Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 I 174



130 I 174

15. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. X. und Y. gegen Kantonsrat sowie Regierungsrat des Kantons Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde)

    2P.44/2004 vom 8. Juni 2004

Regeste

    Art. 9 und 29 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 40 Ziff. 2 KV/ZH; §
11 Abs. 2 des zürcherischen Publikationsgesetzes vom 27. September 1998;
Rechtsverzögerungsverbot; Prinzip der Gewaltentrennung. Verzögertes
Inkraftsetzen einer Steuergesetzrevision durch die Regierung.

    Das Verbot der Rechtsverzögerung bezieht sich auf das
Verfahren der Rechtsanwendung und grundsätzlich nicht auf jenes der
Rechtsetzung. Zuständigkeit des Zürcher Regierungsrates zur Bestimmung des
Zeitpunktes des Inkrafttretens von rechtsetzenden Erlassen des Kantonsrates
(E. 2.2).

    Grundsätze bei der Bestimmung des Zeitpunktes des Inkrafttretens von
Gesetzen durch die Regierung (E. 2.3). Vorliegend keine willkürliche
Missachtung des Willens des Gesetzgebers, wenn der Regierungsrat eine
Steuergesetzrevision, wie von ihm bereits vor deren Verabschiedung im
Parlament öffentlich kundgegeben, verzögert in Kraft setzt (E. 2.4).

Sachverhalt

    Am 25. August 2003 beschloss der Kantonsrat des Kantons Zürich eine
Teilrevision des kantonalen Steuergesetzes vom 8. Juni 1997, welche
einerseits den Ausgleich der Teuerung bei den Progressionsstufen der
Einkommens- und Vermögenssteuertarife sowie den betragsmässig festgelegten
Abzügen und andererseits zusätzliche, über den Ausgleich der Teuerung
hinausgehende Erhöhungen verschiedener Abzüge (persönlicher Abzug,
Kinderabzug sowie Kinderbetreuungskostenabzug) zum Inhalt hat.

    Mit Beschluss vom 24. November 2003 stellte der Kantonsrat das
unbenützte Ablaufen der Referendumsfrist für die erwähnte Teilrevision
des Steuergesetzes fest. Das Änderungsgesetz ist mit keiner Bestimmung
über das Inkrafttreten versehen (vgl. Offizielle Sammlung der Gesetze,
Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich [OS],
Bd. 58, Nr. 11 vom 19. Dezember 2003, S. 367 ff.).

    Am 17. Dezember 2003 beschloss der Regierungsrat des Kantons Zürich,
dass die Änderung des Steuergesetzes vom 25. August 2003 auf den 1. Januar
2006 in Kraft gesetzt wird.

    Mit Eingabe vom 6. Februar 2004 erheben X. und Y., beide wohnhaft im
Kanton Zürich, beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde, mit der sie
die Aufhebung des Beschlusses des Zürcher Regierungsrates vom 17. Dezember
2003 beantragen. Sie erblicken im Umstand, dass der Regierungsrat die
Änderung des Steuergesetzes erst per 1. Januar 2006 in Kraft setzt,
eine unzulässige Rechtsverzögerung und rügen zudem eine Verletzung
von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, des Willkürverbots sowie des Grundsatzes der
Gewaltentrennung.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.

    1.1  Nach Art. 84 Abs. 1 lit. a OG kann gegen kantonale Erlasse und
Verfügungen (Entscheide) wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte
staatsrechtliche Beschwerde geführt werden. Beim angefochtenen Beschluss
des Zürcher Regierungsrates, welcher das Datum des Inkrafttretens der vom
Kantonsrat am 25. August 2003 verabschiedeten Änderung des zürcherischen
Steuergesetzes festlegt, handelt es sich um einen letztinstanzlichen
kantonalen Hoheitsakt, welcher sich auf kantonales Recht stützt und
gegen den als eidgenössisches Rechtsmittel einzig die staatsrechtliche
Beschwerde zur Verfügung steht (Art. 84 Abs. 2 und Art. 86 Abs. 1 OG;
vgl. zur Unzulässigkeit der kantonalen Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen
regierungsrätliche Inkrafttretensbeschlüsse den Rechenschaftsbericht des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich [RB] 1994, Nr. 6).

    1.2  Als aufgrund persönlicher Zugehörigkeit (Wohnsitz) im Kanton
Zürich Steuerpflichtige sind die Beschwerdeführer durch die behauptete
rechtswidrige Verzögerung der Inkraftsetzung der Änderung des zürcherischen
Steuergesetzes vom 25. August 2003, welche eine Reduktion der Steuerlast
der natürlichen Personen vorsieht, in ihrer Rechtsstellung betroffen und
damit zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert (Art. 88 OG).

    1.3  Die staatsrechtliche Beschwerde ist binnen 30 Tagen, von der nach
dem kantonalen Recht massgebenden Eröffnung oder Mitteilung des Erlasses
oder der Verfügung an gerechnet, einzureichen (Art. 89 Abs. 1 OG).

    Der angefochtene Beschluss des Zürcher Regierungsrates vom 17. Dezember
2003 betreffend die Inkraftsetzung der Änderung des Steuergesetzes wurde
am 20. Januar 2004 publiziert (OS, Bd. 59, Nr. 1, S. 3). Die vorliegende
Beschwerde vom 6. Februar 2004 wurde damit rechtzeitig erhoben.

Erwägung 2

    2.

    2.1  Die Beschwerdeführer rügen, indem der Zürcher Regierungsrat
die Inkraftsetzung der am 25. August 2003 verabschiedeten Änderung des
kantonalen Steuergesetzes in unerklärlicher Diskrepanz zur sonst üblichen
Praxis und ohne stichhaltige Gründe um 28 Monate hinausschiebe, begehe
er eine verfassungswidrige und gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK verstossende
Rechtsverzögerung bzw. eine formelle Rechtsverweigerung. Sodann verletze
dieses schlechterdings unhaltbare Vorgehen das Willkürverbot (Art. 9
BV); namentlich liege eine willkürliche Anwendung von § 10 Abs. 2 des
zürcherischen Gesetzes vom 27. September 1998 über die Gesetzessammlung
und das Amtsblatt (Publikationsgesetz), wonach der Zeitpunkt des
Inkrafttretens eines rechtsetzenden Erlasses, wenn er nicht festgelegt
ist, vom Regierungsrat bestimmt wird, sowie ein willkürlicher Verstoss
gegen Art. 40 Ziff. 2 der Verfassung des eidgenössischen Standes Zürich
vom 18. April 1869 (KV/ZH; SR 131.211) vor, wonach dem Regierungsrat
die Pflicht und Befugnis zukommt, für die "Vollziehung der Gesetze und
der Beschlüsse des Volkes und des Kantonsrates" zu sorgen. Schliesslich
sei es auch mit dem Grundsatz der Gewaltentrennung unvereinbar, wenn
der mit dem Gesetzesvollzug betraute Regierungsrat - wie vorliegend -
die Wirksamkeit eines Gesetzes durch eine unbegründete Verschleppung des
Zeitpunktes des Inkrafttretens unrechtmässig hinauszögere und damit die
Gesetzgebungstätigkeit der Legislative unterlaufe.

    2.2  Das in Art. 29 Abs. 1 BV enthaltene Verbot der Rechtsverzögerung
bezieht sich, wie schon aus dem Wortlaut hervorgeht, auf Verfahren vor
Gerichts- und Verwaltungsbehörden, d.h. auf Verfahren der Rechtsanwendung
(vgl. GEORG MÜLLER, in: Kommentar aBV, Rz. 88 zu Art. 4 aBV; ULRICH
HÄFELIN/WALTER HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Aufl.,
Zürich 2001, N. 831 f.; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz,
3. Aufl., Bern 1999, S. 497; PASCAL MAHON, in: Aubert/Mahon, Petit
commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse,
Zürich 2003, Rz. 1 zu Art. 29 BV; Botschaft zur neuen Bundesverfassung,
BBl 1997 I 181; vgl. auch Urteil 5A.23/2001 vom 11. Februar 2002, E. 2a
nicht publ. in BGE 128 II 97). Das gilt auch für die mitangerufene
Konventionsgarantie von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (vgl. RUTH HERZOG, Art. 6 EMRK
und kantonale Verwaltungsrechtspflege, Diss. Bern 1995, S. 139; Urteil
des Bundesgerichts 2P.76/1996 vom 21. Oktober 1996, E. 3h). Vorliegend
geht es um eine gerügte Verzögerung im Verfahren der Rechtsetzung. In
der Doktrin wird erwogen, eine Anrufung des Verfassungsrichters wegen
Rechtsverzögerung unter gewissen Voraussetzungen auch gegenüber
dem Gesetzgeber zuzulassen, sofern es um die Nichterfüllung einer
präzise umschriebenen verfassungsrechtlichen Rechtsetzungspflicht geht
(vgl. WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde,
2. Aufl., Bern 1994, S. 149 f.; J.P. MÜLLER, aaO, S. 498 ff.; vgl. auch
die Urteile des Bundesgerichts P.815/1984 vom 18. Januar 1985, publ. in:
ZBl 86/1985 S. 492 ff., E. 3a, sowie 2P.76/1996 vom 21. Oktober 1996,
E. 3e). Ein solcher Tatbestand steht hier nicht in Frage. Es wird
nicht behauptet, dass die durchgeführte Revision des Steuergesetzes
einem präzisen verfassungsrechtlichen Auftrag entspreche. Im Übrigen
liegt eine vom Gesetzgeber beschlossene Neuregelung bereits vor, und es
geht einzig darum, auf welchen Zeitpunkt hin sie vom zuständigen Organ in
Kraft gesetzt werden muss. Soweit der Gesetzgeber diese Frage nicht selber
beantwortet, obliegt die Festsetzung des Inkraftsetzungstermins gemäss §
10 Abs. 2 des kantonalen Publikationsgesetzes dem Regierungsrat (vgl. dazu
CHRISTIAN SCHUHMACHER, Das Rechtsetzungsverfahren im Kanton Zürich, in:
LeGes 2004, Heft 1, S. 107; ferner: TOBIAS JAAG, Verwaltungsrecht des
Kantons Zürich, 2. Aufl., Zürich 1999, Rz. 407 und 616 ff.). Dass dieser
bei Stillschweigen des Gesetzgebers mit der Inkraftsetzung nicht beliebig
zuwarten oder von der Inkraftsetzung überhaupt absehen darf, bedarf keiner
weiteren Erläuterung. Der dem Regierungsrat durch Art. 40 Ziff. 2 KV/ZH
erteilte Auftrag zum Vollzug der Gesetze verlangt u.a. auch, dass er diese
entsprechend dem Willen des Gesetzgebers in Kraft setzt. Der Verzicht auf
die Inkraftsetzung eines gültig beschlossenen Gesetzes verstiesse gegen
den Grundsatz der Gewaltentrennung (vgl. auch BGE 111 Ia 176 E. 3c S. 178
f.). Soweit aber lediglich die Wahl des Zeitpunktes der Inkraftsetzung
in Frage steht und weder die Kantonsverfassung noch das betreffende
Gesetz hierüber eine nähere Regelung enthält, womit der Entscheid gemäss
der allgemeinen Bestimmung von § 10 Abs. 2 des Publikationsgesetzes in
die Hände des Regierungsrates gelegt ist, fällt als Schranke gegen eine
übermässige Verzögerung einzig das allgemeine Willkürverbot (Art. 9 BV)
in Betracht, worauf sich die Beschwerdeführer hier ebenfalls berufen.

    2.3  Die Inkraftsetzung eines beschlossenen Gesetzes oder einer
Gesetzesänderung soll vom hiermit beauftragten Vollzugsorgan (bzw. vom
Verordnungsgeber) nicht ohne zulässigen Grund verzögert werden. Anlass
für einen Aufschub können insbesondere Gründe administrativer Art bilden,
indem zum Beispiel Ausführungserlasse ausgearbeitet oder organisatorische
Massnahmen getroffen werden müssen, welche eine gewisse Zeit
beanspruchen. Zulässig sind aber auch Zweckmässigkeitsüberlegungen anderer
Art (z.B. Inkraftsetzen auf Beginn einer neuen Steuerperiode), doch
müssen sie sachlicher Natur sein (vgl. zum Ganzen: Gesetzgebungsleitfaden,
Bundesamt für Justiz, 2. Aufl., Bern 2002, S. 75 ff.; HANS GEORG NUSSBAUM,
Das Bundesgesetz nach der Verabschiedung durch die Bundesversammlung,
in: LeGes 2000, Heft 2, S. 53 ff., insbesondere S. 55; GEORG MÜLLER,
Elemente einer Rechtssetzungslehre, Zürich 1999, Rz. 125 ff.; ANDRÉ GRISEL,
L'application du droit public dans le temps, in: ZBl 75/1974 S. 236 f.;
JEAN-FRANÇOIS AUBERT, Bundesstaatsrecht der Schweiz, Bd. II, Basel 1995,
Nr. 1517 im neubearbeiteten Nachtrag; VPB 32/1964-65 Nr. 11 S. 23 ff. sowie
58/1994 Nr. 2 S. 56). Rein finanzielle Interessen reichen grundsätzlich
nicht aus, um etwa die Einführung beschlossener Steuererleichterungen oder
erhöhter Subventionen länger hinauszuschieben als objektiv gerechtfertigt
(Gesetzgebungsleitfaden, aaO, S. 75; GRISEL, aaO, S. 236; VPB 32/1964-65
Nr. 11 S. 26). Ein gewisser Spielraum ist dem zuständigen Vollzugsorgan
aber zuzugestehen.

    2.4  Vorliegend ist unbestritten, dass von den administrativen Abläufen
her eine Inkraftsetzung der Steuererleichterungen auf den 1. Januar 2005
ohne weiteres möglich gewesen wäre und wohl auch eher der bisherigen Übung
entsprochen hätte. Der Regierungsrat stellt nicht ernsthaft in Abrede,
dass die angespannte Finanzlage dazu Anlass gab, die Gesetzesrevision,
welche für den Staat zu einem grösseren Einnahmenausfall führen wird,
erst per 1. Januar 2006 in Kraft zu setzen. Dieses Vorgehen erweckt nach
dem Gesagten verfassungsrechtliche Bedenken. Der Umstand, dass im Kanton
Zürich in Verfassung und Gesetz (Art. 31a KV/ZH sowie § 6 Abs. 2 und §
21 des Gesetzes vom 2. September 1979 über den Finanzhaushalt des Kantons)
Bestimmungen zur Senkung der Ausgaben in Kraft getreten sind, vermag für
sich allein die verzögerte Inkraftsetzung der Steuergesetzrevision nicht
zu rechtfertigen, umso weniger, als diese letztere Gesetzesänderung
(vom 25. August 2003) jüngeren Datums ist, d.h. bereits unter der
Herrschaft der erstgenannten Regelung (in Kraft seit 1. Juli 2001) und in
Kenntnis des bestehenden Sanierungsbedürfnisses beschlossen wurde. Ins
Gewicht fällt dagegen der vom Regierungsrat hervorgehobene Umstand,
dass er seine Absicht, die Steuergesetzrevision (verbunden mit einer
geplanten Steuerfusserhöhung) erst per 1. Januar 2006 in Kraft treten zu
lassen, schon Anfang Mai 2003, d.h. noch vor der zweiten Lesung dieser
Gesetzesrevision im Kantonsrat, öffentlich kundgegeben hat. Nachdem der
Kantonsrat in seiner zweiten Lesung der Steuergesetzrevision am 25. August
2003 in Kenntnis dieser Erklärungen auf eine eigene Vorschrift über
die Inkraftsetzung verzichtet hat, kann dem Regierungsrat, wenn er sich
für die Inkraftsetzung an seine gemachte Ankündigung hielt, jedenfalls
keine willkürliche Missachtung des Willens des Gesetzgebers vorgeworfen
werden. Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich daher als unbegründet.