Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 V 466



129 V 466

72. Auszug aus dem Urteil i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
gegen Helsana Versicherungen AG, betreffend H., und Verwaltungsgericht
des Kantons Glarus

    U 17/03 vom 20. August 2003

Regeste

    Art. 9 Abs. 2 UVV in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 UVG: Unfallähnliche
Körperschädigung.

    Festhalten am Erfordernis des äusseren Faktors gemäss der
Rechtsprechung BGE 123 V 43 und RKUV 2001 Nr. U 435 S. 332. Konkretisierung
des Begriffs.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat seine Rechtsprechung
gemäss BGE 123 V 43 auch unter der seit 1. Januar 1998 in Kraft
stehenden Fassung von Art. 9 Abs. 2 UVV bestätigt und erwogen, dass das
mit Art. 6 Abs. 2 UVG verfolgte und auf Verordnungsstufe ausgeführte
Regelungsziel notwendigerweise eine Verlagerung der Leistungspflicht von
der Kranken- in die Unfallversicherung mit sich bringt (RKUV 2001 Nr. U
435 S. 332). Diese Folge haben Gesetz- und Verordnungsgeber bewusst
in Kauf genommen, um die mit dem früheren Ausschluss unfallähnlicher
Körperschädigungen von der obligatorischen Unfallversicherung verbundene
Problematik der Ausscheidung der Unfall- von den Krankheitsfolgen in den,
medizinisch gesehen, häufigsten Gemenglagen unfall-/krankheitsmässiger
Einwirkungen zu vermeiden. Das Eidgenössische Versicherungsgericht
hat dabei die von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) eingenommene Haltung verworfen, welche dazu führte, dass in
praktisch jedem Fall, da sich einer der in Art. 9 Abs. 2 lit. a-h UVV
aufgezählten Tatbestände sachverhaltlich ereignet - also eine der dort
erwähnten Gesundheitsschädigungen eintritt - wieder die Abklärung an
die Hand genommen werden müsste, ob eine "eindeutige" krankheits- oder
degenerativ bedingte Verursachung vorliegt. Diese Betrachtungsweise trägt
den tatsächlichen medizinischen Gegebenheiten nicht Rechnung: Ohne dass
sich ein Unfallereignis im Sinne der bis 31. Dezember 2002 geltenden
Fassung von Art. 9 Abs. 1 UVV ereignet, sind bei Eintritt eines der
in Art. 9 Abs. 2 lit. a-h UVV aufgezählten Gesundheitsschäden praktisch
immer krankheits- und/oder degenerative (Teil-)Ursachen im Spiel (RKUV
2001 Nr. U 435 S. 333 Erw. 2c).

    2.2  Hingegen hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE
123 V 43 der Auffassung der SUVA beigepflichtet, dass mit Ausnahme
der Ungewöhnlichkeit auch bei den unfallähnlichen Körperschädigungen
die übrigen Tatbestandsmerkmale des Unfallbegriffs erfüllt sein
müssen. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Voraussetzung eines
äusseren Ereignisses zu, d.h. eines ausserhalb des Körpers liegenden,
objektiv feststellbaren, sinnfälligen, eben unfallähnlichen Vorfalles. Wo
ein solches Ereignis mit Einwirkung auf den Körper nicht stattgefunden
hat, und sei es auch nur als Auslöser eines in Art. 9 Abs. 2 lit. a-h
UVV aufgezählten Gesundheitsschadens, liegt eine eindeutig krankheits-
oder degenerativ bedingte Gesundheitsschädigung vor. Diese schon BGE
123 V 43 zugrunde liegende Betrachtungsweise verträgt sich sehr wohl
mit der Konzeption der obligatorischen Unfallversicherung und ihrer
Abgrenzung zur Krankenversicherung; denn ein so verstandenes, nahe bei
der unfallmässigen Einwirkung liegendes äusseres Ereignis rechtfertigt
die Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers (RKUV 2001
Nr. U 435 S. 333 Erw. 2c).

Erwägung 3

    3.  Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) stellt sich auf
den Standpunkt, dass nicht ein äusseres Ereignis, sondern alleine die
medizinische Beurteilung bezüglich des Vorliegens von krankheits- und
degenerativ bedingten Faktoren massgebend sei, ob eine unfallähnliche
Körperschädigung vorliege oder nicht, und beantragt somit eine Änderung der
Rechtsprechung. Indessen sind die von ihm vorgetragenen Gründe sowohl in
BGE 123 V 43 als auch in RKUV 2001 Nr. U 435 S. 332 in der Entscheidfindung
berücksichtigt. Es ist daher nicht weiter darauf einzugehen, weil
sonst das mit der geltenden Rechtsprechung erreichte Ziel, langwierige
medizinische Kausalitätsbeurteilungen und -prozesse bei diagnostizierten
unfallähnlichen Körperschädigungen gemäss Liste des Art. 9 Abs. 2 UVV
zu vermeiden, wieder in Frage gestellt würde. Insbesondere abzulehnen
ist auch die vom BSV befürwortete Preisgabe des Erfordernisses einer
äusseren Einwirkung, an welchem das Eidgenössische Versicherungsgericht
seit BGE 114 V 298 und RKUV 1988 Nr. U 57 S. 372 aus systematischen
Überlegungen festhält. Der Verzicht auf den äusseren Faktor, wie ihn das
BSV postuliert, lässt die geforderte Unfallähnlichkeit ausser Betracht,
weil Fälle mit rein krankheits- oder degenerativ bedingtem Geschehen, in
welchen der Unfallversicherer den medizinischen Entlastungsbeweis nicht
zu erbringen vermag, in den Zuständigkeitsbereich der Unfallversicherung
gerückt würden, was nicht angeht. Somit fehlen zu einer Praxisänderung
die Gründe (BGE 127 V 273 Erw. 4a).

Erwägung 4

    4.  Zu prüfen bleibt das Ersuchen der SUVA, das Kriterium des
"ausserhalb des Körpers liegenden, objektiv feststellbaren, sinnfälligen,
unfallähnlichen Ereignisses" zu konkretisieren, um eine vernünftige,
leicht handhabbare Versicherungspraxis zu gewährleisten.

    4.1  Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat über das Kriterium
des äusseren Faktors im Sinne eines ausserhalb des Körpers liegenden,
objektiv feststellbaren, sinnfälligen, eben unfallähnlichen Ereignisses
bereits mehrfach entschieden:

    Die schädigende äussere Einwirkung kann in einer körpereigenen
Bewegung bestehen, wie dem plötzlichen Aufstehen aus der Hocke (BGE 116
V 148 Erw. 2c mit Hinweisen) oder einem Fehlschlag beim Fussballspiel
(RKUV 1990 Nr. U 112 S. 375 Erw. 3), im Aufheben oder Abstellen von
Gewichten von 40 bis 50 kg (BGE 116 V 149 Erw. 4), im Umlagern eines
Heizkörpers von über 5 m Länge und einem Gewicht von über 100 kg von
einem Wagen auf einen Arbeitsbock (nicht publizierte Erw. 3b von BGE
123 V 43), im Bruch eines Rückenwirbels zufolge Kontraktionen bei einem
epileptischen Anfall (SVR 1998 UV Nr. 22 S. 81), im Verschieben eines
schweren Wäschekorbes mit dem linken Fuss, Ausführung einer ruckartigen
Bewegung und Verdrehung des rechten Knies (RKUV 2000 Nr. U 385 S. 267),
in einem Sprung von einer Verpackungskiste (RKUV 2001 Nr. U 435 S. 332),
im Bemühen, balgende Hunde zu trennen, worauf die versicherte Person
auf unebenem Gelände ausrutschte und sich das Knie verdrehte (Urteil
S. vom 27. Juni 2001, U 127/00), im Stolpern, einer unkoordinierten
Ausweichbewegung des Beines und daraufhin erfolgtem Anschlagen des linken
Knies an einem Anhängerwagen (Urteil S. vom 27. Juni 2001, U 158/00), im
Misstritt beim Volleyballspiel mit einschiessendem Zwick im linken Knie
(Urteil R. vom 27. Juni 2001, U 92/00), in einem Sprung aus einer Höhe
von 60 cm aus einem Bahngepäckwagen (Urteil W. vom 21. September 2001,
U 266/00), im Erleiden einer Zerrung der Adduktorenmuskeln im Rahmen
eines Fussballtrainings (Urteil S. vom 10. Dezember 2001, U 20/00), in
der Verstauchung des linken Knöchels als Folge einer Rotationsbewegung
("entorse du ligament péronier astragalien antérieur de la cheville";
Urteil C. vom 22. Februar 2002, U 287/00) und in einem brüsken Umdrehen
beim Kochen in Richtung Küchenschrank mit einschiessenden Schmerzen im Knie
(Urteil B. vom 21. Oktober 2002, U 5/02). Hingegen hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht den äusseren schädigenden Faktor bei vermehrter
Arbeitsbelastung, welche zu kontinuierlicher Zunahme und Verschlechterung
der Kniebeschwerden führte (Urteil K. vom 30. August 2001, U 198/00), und
bei wiederholten Anstrengungen wie bei Arbeiten mit Hammer oder Bohrer
(erwähnt in der nicht publizierten Erw. 3b von BGE 123 V 43) verneint;
ebenso verneint hat das Eidgenössische Versicherungsgericht den äusseren
Faktor beim Auftreten von Schmerzen "nachts bei Drehbewegungen und nach
längerem Gehen" (Urteil A. vom 24. Oktober 2001, U 458/00).

    4.2  Dieser Überblick über die Rechtsprechung zeigt, dass das
unverzichtbare Erfordernis eines äusseren Faktors durchaus Sinn macht
und für die Versicherungsdurchführung praktikabel ist, indem damit ein
versichertes unfallähnliches vom nicht versicherten Krankheitsgeschehen
abgegrenzt werden kann:

    4.2.1  Ausgeschlossen sind zunächst all jene Fälle, in denen der
äussere Faktor mit dem (erstmaligen) Auftreten der für einen der in Art.
9 Abs. 2 lit. a-h UVV enthaltenen Gesundheitsschäden typischen Schmerzen
gleichgesetzt wird. Das Auftreten von Schmerzen als solches ist kein
äusserer (schädigender) Faktor im Sinne der Rechtsprechung. Mit anderen
Worten kann von einem erforderlichen äusseren schädigenden Faktor dort
nicht gesprochen werden, wo die versicherte Person nur das (erstmalige)
Auftreten von Schmerzen in zeitlicher Hinsicht anzugeben vermag.

    4.2.2  Auch nicht erfüllt ist das Erfordernis des äusseren
schädigenden Faktors, wenn das (erstmalige) Auftreten von Schmerzen
mit einer blossen Lebensverrichtung einhergeht, welche die versicherte
Person zu beschreiben in der Lage ist. Vielmehr zeigen die Urteile gemäss
Erw. 4.1 hievor, dass für die Bejahung eines äusseren auf den menschlichen
Körper schädigend einwirkenden Faktors stets ein Geschehen verlangt ist,
dem ein gewisses gesteigertes Gefährdungspotenzial innewohnt. Das ist zu
bejahen, wenn die zum einschiessenden Schmerz führende Tätigkeit im Rahmen
einer allgemein gesteigerten Gefahrenlage vorgenommen wird, wie dies etwa
für viele sportliche Betätigungen zutreffen kann. Der äussere Faktor mit
erheblichem Schädigungspotenzial ist sodann auch zu bejahen, wenn die in
Frage stehende Lebensverrichtung einer mehr als physiologisch normalen
und psychologisch beherrschten Beanspruchung des Körpers, insbesondere
seiner Gliedmassen, gleichkommt. Deswegen fallen einschiessende Schmerzen
als Symptome einer Schädigung nach Art. 9 Abs. 2 UVV ausser Betracht,
wenn sie allein bei der Vornahme einer alltäglichen Lebensverrichtung
auftreten, ohne dass hiezu ein davon unterscheidbares äusseres Moment
hineinspielt. Wer also lediglich beim Aufstehen, Absitzen, Abliegen,
der Bewegung im Raum, Handreichungen usw. einen einschiessenden Schmerz
erleidet, welcher sich als Symptom einer Schädigung nach Art. 9 Abs. 2
UVV herausstellt, kann sich nicht auf das Vorliegen einer unfallähnlichen
Körperschädigung berufen. Die physiologische Beanspruchung des Skelettes,
der Gelenke, Muskeln, Sehnen und Bänder stellt keinen äusseren Faktor dar,
dem ein zwar nicht ungewöhnliches, jedoch gegenüber dem normalen Gebrauch
der Körperteile gesteigertes Gefährdungspotenzial innewohnen muss.

    4.2.3  Erfüllt ist demgegenüber das Erfordernis des äusseren
schädigenden Faktors bei Änderungen der Körperlage, die nach
unfallmedizinischer Erfahrung häufig zu körpereigenen Traumen führen
können, also im Sinne der bisherigen Rechtsprechung das plötzliche
Aufstehen aus der Hocke, die heftige und/oder belastende Bewegung und
die durch äussere Einflüsse unkontrollierbare Änderung der Körperlage
im Sinne der von der Rechtsprechung positiv beurteilten Sachverhalte
(Erw. 4.1 hievor), an der festzuhalten ist.

    4.3  Werden diese Grundsätze berücksichtigt, dann genügt es,
entgegen den Vorbringen der SUVA gerade nicht, dass "alle Verrichtungen
des täglichen Lebens, selbst Grundfunktionen (z.B. Sitzen, Stehen,
Gehen, Aufstehen, Kauen, etc.), sinnfällig, weil objektiv feststellbar
sind". Allen diesen Verrichtungen des täglichen Lebens fehlt das für
die Bejahung des äusseren Faktors nötige Erfordernis eines gesteigerten
Schädigungspotenzials, sei es zufolge einer allgemein gesteigerten
Gefahrenlage, sei es durch Hinzutreten eines zur Unkontrollierbarkeit
der Vornahme der alltäglichen Lebensverrichtung führenden Faktors. In
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde trägt die SUVA folgende Beispiele vor:

      "a. Nach mehreren krankheitsbedingten Schulterluxationen verspürte

      der

    Versicherte eines Tages erneut Schulterschmerzen, als er im Rahmen der

    gewohnten beruflichen Tätigkeit mit ausgestrecktem Arm einen 20 kg

    schweren Plastiksack von der Ladebrücke eines Lastwagens nimmt.

      b. Beim Auspacken von Waren aus einem Karton in gebückter Stellung

    verspürt der Versicherte einen Schmerz im Rücken.

      c. Bei einem wiederholt ausgeführten beruflichen Vorgang (Entladen

    eines Palettes) verspürt der Versicherte einen heftigen Schmerz in der

    Schulter.

      d. Im Sitzen Abdrehen des Oberkörpers nach hinten und Anheben eines

    Armes, um etwas zu zeigen. Schulterluxation.

      e. Beim Einsteigen in die Badewanne und Anheben des Beines wird ein

    Schmerz im rechten Knie verspürt.

      f. Beim Gehen wird ein plötzliches Knacken im rechten Knie spürbar,

    welchem starke Schmerzen folgen.

      g. Wegwerfen eines Pfirsichsteines in einen Abfalleimer mit

    anschliessenden Beschwerden in der Schulter.

      h. Beim Aufstehen aus dem Bett wird im Knie ein Zwick verspürt.

      i. Verschliessen einer Haustüre. Beim Weggehen mit Abdrehen Schmerzen

    im Knie.

      k. Hinzu kommen all jene Fälle, in denen sich ein Versicherter nach

    Wochen und Monaten noch genau daran erinnern will, dass ein bestimmtes

    banales Ereignis zum erstmaligen Auftreten der Beschwerden geführt

    hat."

    Im Lichte des in Erw. 4.2 hievor Gesagten ist in diesen
Sachverhalten der äussere Faktor zu verneinen. Denn bei diesen
Beispielen, welche sich von den durch die Rechtsprechung hinsichtlich
des erforderlichen Schädigungscharakters des äusseren Faktors positiv
beurteilten Fällen deutlich unterscheiden (Erw. 4.1 hievor), fehlt es
an der erforderlichen gesteigerten Gefahrenlage oder dem Hinzutreten
eines zur Unkontrollierbarkeit der Vornahme der in Frage stehenden
Lebensverrichtungen führenden Momentes, bei lit. i allerdings unter dem
Vorbehalt, dass das Ab- oder Umdrehen nicht wie im erwähnten Urteil B. vom
21. Oktober 2002, U 5/02 (Erw. 4.1 in fine), brüsk erfolgt. Davon abgesehen
ist bei den Beispielen a und c auch die Plötzlichkeit zu verneinen,
weil es sich dort um Schädigungen zufolge repetitiver Beanspruchungen
des fraglichen Körperteils handelt. Beim Beispiel k scheitert die Annahme
der unfallähnlichen Körperschädigung am Nachweis der Kausalität, verlangt
doch die Rechtsprechung, dass die für die Beeinträchtigung gemäss Art. 9
Abs. 2 UVV typischen Schmerzen unmittelbar im Anschluss an den als äusseren
Faktor angeschuldigten Lebenssachverhalt auftreten (so insbesondere das
Urteil A. vom 24. Oktober 2001, U 458/00).