Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 V 95



129 V 95

14. Auszug aus dem Urteil i.S. A., B., C. und D., Erben des H., gegen
Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft und Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen U 147/02 vom 24. Dezember 2002

Regeste

    Art. 6 Abs. 1, Art. 37 Abs. 1 UVG; Art. 48 UVV: Leistungsansprüche
bei Suizid und Suizidversuchen.

    Soweit Art. 48 UVV die Leistungsansprüche bei Suizid oder Suizidversuch
an die Voraussetzung der vollständig aufgehobenen Urteilsfähigkeit des
Suizidenten im Zeitpunkt der Tat knüpft, erweist sich diese Bestimmung
bei einer an der Entstehungsgeschichte von Art. 37 Abs. 1 UVG orientierten
Auslegung als gesetzeskonform.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.

    1.1  Gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG besteht - mit Ausnahme der
Bestattungskosten - kein Anspruch auf Versicherungsleistungen, wenn der
Versicherte den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich herbeigeführt
hat. Wollte sich der Versicherte nachweislich das Leben nehmen (oder sich
selbst verstümmeln), so findet Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn
der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war,
vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV).

    1.2  Die Beschwerdeführer bringen im Wesentlichen vor, die Bestimmung
von Art. 48 UVV sei insoweit gesetzwidrig, als sie den Anspruch
auf Versicherungsleistungen von der Voraussetzung der vollständigen
Urteilsunfähigkeit des Suizidenten zum Zeitpunkt der Tat abhängig
mache. Die Urteilsfähigkeit sei die subjektive Seite des Verschuldens. Bei
verminderter Urteilsfähigkeit sei daher auch das Verschulden vermindert
und eine rechtserhebliche Absicht könne in diesem Zustand gar nicht
zustande kommen. Das Gesetz sehe sowohl mit Bezug auf den Versicherten
selbst (Art. 37 Abs. 2 UVG) als auch die Hinterlassenen (Art. 38 UVG)
bei grobfahrlässiger Herbeiführung des Unfalles bzw. des Todes lediglich
eine Leistungskürzung vor. Mit dieser gesetzlichen Ordnung stehe die
Bestimmung von Art. 48 UVV in einem unlösbaren "Wertungswiderspruch", weil
damit selbst bei - zufolge verminderter Urteilsfähigkeit - leichtestem
Verschulden des Suizidenten jeder Anspruch auf Versicherungsleistungen
ausgeschlossen werde.

Erwägung 2

    2.

    2.1  Der Bundesrat hat Art. 48 UVV nicht gestützt auf eine
gesetzliche Delegation, sondern auf Grund seiner allgemeinen,
verfassungsrechtlichen Kompetenz zum Gesetzesvollzug erlassen (Art. 182
Abs. 2 BV; Art. 102 Ziff. 5 aBV). Es handelt sich um eine selbstständige
Vollziehungsverordnungsbestimmung. Dem Vollziehungsverordnungsrecht
des Bundesrates sind durch das Legalitäts- und Gewaltenteilungsprinzip
in vierfacher Hinsicht Schranken gesetzt. Eine Vollziehungsverordnung
muss sich auf eine Materie beziehen, die Gegenstand des zu vollziehenden
Gesetzes bildet (1.), darf dieses weder aufheben noch abändern (2.), muss
der Zielsetzung des Gesetzes folgen und dabei lediglich die Regelung,
die in grundsätzlicher Weise bereits im Gesetz Gestalt angenommen hat,
aus- und weiterführen, also ergänzen und spezifizieren (3.) und darf
dem Bürger keine neuen, nicht schon aus dem Gesetz folgenden Pflichten
auferlegen (4.), und zwar selbst dann nicht, wenn diese Ergänzungen mit
dem Zweck des Gesetzes in Einklang stehen (BGE 126 V 232 Erw. 5a, 117 IV
354 Erw. 3c, 112 V 58 Erw. 2a, 103 IV 194 Erw. 2a, 98 Ia 287 Erw. 6b/bb;
IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Band I, 6. Aufl.,
Basel 1986, S. 50 f. Nr. 8 II lit. a-c; HÄFELIN/HALLER, Schweizerisches
Bundesstaatsrecht, 5. Aufl., Zürich 2001, Rz 1860). Die Auslegung, die
der Verordnungsgeber dem Gesetz in seiner Vollziehungsverordnung gibt,
bindet den Richter bei der akzessorischen Prüfung ihrer Gesetzmässigkeit
zwar nicht. Er wird sich ihr aber anschliessen, wenn sie überzeugend ist
(BGE 101 Ib 182 Erw. 3a).

    2.2  Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus,
d.h. nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zu Grunde liegenden
Wertungen ausgelegt werden. Eine historisch orientierte Auslegung ist
für sich allein nicht entscheidend. Anderseits vermag aber nur sie die
Regelungsabsicht des Gesetzgebers aufzuzeigen, welche wiederum zusammen
mit den zu ihrer Verfolgung getroffenen Wertentscheidungen verbindliche
Richtschnur des Richters und der Richterin bleibt, auch wenn sie das
Gesetz mittels teleologischer Auslegung oder Rechtsfortbildung veränderten
Umständen anpassen oder es ergänzen (BGE 125 V 356 Erw. 1b, 123 V 301
Erw. 6a mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.

    3.1  Das Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung (KUVG)
vom 13. Juni 1911 enthielt gleich wie das UVG keine Legaldefinition des
Unfallbegriffs und schloss in Art. 98 Abs. 1 KUVG Versicherungsleistungen
mit Ausnahme der Bestattungsentschädigung aus, wenn "der Versicherte
den Unfall absichtlich herbeigeführt" hat. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zu Art. 98 Abs. 1
KUVG erkannt, dass es bei einer im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit
begangenen Selbsttötung an einer Absicht im Sinne dieser Bestimmung
fehle und ein versichertes Unfallereignis vorliege (EVGE 1934 S. 81
ff.). In der Folge hat es den Selbstmord gelegentlich auch bei bloss
namhafter Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit als Unfall anerkannt
und eine rechtserhebliche Absicht verneint (MAURER, Recht und Praxis der
schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2. Aufl., Bern 1963,
S. 122). Die Rechtslage zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen
Suizid und Suizidversuch ein versichertes Unfallereignis darstellen,
war somit unter der Herrschaft des KUVG nicht eindeutig.

    In seiner Botschaft zum UVG vom 18. August 1976 führte der Bundesrat
im Zusammenhang mit Art. 37 Abs. 1 des Entwurfs, dessen Wortlaut genau
dem geltenden Art. 37 Abs. 1 UVG entsprach, aus, "eine absichtlich
herbeigeführte Selbstschädigung stelle keinen Unfall im Rechtssinne dar",
weil gerade das Erfordernis der unbeabsichtigten schädigenden Einwirkung
auf den menschlichen Körper nicht erfüllt sei. Eine Gleichstellung des
"in bewusstem Zustand" begangenen Selbstmordes mit einem Unfall lasse sich
begrifflich kaum vertreten. Es sei jedoch darauf hinzuweisen, dass die
Leistungen der AHV bei Selbstmord voll erbracht werden (BBl 1976 III 198).

    In der parlamentarischen Beratung wurde sowohl im National- als auch
Ständerat von einer Kommissionsminderheit beantragt, Art. 37 Abs. 1 UVG
sei wie folgt zu fassen:

      "Sind der Tod oder der Gesundheitsschaden die Folge von Selbstmord

    oder Selbstmordversuch, so besteht Anspruch auf die Pflegeleistungen
und

    Kostenvergütungen sowie auf die Hälfte der Geldleistungen. Handelte der

    Versicherte im Zustand der gänzlichen Unzurechnungsfähigkeit,
so besteht

    Anspruch auf die vollen Leistungen dieses Gesetzes."

    Dieser Vorschlag wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) bei Selbsttötung im
Zustand gänzlicher Unzurechnungsfähigkeit bereits nach bisherigem Recht
leistungspflichtig gewesen sei, und der Verlust eines Familienmitgliedes
durch Selbstmord ganz allgemein für die (schuldlosen) Hinterbliebenen
ein schwer zu tragendes Schicksal darstelle, das nicht mit einer
Rentenverweigerung bestraft werden dürfe (StenBull NR 1979 251; Voten Lang
und Gautier). Der Bundesrat stellte sich gegen diesen Vorschlag, da sich
die bisherige Praxis bewährt habe und die Gesetzgebung daran nichts ändern
sollte. Aus "grundsätzlich ethischen Gründen" dürfe der Selbstmord nicht
dem Unfall gleichgestellt und durch Leistungen der Unfallversicherung
begünstigt werden (StenBull NR 1979 252 und StenBull SR 1980 482; Voten
Bundesrat Hürlimann). Der Minderheitsvorschlag wurde vom Nationalrat knapp
(68 zu 64 Stimmen) und vom Ständerat deutlich abgelehnt.

    Diese Entstehungsgeschichte von Art. 37 Abs. 1 UVG zeigt, dass der
Gesetzgeber nur den im Zustand der vollständigen Unzurechnungsfähigkeit
begangenen Suizid oder Suizidversuch begrifflich einem Unfallereignis
gleichstellen wollte und es ablehnte, aus sozialpolitischen Gründen für
im "bewussten Zustand", d.h. in nicht vollständig unzurechnungsfähigem
Zustand begangene Selbsttötungen oder Selbsttötungsversuche Leistungen der
obligatorischen Unfallversicherung zu statuieren. Dieser gesetzgeberischen
Wertentscheidung hat der Verordnungsgeber Rechnung getragen, indem er
in Art. 48 UVV den Leistungsausschluss für absichtliche Selbsttötung oder
Gesundheitsschädigung nur für jene Fälle aufhob, in denen "der Versicherte
zur Zeit der Tat ohne sein Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss
zu handeln". Der Verordnungsgeber hat damit zwar den strafrechtlichen
Begriff der Unzurechnungsfähigkeit durch den zivilrechtlichen Begriff
der Urteilsunfähigkeit im Sinne von Art. 16 ZGB ersetzt (BGE 113 V
63 Erw. 2c), damit aber die der Bestimmung von Art. 37 Abs. 1 UVG zu
Grunde liegenden Intentionen des Gesetzgebers lediglich begrifflich
präzisiert. Der Umstand, dass weder der Gesetz- noch der Verordnungsgeber
für die im Zustand verminderter oder vollständig intakter Urteilsfähigkeit
begangenen Selbstmorde und Selbstmordversuche eine Regelung getroffen
hat, stellt auf dem Hintergrund des in der parlamentarischen Beratung
gescheiterten Vorschlages der Kommissionsminderheit, in diesen Fällen
die vollen Sachleistungen und die halben Geldleistungen auszurichten, ein
qualifiziertes Schweigen dar. Es entsprach gerade der gesetzgeberischen
Zielsetzung, dass alle nicht im Zustand vollständiger Urteilsunfähigkeit
ausgeführten Selbsttötungen und Selbsttötungsversuche unter den
Ausschlusstatbestand der absichtlichen Selbstschädigung im Sinne von
Art. 37 Abs. 1 UVG fallen sollten.

    3.2  Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, das für Vorsatz
oder Absicht erforderliche Wollen setze Urteilsfähigkeit voraus. Da
bei verminderter Urteilsfähigkeit auch die Verstandes- und/oder
Willensfähigkeit vermindert sei, könne diesfalls ein mangelfreier Wille
in Form der Absicht oder von Vorsatz gar nicht entstehen. Verminderte
Urteilsfähigkeit habe zur Folge, dass die Schwelle vom Vorsatz zur
Fahrlässigkeit überschritten werde. Art. 48 UVV sei daher insoweit nicht
gesetzeskonform, als er die gänzliche Unfähigkeit, vernunftgemäss zu
handeln, verlangt und damit die Anwendung von Art. 37 Abs. 1 UVG im
Falle verminderter Urteilsfähigkeit zulässt (SCHAER/DUC/KELLER, Das
Verschulden im Wandel des Privatversicherungs-, Sozialversicherungs-
und Haftpflichtrechts, Basel 1992, S. 25/26; im gleichen Sinne ROLAND
SCHAER, Die sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung des EVG in den
Jahren 1990 und 1991, in: ZBJV 1992 S. 679 f.). ALEXANDRA RUMO-JUNGO (Die
Leistungskürzung oder -verweigerung gemäss Art. 37-39 UVG, Diss. Freiburg
1993, S. 120 ff.) vertritt mit analogen Argumenten eine Auslegung von
Art. 37 Abs. 1 UVG (und Art. 9 Abs. 1 UVV), welche bei verminderter
Urteilsfähigkeit des Suizidenten die Annahme eines Unfalles und die
Ausrichtung sämtlicher Leistungen zulassen würde. Sie räumt aber ein,
dass das geltende Recht für den im Zustand verminderter Urteilsfähigkeit
begangenen Suizid oder Suizidversuch keine angepassten Rechtsfolgen
vorsieht (aaO, S. 124).

    Diese Lehrmeinungen lassen die für die Auslegung von Art. 37 Abs. 1
UVG wegleitenden, entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkte ausser
Acht. Wie dargelegt (vgl. Erw. 3.1 hiervor) liegt hinsichtlich der im
Zustand verminderter aber nicht gänzlich aufgehobener Urteilsfähigkeit
begangenen Selbsttötungen und Selbsttötungsversuche ein qualifiziertes
Schweigen des Gesetzgebers vor. Im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren
wurde die sozialpolitische Tragweite dieser Art von Selbstmorden und
Selbstmordversuchen zwar erkannt, aber die von einer Kommissionsminderheit
hiefür vorgeschlagene Leistungsordnung abgelehnt. Würde der Richter
diesen historischen Willen des Gesetzgebers missachten und auf dem Wege
der richterlichen Rechtsfortbildung über den Wortlaut von Art. 48 UVV
hinaus Leistungsansprüche gewähren, würde dies der gesetzgeberischen
Zielsetzung stracks zuwiderlaufen.

    3.3  Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die
unfallversicherungsrechtlichen Sach- und/oder Geldleistungen bei Suizid und
Suizidversuch, der im Zustand nicht oder nicht vollständig beeinträchtigter
Urteilsfähigkeit begangen wird, je nach Leistungsart, Leistungsumfang
und Mass der Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit differenziert
auszugestalten. Schon die Bestimmung von Art und Höhe der auszurichtenden
Geldleistungen setzt aber grundlegende sozialpolitische Wertentscheidungen
voraus, die, wie die parlamentarische Beratung von Art. 37 Abs. 1
UVG zeigt, eng mit der (unterschiedlichen) ethischen Einstufung des
Selbstmordes durch die Gesellschaft zusammenhängen. Der Richter ist
weder funktionell geeignet, im Rahmen der ihm übertragenen Entscheidung
von Einzelfällen eine sachgerechte unfallversicherungsrechtliche
Leistungsordnung für Selbsttötungen und Selbsttötungsversuche zu schaffen,
noch ist er dazu berufen, über grundlegende sozialpolitische Fragen und
die damit verbundenen finanziellen Konsequenzen zu befinden. Es bestehen
hier dieselben Schranken richterlicher Rechtsfortbildung wie bei der
Aus- oder Umgestaltung einer grundrechtsverletzenden Leistungsordnung
(vgl. BGE 117 V 325 ff. Erw. 6). Eine Änderung oder Ergänzung der
in Art. 37 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 48 UVV für Suizidfälle
statuierten Leistungsansprüche fällt mithin in den Zuständigkeitsbereich
des Gesetzgebers und nicht des Richters.

    3.4  Zusammenfassend erweist sich die Bestimmung von Art. 48 UVV,
soweit sie die Leistungsansprüche für Suizid oder Suizidversuch an die
Voraussetzung der vollständig aufgehobenen Urteilsfähigkeit des Suizidenten
im Zeitpunkt der Tat knüpft, bei einer an der Entstehungsgeschichte
von Art. 37 Abs. 1 UVG orientierten Auslegung als gesetzeskonform. Würde
Art. 37 Abs. 1 UVG - wie in einem Teil des Schrifttums - anders ausgelegt,
müsste die Regelung der durch den Unfallversicherer bei Selbsttötungen
und Selbsttötungsversuchen auszurichtenden Leistungen vom Gesetzgeber
getroffen und könnte nicht auf dem Weg der richterlichen Rechtsfortbildung
geschaffen werden.