Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 V 460



129 V 460

71. Auszug aus dem Urteil i.S. Helsana-advocare gegen L. und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern

    K 97/02 vom 16. September 2003

Regeste

    Art. 72 Abs. 2 KVG; Art. 22 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 18
Abs. 1 und 2 IVV: Schadenminderungspflicht.

    Der Versicherte kann sich seiner Schadenminderungspflicht gegenüber
dem Krankenversicherer nicht mit der Begründung entziehen, er warte auf
Massnahmen der Invalidenversicherung.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.  Streitig und zu prüfen bleibt, ob der Versicherte seiner
Schadenminderungspflicht dadurch nachgekommen ist, dass er sich
am 7. Dezember 2000 bei der Invalidenversicherung für berufliche
Eingliederungsmassnahmen angemeldet hat.

    3.1  Die Vorinstanz hat hiezu unter Hinweis auf BGE 111 V 235
ausgeführt, der Versicherte habe sich am 7. Dezember 2000 sogleich bei der
IV-Stelle Bern für die Durchführung beruflicher Eingliederungsmassnahmen
angemeldet. Entsprechende Vorkehren seien seitens der Invalidenversicherung
jedoch erst mit Verfügung vom 31. Oktober 2001 in Form von Berufsberatung
sowie der Abklärung beruflicher Eingliederungsmöglichkeiten getroffen
worden. Der Aufenthalt in der Eingliederungsstätte Z. sei gar erst
mit Verfügung vom 20. März 2002 festgesetzt worden. Weder aus den
Akten der IV-Stelle noch den sonstigen Unterlagen sei ersichtlich,
dass die Verzögerungen zwischen der Anmeldung und den beruflichen
Eingliederungsmassnahmen durch den Versicherten verursacht worden seien. Es
habe sich demzufolge um Verzögerungen gehandelt, die dem Versicherten
nicht angelastet werden dürften. Dieser habe weder ahnen können noch
wissen müssen, dass die beruflichen Abklärungen erst 15 Monate nach
seiner Anmeldung beginnen würden. Verzögerungen bei der Durchführung von
beruflichen Massnahmen von einem Jahr und mehr seien nicht notorisch. Da
der Versicherte jederzeit mit der Anordnung beruflicher Massnahmen habe
rechnen müssen, hätte er sich höchstens für kurzzeitige Einsätze melden
können. Dies hätte seine Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt stark
beeinträchtigt. Es sei ihm demnach nicht zumutbar gewesen, für vorher
nicht bestimmbare, kurze Zeiten eine Erwerbstätigkeit zu suchen.

    3.2  Demgegenüber macht die Helsana in ihrer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend, den IV-Akten sei zu entnehmen, dass
der Beschwerdegegner sich am 7. Dezember 2000 bei der Invalidenversicherung
für eine Umschulung angemeldet und sich am 28. Juni 2001 über seinen
Anspruch auf Wartetaggelder nach Art. 18 IVV erkundigt habe. Mit Schreiben
vom 7. September 2001 habe die IV-Stelle den Anspruch mit der Begründung
abgelehnt, Wartetaggelder könnten erst dann ausgerichtet werden,
wenn eine konkrete berufliche Eingliederungsmassnahme bevorstehe. Zu
jenem Zeitpunkt sei noch nicht klar gewesen, ob überhaupt Leistungen
der Invalidenversicherung ausgerichtet würden. Erst mit Verfügung vom
31. Oktober 2001 sei über die Berufsberatung und Abklärung der beruflichen
Eingliederungsmöglichkeiten entschieden worden. Der vorliegende Fall
unterscheide sich bezüglich des Sachverhaltes von BGE 111 V 235 insofern,
als für den damaligen Beschwerdeführer eine volle Arbeitsunfähigkeit auch
für jegliche andere, selbst vorübergehende Tätigkeiten bestanden habe. Im
vorliegenden Fall sei demgegenüber die volle Arbeitsfähigkeit für eine
leichtere Tätigkeit erwiesen und unbestritten. Zudem sei ein Anspruch
auf Umschulung völlig offen gewesen, und es könne nicht argumentiert
werden, der Beschwerdegegner habe sich jederzeit für eine solche Massnahme
bereithalten müssen. Es habe demnach kein Hindernis für die Erfüllung der
Schadenminderungspflicht bestanden. Zu Umschulungsmassnahmen werde nicht
von einem Tag auf den andern vorgeladen, in der Regel würden Betroffene
etwa einen Monat im Voraus benachrichtigt. Es könne nicht sein, dass die
soziale Krankenversicherung so lange Taggelder auszurichten habe, bis sich
die Invalidenversicherung entschliesse, irgendwelche berufliche Abklärungen
zu treffen. Die Dauer der Ausrichtung von Taggeldern könne nicht von
der zum Teil sehr schleppenden und trägen Abklärungspraxis der IV-Stelle
abhängig gemacht werden. Gemäss Art. 18 IVV habe der Eingliederungswillige
spätestens vier Monate nach Anmeldung Anspruch auf Wartetaggelder. Es gehe
nicht an, dass der Krankenversicherer als "Lückenfüller" einspringen müsse.

Erwägung 4

    4.

    4.1  Der Anspruch auf Wartetaggelder der Invalidenversicherung gemäss
Art. 22 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1 und 2 IVV setzt nach
der Rechtsprechung voraus, dass die versicherte Person in der gewohnten
Erwerbstätigkeit eine mindestens 50%ige Arbeitsunfähigkeit aufweist und
die Eingliederungsfähigkeit in subjektiver und objektiver Hinsicht so weit
rechtsgenüglich erstellt ist, dass Eingliederungsmassnahmen - und nicht
bloss Abklärungsmassnahmen - ernsthaft in Frage kommen. Nicht erforderlich
ist hingegen, dass die Durchführung der Eingliederungsmassnahmen
bereits beschlossen ist (AHI 1997 S. 169 Erw. 3a; Urteil S. vom
7. August 2002, I 705/01). Insofern erweist sich die von der IV-Stelle
im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren wiederholt vertretene
Auffassung, wonach Wartetaggelder seitens der Invalidenversicherung
erst dann ausgerichtet werden können, wenn eine konkrete berufliche
Eingliederungsmassnahme bevorsteht, als unrichtig.

    Der Umstand, dass ein in seiner gewohnten, d.h. bis zum Eintritt des
Gesundheitsschadens ausgeübten Tätigkeit zu mindestens 50% arbeitsunfähiger
Versicherter während der Zeit, in der sich Umschulungsmöglichkeiten
abzuzeichnen beginnen, in Erfüllung der Schadenminderungspflicht eine
Erwerbstätigkeit ausübt, schliesst den Anspruch auf ein Wartetaggeld
der Invalidenversicherung grundsätzlich nicht aus, ist jedoch
bei dessen Bemessung zu berücksichtigen (BGE 117 V 275 Erw. 2, 3;
MEYER-BLASER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], in:
MURER/STAUFFER [Hrsg.], Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum
Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997, Ziff. II/3a zu Art. 22 IVG).

    4.2  Demgegenüber setzt der Taggeldanspruch nach KVG eine mindestens
hälftige Arbeitsunfähigkeit (Art. 72 Abs. 2 KVG) voraus, welche wie
schon unter dem KUVG unter Berücksichtigung des bisherigen Berufes
festzusetzen ist, solange von der versicherten Person vernünftigerweise
nicht verlangt werden kann, ihre restliche Arbeitsfähigkeit in einem
anderen Berufszweig zu verwerten. Nach Ablauf einer angemessenen
Anpassungszeit hängt der Taggeldanspruch davon ab, ob und wie sich
die Verwertung der Restarbeitsfähigkeit auf den krankheitsbedingten
Erwerbsausfall im bisherigen Beruf und auf den damit zusammenhängenden
Taggeldanspruch auswirkt. Dies ergibt sich aus der Schadenminderungspflicht
(vgl. GEBHARD EUGSTER: Zum Leistungsrecht der Taggeldversicherung nach
KVG, in: LAMal-KVG: Recueil de travaux en l'honneur de la Société suisse
de droit des assurances, Lausanne 1997, S. 518; BGE 114 V 283 Erw. 1d
und 287 Erw. 3d je mit Hinweisen). Diese stellt die Anweisung an die
versicherte Person dar, nach Eintritt des Schadens alle ihr möglichen und
zumutbaren Massnahmen zu treffen, um diesen zu mindern oder zu beheben. Sie
ist als allgemeiner Grundsatz des Sozialversicherungsrechts bei der
Leistungsfestsetzung regelmässig und zwingend zu beachten (BGE 117 V 400).

    4.3  Aus der schwierigen Vermittelbarkeit eines Versicherten kann kein
Anspruch auf das versicherte Krankengeld abgeleitet werden. Diesem Faktor
ist bei der Ermittlung des zumutbaren Verdienstes Rechnung zu tragen.
Grundsätzlich haben nicht die Krankenkassen das Risiko der schwierigen
Vermittelbarkeit zu übernehmen. Dazu besteht jedoch die wichtige Ausnahme,
dass sie dem zur Schadenminderung durch Berufswechsel verpflichteten
Versicherten praxisgemäss eine gewisse Übergangsfrist zur Stellensuche
und zur Anpassung an die veränderten Verhältnisse einzuräumen haben
(BGE 114 V 289 Erw. 5b).

    4.4  Der Anspruch auf Wartetaggelder der Invalidenversicherung beginnt
gemäss Art. 18 Abs. 2 IVV zu dem Zeitpunkt, in welchem die IV-Stelle
aufgrund ihrer Abklärungen feststellt, dass Eingliederungsmassnahmen
angezeigt sind, spätestens aber vier Monate nach Eingang der Anmeldung. Der
Anspruch setzt voraus, dass Eingliederungsmassnahmen ernsthaft in
Frage kommen. Nicht erforderlich ist hingegen, dass die Durchführung
der Eingliederungsmassnahmen bereits beschlossen ist (vgl. Erw. 4.1
hievor). Liegt demnach eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung vor und
kommen Eingliederungsmassnahmen ernsthaft in Frage, besteht ein Anspruch
auf Wartetaggelder der Invalidenversicherung, dagegen kein solcher auf die
weitere Auszahlung von Krankentaggeldern. Werden demgegenüber Massnahmen
der Invalidenversicherung nicht ernsthaft ins Auge gefasst, und wird
daher ein Anspruch auf Wartetaggelder abgelehnt, besteht der Anspruch auf
Krankentaggelder weiter. In diesem Fall trifft den Versicherten gegenüber
der Krankenkasse eine Schadenminderungspflicht. Dieser Pflicht kann sich
der Versicherte indessen nicht mit der Begründung, er warte auf Massnahmen
der Invalidenversicherung, entziehen, da solche eben nicht ernsthaft in
Erwägung gezogen werden, andernfalls ein Anspruch auf Wartetaggelder der
Invalidenversicherung bestünde.

Erwägung 5

    5.

    5.1  Im vorliegenden Fall hat der Versicherte ab August
2000 Krankentaggelder bezogen. Mit Verfügung der Helsana vom
29. November 2000 wurde ihm mitgeteilt, die Taggeldleistungen
würden nach einer Übergangsfrist von vier Monaten per 31. März
2001 eingestellt. Gleichzeitig wurde der Versicherte auf die
Umschulungsmassnahmen der Invalidenversicherung und die damit verbundenen
möglichen Taggeldzahlungen hingewiesen. Aus diesem Grund hat sich L. am
7. Dezember 2000 bei der Invalidenversicherung zum Bezug von Leistungen
angemeldet. Anlässlich einer telefonischen Unterredung vom 27. März
2001 hat der Vertreter des Versicherten die IV-Stelle um Wartetaggelder
ersucht. Dieses Begehren hat er mit Schreiben vom 28. Juni 2001 wiederholt.
Am 7. September 2001 wurde ihm von Seiten der IV-Stelle mitgeteilt, ein
Wartetaggeld könne erst dann ausgerichtet werden, wenn eine konkrete
berufliche Eingliederungsmassnahme bevorstehe. Dies sei noch nicht
der Fall. Vorerst müssten weitere Abklärungsmassnahmen getroffen werden.

    5.2  Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Versicherte von der
Beschwerdeführerin ordnungsgemäss auf seine Schadenminderungspflicht und
auf mögliche Taggeldleistungen der Invalidenversicherung hingewiesen
worden ist. Zudem wurde ihm die übliche Übergangsfrist von vier
Monaten zur Arbeitssuche gewährt. Ein Gesuch um Wartetaggelder der
Invalidenversicherung wurde mit der Begründung abgelehnt, es stehe noch
nicht fest, ob es überhaupt zu Leistungen der Invalidenversicherung
kommen werde, da die erstmaligen Abklärungen noch nicht abgeschlossen
seien. Ob dies in Anbetracht der langen Dauer der Abklärungen unter dem
Aspekt, dass Eingliederungsmassnahmen lediglich ernsthaft in Betracht
gezogen werden müssen (Urteil S. vom 7. August 2002, I 705/01), zu
Recht erfolgte, braucht im vorliegenden Verfahren nicht geprüft zu werden
(vgl. zuletzt Urteil O. vom 26. August 2003, I 753/02). Jedenfalls konnte
und musste der Versicherte unter diesen Umständen nicht mit unmittelbar
bevorstehenden Massnahmen rechnen. Er war demnach nicht gehindert, seiner
Schadenminderungspflicht nachzukommen.

    5.3  Es kann offen bleiben, ob sich der vorliegende Fall mit dem BGE
111 V 235 zu Grunde liegenden Sachverhalt vergleichen lässt, da sich die
Rechtslage seit dem Erlass des genannten Urteils verändert hat: Art. 18
Abs. 2 IVV, wonach Anspruch auf Wartetaggelder der Invalidenversicherung
spätestens nach vier Monaten seit der Anmeldung besteht, ist erst seit 1.
Juli 1992 in Kraft. Dem damaligen Beschwerdeführer konnte daher die
entsprechende Bestimmung nicht entgegengehalten werden.

    5.4  Nicht gehört werden kann der Einwand, der Versicherte habe
sich höchstens kurzfristig für eine andere Stelle bewerben können und
sei daher schwer vermittelbar gewesen, da sich dies nicht zu Lasten des
Krankenversicherers auswirken darf und dem Versicherten eine angemessene
Übergangsfrist eingeräumt wurde (vgl. Erw. 4.3). Dass der Beschwerdegegner
tatsächlich gewillt war, eine andere Anstellung anzunehmen, ergibt sich
schliesslich aus dem Umstand, dass er sich bei der Arbeitslosenversicherung
gemeldet hat.