Obhutszuweisung an sie die wesentlichen Änderungen ihrer persönlichen
Verhältnisse vorzubringen und darzutun, dass keine Gefährdung des
Kindeswohls bestehe. Die Vormundschaftsbehörde werde dann die als
Voraussetzung für die Aufhebung des Gemeinderatsbeschlusses vom
3. Dezember 2001 behaupteten Verhältnisse von Amtes wegen zu prüfen
und abzuklären haben. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass die
Beschwerdeführerin den durch ein solches Rechtsbegehren an sie gestellten
Anforderungen intellektuell nicht gewachsen oder im eingeleiteten
Verfahren aus irgendeinem andern Grund überfordert sein könnte. Sodann
ist dem Beschluss des Gemeinderats A. als Vormundschaftsbehörde vom
16. Juni 2003 zu entnehmen, dass der Beschwerdeführerin die elterliche
Obhut wegen langjähriger instabiler Lebens- und Wohnsituation und wegen
Drogenabhängigkeit entzogen worden war.

    3.3.2  Die Frage, ob die Obhut über das Mädchen wieder der
Beschwerdeführerin zugewiesen werden könne, ist sehr heikel und
vielschichtig. Ihre Beantwortung ist für die Beschwerdeführerin selbst -
wie auch für das Kind und die Pflegemutter - von erheblicher Bedeutung. Der
unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes zu fällende Entscheid
wird sehr stark in die persönliche Situation der Beschwerdeführerin als
leiblicher Mutter eingreifen. Es ist für sie von grosser Wichtigkeit, dass
im Verfahren die nach der Rechtsprechung entscheidwesentlichen Tatsachen
vorgebracht und ins richtige Licht gerückt werden. Die bezirksamtliche
Feststellung, die Beschwerdeführerin sei den Anforderungen, die das vor
der Vormundschaftsbehörde hängige Verfahren an sie stelle, gewachsen,
wird den gegebenen Umständen nicht gerecht. In Anbetracht der komplexen,
von einem juristischen Laien nur sehr schwer überblickbaren Verhältnisse
verbietet sich die Annahme, eine anwaltliche Vertretung sei für die
Beschwerdeführerin nicht notwendig.