Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 130 IV 101



130 IV 101

17. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)

    6S.376/2003 vom 20. September 2004

Regeste

    Verfolgungsverjährung (Art. 70 ff. StGB); altes und neues Recht,
milderes Recht (Art. 337 StGB), Ablauf der Verjährungsfrist (Art. 70
Abs. 3 StGB).

    Ist die Tat vor Inkrafttreten des neuen Verjährungsrechts begangen
worden, so bestimmt sich die Verfolgungsverjährung nach dem alten Recht, es
sei denn, dass das neue Recht für den Beschuldigten das mildere ist (E. 1).

    Die Verfolgungsverjährung hört bereits mit der Fällung und nicht erst
mit der Eröffnung des erstinstanzlichen Urteils zu laufen auf; Anknüpfung
an die bisherige Rechtsprechung unter dem alten Recht (E. 2).

Sachverhalt

    Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X. am 2. Juni 2003 wegen
mehrfacher Erschleichung einer Falschbeurkundung gemäss Art. 15 Ziff. 1
Abs. 2 VStrR (SR 313.0), wegen mehrfacher Zollübertretung sowie wegen
mehrfacher Hinterziehung oder Gefährdung der Steuern gemäss Art. 77 der
Mehrwertsteuerverordnung zu einer Busse von Fr. 23'000.-. Dem Schuldspruch
liegen drei Ausfuhrabfertigungen für Schmuckwaren im Gesamtwert von Fr.
595'000.- zu Grunde, bei denen X. andere als in den Zolldeklarationen
angegebene, aber ähnlich aussehende Schmuckstücke mitführte. Drei weitere
gleichartige Handlungen erachtete das Obergericht als verjährt. Es trat
deshalb in diesen Punkten auf die Anklage nicht ein.

    X. erhebt beim Bundesgericht eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, es sei das Urteil des Obergerichts aufzuheben, soweit es
ihn auch für die Handlung vom 1. Januar 1996 wegen Erschleichens einer
Falschbeurkundung schuldig spreche und bestrafe.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                             Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.  Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet einzig
die Frage, ob das dem Beschwerdeführer vorgeworfene Erschleichen einer
Falschbeurkundung vom 1. Januar 1996 verjährt ist.

    Die Vorinstanz legt zutreffend dar, dass das fragliche Delikt
gemäss Art. 15 Ziff. 1 Abs. 2 VStrR ein Vergehen darstellt, bei dem
nach den im Tatzeitpunkt geltenden Art. 70 und 72 Ziff. 2 Abs. 2 aStGB
in Verbindung mit Art. 2 VStrR die absolute Verjährung nach siebeneinhalb
Jahren eintritt. Da die Verjährungsfrist somit bis am 1. Juli 2003 lief,
war bei Fällung und Eröffnung des angefochtenen Entscheids am 2. Juni
2003 die umstrittene Handlung nach der zur Tatzeit geltenden Regelung
noch nicht verjährt.

    Die seit dem 1. Oktober 2002 geltenden neuen Bestimmungen über
die Verjährung finden freilich auch auf Taten Anwendung, die vor
ihrem Inkrafttreten verübt wurden, wenn sie für den Täter milder sind
(Art. 337 StGB; BGE 129 IV 49 E. 5.1 S. 51). Nach Art. 70 Abs. 1 lit. c
StGB in der seit dem 1. Oktober 2002 geltenden Fassung verjährt die am
1. Januar 1996 erschlichene Falschbeurkundung nach sieben Jahren, also am
2. Januar 2003. Allerdings sieht das neue Recht in Art. 70 Abs. 3 StGB
vor, dass die Verjährung nicht mehr eintritt, wenn vor dem Fristablauf
ein erstinstanzliches Urteil ergangen ist.

    In der hier umstrittenen Sache fällte der erstinstanzliche
Richter am 11. Dezember 2002 das Urteil. Er eröffnete es jedoch nicht
mündlich, sondern stellte es dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers
am 30. Januar 2003 zu. Dieser nahm den Entscheid am 2. Februar 2003
in Empfang. Vorliegend war am 1. Januar 2003, als die Verjährungsfrist
ablief, das erstinstanzliche Urteil wohl gefällt, aber den Parteien noch
nicht eröffnet. Der Eintritt der Verjährung hängt hier somit davon ab,
ob ein bereits gefälltes, aber noch nicht eröffnetes Urteil als ergangen
im Sinne von Art. 70 Abs. 3 StGB anzusehen ist.

Erwägung 2

    2.  Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz sei zu Unrecht
vom Grundsatz abgewichen, dass ein Urteil erst mit seiner Eröffnung
rechtlich wirksam werde. Die Mitteilung an die Parteien bilde den letzten
Akt des erstinstanzlichen Prozesses. Es sei deshalb folgerichtig, dass
auch dieser letzte Schritt vor Ablauf der Verjährungsfrist abgeschlossen
sein müsse. Nur so sei sichergestellt, dass der verjährungsrechtlich
massgebende Zeitpunkt mit dem Beginn der Frist für das Ergreifen von
Rechtsmitteln zusammenfalle und so eine übersichtliche und kohärente
Ordnung entstehe. Andernfalls könnte auch ein Urteil, das erst längere
Zeit nach seiner Fällung eröffnet wird, noch Wirkungen entfalten, was dem
Grundgedanken der Verjährung zuwiderliefe. Wegen der unterschiedlichen
Sachlage könne die Rechtsprechung zur retrospektiven Konkurrenz, bei
der das Bundesgericht auf den Zeitpunkt der Fällung und nicht jenen der
Eröffnung abstelle (BGE 129 IV 113 E. 1.2), nicht auf den vorliegenden
Fall übertragen werden.

    2.1  Die Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Urteil die Beendigung
des Laufs der Verjährung bewirkt, stellte sich schon unter dem alten
Recht. Nach Art. 70 und 72 aStGB mussten Verurteilungen vor Ablauf der -
relativen oder absoluten - Verjährungsfrist erfolgen und waren nachher
nicht mehr zulässig. In diesem Zusammenhang war ebenfalls die Frage zu
beantworten, in welchem Zeitpunkt das vor Ablauf der Verjährungsfrist
auszusprechende rechtskräftige Strafurteil ergangen war, ob dies bereits
mit der Fällung oder erst mit der Eröffnung zutraf.

    Die bisherige Rechtsprechung erklärt den Zeitpunkt der Fällung
für massgebend. Denn danach könne ein Urteil gemäss dem Grundsatz
"lata sententia iudex desinit iudex esse" nicht mehr abgeändert werden.
Da der Richter auf ein einmal gefälltes Urteil somit im Prinzip nicht mehr
zurückkommen könne, spiele der Zeitpunkt der Mitteilung an die Parteien
verjährungsrechtlich keine Rolle (BGE 121 IV 64 E. 2 S. 65 f.). Es wird
ebenfalls darauf hingewiesen, dass bei der schriftlichen Mitteilung
der Zeitpunkt der Eröffnung in einem gewissen Ausmass vom Verhalten der
Parteien abhänge und nicht mehr der Strafverfolgung zugerechnet werden
könne (BGE 101 IV 392 E. 3 S. 394; 92 IV 171 E. b S. 172 mit Verweis auf
ältere unpublizierte Entscheide).

    Allerdings ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass der Richter auf ein
gefälltes Urteil, das noch nicht mitgeteilt ist, zurückkommt (vgl. für das
zürcherische Recht RICHARD FRANK/HANS STRÄULI/ GEORG MESSMER, Kommentar zur
zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl., Zürich 1997, § 190 N. 3 und 8;
in diesem Sinn ferner BGE 122 I 97 E. 3a/bb S. 99; strenger demgegenüber
BGE 129 IV 113 E. 1.2 S. 116; JEAN-FRANÇOIS POUDRET, Commentaire de la loi
fédérale d'organisation judiciaire, Bd. I, Bern 1990, Art. 38 Ziff. 6; vgl.
auch WERNER WICHSER, Tücken der Unabänderlichkeit eines Gerichtsurteils,
SJZ 93/1997 S. 171 ff.). Das Bundesgericht hat bereits erklärt, dass eine
allfällige Abänderungsmöglichkeit der Entscheide vor ihrer Eröffnung die
angeführte Praxis nicht in Frage stellt. Im Fall des Rückkommens auf
ein gefälltes, aber noch nicht mitgeteiltes Urteil endet der Lauf der
Verjährung erst mit dem Datum der nachträglichen Abänderung, d.h. die
Modifikation muss noch vor Eintritt der Verjährung erfolgen (BGE 101 IV
392 E. 3 S. 395).

    Die nachgezeichnete Rechtsprechung zur alten gesetzlichen Regelung ist
von der Doktrin, soweit sie überhaupt darauf einging, kommentarlos oder
zustimmend übernommen worden (vgl. etwa NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht,
4. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2004, N. 585 Anm. 86; HANS SCHULTZ, ZBJV
103/1967 S. 430 f.; ELISABETH TRACHSEL, Die Verjährung gemäss den Art.
70-75bis des schweizerischen Strafgesetzbuches, Diss. Zürich 1990,
S. 178). Da beim Erlass der neuen Bestimmungen über die Verjährung dieser
Fragenkreis nicht diskutiert wurde und sich in den Gesetzesmaterialien
keine Äusserungen dazu finden, liegt es nahe, die bisherige Praxis auch
unter dem neuen Recht weiterzuführen. Dies drängt sich jedenfalls auf,
soweit nicht triftige Gründe dagegen sprechen.

    2.2  Der Beschwerdeführer verweist auf einen neueren Entscheid des
Bundesgerichts, der ein Abrücken von der bisherigen Praxis zu markieren
scheint. Tatsächlich wurde in einer Zivilrechtsstreitigkeit erklärt,
das Verfahren werde nicht bereits mit der Fällung des Urteils durch
den Spruchkörper, sondern erst mit dessen Eröffnung beendigt. Weiter
wird ausgeführt, das Urteil "n'existe légalement qu'une fois qu'il a
été officiellement communiqué aux parties. Tant qu'il ne l'a pas été,
il est inexistant (Nichturteil), il n'est qu'un projet" (BGE 122 I 97
E. 3a/bb S. 99).

    Diese Erwägungen, die mit Blick auf ein Urteil erfolgten, das
überhaupt nie eröffnet wurde, können nicht verallgemeinert werden. Der
Beschwerdeführer legt selber zutreffend dar, dass der Zeitpunkt der
Urteilswirkungen nicht generell, sondern nur mit Blick auf den jeweiligen
Fragenkreis zu beurteilen ist. Dabei sind auch praktische Aspekte des
Verfahrensablaufs mitzuberücksichtigen.

    2.3  Es ist zwar davon auszugehen, dass Urteile Wirksamkeit nur
erlangen können, wenn sie überhaupt jemals eröffnet werden. Soweit
eine Mitteilung an die Parteien erfolgt, steht aber nichts entgegen,
einzelne Urteilswirkungen auf den Zeitpunkt der Entscheidfällung
zurückzubeziehen. Das kann sich deshalb aufdrängen, weil der Richter
von den Verhältnissen im Zeitpunkt der Fällung des Urteils ausgehen
muss und er die Eröffnung - namentlich bei schriftlicher Mitteilung -
nur beschränkt selber steuern kann. Die Beurteilung, ob eine Straftat
verjährt ist, kann der Richter nur bezogen auf den Zeitpunkt, in dem er
seinen Entscheid trifft, vornehmen. Denn bei schriftlicher Eröffnung weiss
er zum Voraus nicht genau, wann dem Angeschuldigten das Urteil zugestellt
wird. Dementsprechend könnte er unter Umständen gar nicht beurteilen, ob
bei der schriftlichen Eröffnung die Verjährung einer Straftat eingetreten
wäre, wenn auf diesen Zeitpunkt abgestellt werden müsste. Aus diesem
Grund stellt die jüngste Rechtsprechung auch bei der sog. retrospektiven
Konkurrenz darauf ab, ob die nachträglich zu beurteilenden Taten begangen
wurden, bevor das Urteil gefällt und nicht bevor es eröffnet wurde (BGE
129 IV 113 E. 1.2 S. 116).

    Aus diesen Erwägungen ist bei der Beurteilung der Frage, wann ein
erstinstanzliches Urteil gemäss Art. 70 Abs. 3 StGB ergangen sei, an
die dargestellte bisherige Praxis anzuknüpfen. Dementsprechend endet
der Lauf der Verjährung bereits mit der Fällung und nicht erst mit der
Eröffnung des erstinstanzlichen Urteils. Allerdings ist zu präzisieren,
dass dies nur unter der Voraussetzung gilt, dass das Urteil überhaupt
je eröffnet wird. Ausserdem wäre von der genannten Regel abzuweichen,
wenn zwischen der Fällung und Eröffnung ein so grosser Zeitraum läge,
dass er mit Blick auf die Dauer der massgeblichen Verjährungsfrist nicht
ausser Acht gelassen werden kann. Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend
indessen nicht gegeben, erfolgte doch die Eröffnung wenige Wochen nach
der Fällung des Urteils.