Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 V 381



129 V 381

58. Auszug aus dem Urteil i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Winterthur Pensionskasse für das Personal betreffend R., und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich

    B 86/02 vom 23. Mai 2003

Regeste

    Art. 1 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1 FZG: Verhältnis zwischen Altersleistungen
und Austrittsleistung.

    An der Rechtsprechung gemäss BGE 120 V 306, wonach keine
Austrittsleistung mehr beansprucht werden kann, wenn die Kündigung
des Arbeitsvertrages in einem Alter erfolgt, in welchem bereits ein
reglementarischer Anspruch auf Altersleistungen im Sinne einer vorzeitigen
Pensionierung besteht, ist auch unter der Herrschaft des FZG festzuhalten
(für den Fall, dass das Vorsorgereglement die vorzeitige Pensionierung
von einer entsprechenden Willenserklärung des Versicherten abhängig macht:
Urteil S. vom 24. Juni 2002, B 38/00).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.

    3.1

    3.2  Das am 1. Januar 1995 in Kraft getretene Bundesgesetz
über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen-
und Invalidenvorsorge vom 17. Dezember 1993 (Freizügigkeitsgesetz,
FZG) findet auf alle Vorsorgeverhältnisse Anwendung, in denen eine
Vorsorgeeinrichtung des privaten oder des öffentlichen Rechts aufgrund
ihrer Vorschriften (Reglement) bei Erreichen der Altersgrenze, bei Tod
oder bei Invalidität (Vorsorgefall) einen Anspruch auf Leistungen gewährt
(Art. 1 Abs. 2 FZG). In Art. 2 Abs. 1 FZG ist vorgesehen, dass Versicherte,
welche die Vorsorgeeinrichtung verlassen, bevor ein Vorsorgefall
eintritt (Freizügigkeitsfall), Anspruch auf eine Austrittsleistung
haben. Treten Versicherte in eine neue Vorsorgeeinrichtung ein, hat
die frühere Vorsorgeeinrichtung die Austrittsleistung an die neue
zu überweisen (Art. 3 Abs. 1 FZG). Versicherte, die nicht in eine
neue Vorsorgeeinrichtung eintreten, haben ihrer Vorsorgeeinrichtung
mitzuteilen, in welcher zulässigen Form sie ihren Vorsorgeschutz erhalten
wollen (Art. 4 Abs. 1 FZG), wobei die Vorsorgeeinrichtung bei Ausbleiben
dieser Mitteilung spätestens zwei Jahre nach dem Freizügigkeitsfall die
Austrittsleistung samt Verzugszins der Auffangeinrichtung zu überweisen
hat (Art. 4 Abs. 2 FZG).

    In Ziff. 13.2 der "Weiteren Bestimmungen" der beschwerdegegnerischen
Vorsorgeeinrichtung wird ausgeführt, dass der Anspruch auf eine
Austrittsleistung entfällt, wenn der Versicherte das 60. Altersjahr
erreicht hat und er sich deshalb laut diesem Reglement vorzeitig
pensionieren lassen kann; es besteht - nach unmissverständlicher, klarer
und daher für den Versicherten verbindlicher (SZS 1999 S. 376 ff. Erw. 3a
und b mit Hinweisen) reglementarischer Aussage - in jedem Fall nur Anspruch
auf die Leistungen bei Pensionierung.

Erwägung 4

    4.

    4.1  Nach der vor Inkrafttreten des FZG ergangenen Rechtsprechung
(BGE 120 V 306) ist bei denjenigen Vorsorgeeinrichtungen, welche die
Möglichkeit einer vorzeitigen Pensionierung vorsehen, unter Eintritt
des Versicherungsfalls Alter nicht das Erreichen der gesetzlichen
Altersgrenze nach Art. 13 Abs. 1 BVG, sondern das Erreichen der
reglementarischen Altersgrenze für eine vorzeitige Pensionierung zu
verstehen. Dementsprechend kann die im Verhältnis zu den Altersleistungen
subsidiäre Austrittsleistung nicht mehr beansprucht werden, wenn die
Kündigung des Arbeitsvertrages in einem Alter erfolgt, in welchem bereits
ein Anspruch auf Altersleistungen besteht - und sei es auch im Sinne
einer vorzeitigen Pensionierung. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses
zu einem Zeitpunkt, in welchem die reglementarischen Voraussetzungen für
eine vorzeitige Pensionierung erfüllt sind, führt demnach zur Entstehung
des Anspruches auf die im Reglement vorgesehenen Altersleistungen,
dies ungeachtet der Absicht des Versicherten, anderweitig erwerbstätig
zu sein. Trotz der in der Literatur geäusserten Kritik (THOMAS KOLLER,
Vorzeitige Pensionierung und Anspruch auf Freizügigkeitsleistung:
Bemerkungen zu einem eigenartigen Spannungsverhältnis, in: AJP 1995 S. 497
ff., insbes. S. 499 f.; vgl. auch ROLAND A. MÜLLER, Die vorzeitige
Pensionierung - Möglichkeiten und Grenzen im Lichte verschiedener
Sozialversicherungszweige, in: SZS 1997 S. 348; ERIKA SCHNYDER, La
retraite anticipée dans le deuxième pilier, in: SPV 1996 S. 98 Fn. 4)
hielt das Gericht an dieser Rechtsprechung fest (SZS 1998 S. 126; nicht
veröffentlichtes Urteil G. vom 31. Dezember 1996, B 18/94).

    4.2  Ob diese Grundsätze auch unter der Herrschaft des FZG gelten,
hat das Eidgenössische Versicherungsgericht wiederholt offen gelassen
(in plädoyer 2002/6 S. 67 teilweise veröffentlichtes Urteil S. vom
24. Juni 2002, B 38/00; Urteil A. vom 2. Dezember 2002, B 81/01). Im Urteil
S. vom 24. Juni 2002, B 38/00, erkannte es, dass bei Vorsorgereglementen,
welche die Ausrichtung einer vorzeitigen Altersrente von der Ausübung
einer entsprechenden Willenserklärung des Versicherten abhängig machen,
der - den Anspruch auf eine Austrittsleistung ausschliessende (Art. 2
Abs. 1 FZG) - Vorsorgefall Alter nicht in jedem Fall eintritt, wenn
das Arbeits- oder Dienstverhältnis zu einem Zeitpunkt aufgelöst wird,
in welchem der Versicherte das reglementarische Rentenalter für eine
vorzeitige Pensionierung bereits erreicht hat, sondern nur dann, wenn
der Versicherte von der ihm in den Statuten eingeräumten Möglichkeit,
die Ausrichtung einer vorzeitigen Altersrente zu verlangen, Gebrauch macht.

    Da nach den reglementarischen Bestimmungen der Beschwerdegegnerin
die Ausrichtung einer vorzeitigen Altersrente nicht allein von einer
Willenserklärung des Versicherten abhängig ist, sondern diese sowohl
vom Versicherten als auch von der Gesellschaft verlangt werden kann
(Ziff. 3.1 Vorsorgeplan) und somit eine vorzeitige Pensionierung selbst
gegen den Willen des Versicherten möglich ist (vgl. dazu auch Ziff. 13.2
"Weitere Bestimmungen"), ist die Frage, ob an BGE 120 V 306 unter dem
Geltungsbereich des FZG festgehalten werden kann, nunmehr zu entscheiden.

    4.3  Nach Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV)
ist die Frage zu verneinen, weil damit der mit dem FZG angestrebte
Zweck, dem Versicherten bei einem Stellenwechsel den Weiteraufbau der
beruflichen Vorsorge zu ermöglichen, vereitelt werde. Zur Erläuterung
der mit einer allfälligen Weitergeltung der bisherigen Rechtsprechung
verbundenen, mit dem FZG im Widerspruch stehenden Nachteile verweist das
BSV auf die Darstellung in Erw. 4b des Urteils S. vom 24. Juni 2002,
B 38/00 (niedrigerer Umwandlungssatz im Sinne von Art. 13 Abs. 2 BVG;
Möglichkeit gesundheitlicher Vorbehalte im überobligatorischen Bereich;
Verunmöglichung des Weiteraufbaus der Vorsorge etc.). Im Weitern bringt
es vor, dass diese Lösung für den Versicherten auch in steuerrechtlicher
Hinsicht negative Auswirkungen hätte. Es vertritt den Standpunkt, dass
die Reglementsbestimmung der Pensionskasse für das Personal der Winterthur
Gesellschaften, gemäss welcher gegen den Willen des Arbeitnehmers der
Vorbezug einer gekürzten Altersleistung ausgelöst werden könne, was
die Überweisung der Austrittsleistung an die Vorsorgeeinrichtung, bei
welcher der Versicherte neu obligatorisch versichert sei, ausschliesse,
ungünstiger als die gesetzlichen Vorgaben und damit aufgrund von Art. 6
BVG unzulässig sei.

    Die Pensionskasse für das Personal der Winterthur Gesellschaften macht
geltend, dass die zu beurteilende Reglementsbestimmung im Einklang mit
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stehe, derzufolge insbesondere
nicht entscheidend sei, ob sich die versicherte Person tatsächlich in
den Ruhestand begebe oder weiterarbeite. Etwas anderes lasse sich auch
der jüngsten Rechtsprechung gemäss Urteil S. vom 24. Juni 2002, B 38/00,
nicht entnehmen. Selbst wenn das Gericht zum Schluss kommen sollte,
dass dieses Urteil zu einer Praxisänderung betreffend den Eintritt
des Versicherungsfalles führte, habe sie im Lichte der bisherigen
Rechtsprechung sowie mit Blick auf das Kreisschreiben Nr. 22 der
Eidgenössischen Steuerverwaltung vom 4. Mai 1995 gutgläubig auf die
Gesetzeskonformität ihres Reglementes vertrauen und im Schreiben vom
24. Mai 1996 den Anspruch auf eine Altersrente bestätigen dürfen.

    Der zum Verfahren beigeladene R. schloss sich in seiner ersten
Stellungnahme den Überlegungen des BSV an und legte in einer weiteren
Eingabe im Wesentlichen dar, inwiefern ihm aus dem Verhalten der
Beschwerdegegnerin ein Schaden entstanden sei.

    4.4  Nach dem in allen drei sprachlichen Fassungen übereinstimmenden
Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 FZG haben Versicherte, welche die
Vorsorgeeinrichtung verlassen, bevor ein Vorsorgefall eintritt
(Freizügigkeitsfall) (französisch: "avant la survenance d'un cas de
prévoyance [cas de libre passage]"; italienisch: "prima che insorga
un caso di previdenza [caso di libero passaggio]"), Anspruch auf
eine Austrittsleistung. Dass unter dem Eintritt des Vorsorgefalles
(nebst Invalidität und Tod, welche hier nicht weiter interessieren) das
Erreichen der Altersgrenze nach den reglementarischen Bestimmungen der
Vorsorgeeinrichtung zu verstehen ist, ergibt sich aus Art. 1 Abs. 2 FZG,
wonach das Gesetz anwendbar ist "auf alle Vorsorgeverhältnisse, in denen
eine Vorsorgeeinrichtung [...] aufgrund ihrer Vorschriften (Reglement)
bei Erreichen der Altersgrenze, bei Tod oder Invalidität (Vorsorgefall)
einen Anspruch auf Leistungen gewährt" (französisch: "où une institution de
prévoyance [...] accorde, sur la base de ses prescriptions [règlement], un
droit à des prestations lors de l'atteinte de la limite d'âge [...] [cas de
prévoyance]"; italienisch: "un istituto di previdenza [...] accorda, sulla
base delle sue prescrizioni [regolamento], un diritto alle prestazioni
al raggiungimento del limite d'età [...] [caso di previdenza]"). Nach
dem klaren Wortlaut des Gesetzes (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1
Abs. 2 FZG) besteht demnach nur Anspruch auf eine Austrittsleistung,
wenn ein Versicherter die Vorsorgeeinrichtung verlässt, bevor er das
reglementarische Rentenalter erreicht hat. Von diesem klaren Wortlaut
darf indessen ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe
für die Annahme vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der
Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe, welche entstehungsgeschichtlicher,
teleologischer oder systematischer Natur sein können (vgl. BGE 128 V 24
Erw. 3a, 127 V 5 Erw. 4a, 92 Erw. 1d, 198 Erw. 2c, je mit Hinweisen),
liegen nicht vor. Namentlich lassen sich der bundesrätlichen Botschaft
zu einem Bundesgesetz über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-,
Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 26. Februar 1992 (BBl 1992
III 533 ff., insbes. S. 570 ff.) keine entsprechenden Ausführungen
entnehmen. Soweit sich das BSV auf den allgemeinen Sinn und Zweck des
Gesetzes stützt, dem Versicherten zu ermöglichen, bei einem Stellenwechsel
den Vorsorgeschutz, den er bei der alten Vorsorgeeinrichtung aufgebaut
hat, aufrechtzuerhalten (BBl 1992 III 570), ist dieser zu unbestimmt,
um ein Abweichen vom klaren Wortlaut des Gesetzes zu rechtfertigen.

    4.5  Was schliesslich die weiter zu prüfenden Voraussetzungen für
eine Gesetzeskorrektur mittels Lückenfüllung anbelangt, ist vom Grundsatz
auszugehen, dass der Richter rechtspolitische Mängel oder unechte Lücken
des geltenden Rechts im Allgemeinen hinzunehmen hat und ihm nur zusteht,
sie regelbildend zu schliessen, wo der Gesetzgeber sich offenkundig über
gewisse Tatsachen geirrt hat oder wo sich die Verhältnisse seit Erlass
des Gesetzes in einem Masse gewandelt haben, dass eine weitere Anwendung
als rechtsmissbräuchlich erschiene (BGE 127 V 41 Erw. 4b/cc, 125 V 12
Erw. 3, 124 V 164 Erw. 4c und 275 Erw. 2a, 122 V 98 Erw. 5c und 329
Erw. 4 in fine, je mit Hinweisen; MEYER-BLASER, Die Bedeutung von Art. 4
Bundesverfassung für das Sozialversicherungsrecht, in: ZSR NF 111 [1992]
II S. 342 f.). Von solch extremen Fällen krass ungerechter Auswirkungen
einer gesetzlichen Regelung abgesehen, gibt es für den Richter keine
Möglichkeit, unbefriedigendes Recht zu berichtigen (vgl. auch GYGI,
Vom Anfang und Ende der Rechtsfindung, in: recht 1983 S. 80 f.).

    Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass der Fall des
vorliegend betroffenen Versicherten insofern speziell liegt, als er
von Zufälligkeitsmomenten geprägt ist. Diese bestehen darin, dass die
Vorsorgeeinrichtung der neuen Arbeitgeberin eine aus einer Fusion
hervorgegangene Kasse ist, der es wegen der Fusion möglich war, in
einem bestimmten Zeitpunkt ihre aktiven Mitglieder nach Massgabe der
je individuell angesammelten Kapitalien an freien Stiftungsmitteln
zu beteiligen. Ein Vergleich der beiden Leistungsstatus, nur unter
Berücksichtigung der nicht mitgegebenen Austrittsleistung, zeigt, dass
der weitaus grösste Teil der finanziellen Einbusse, die der Versicherte
erfährt, aus diesem spezifischen, zufälligen Umstand herrührt, der bei
einer neuen Vorsorgeeinrichtung normalerweise nicht gegeben ist.

    Zu berücksichtigen ist sodann, dass ein Festhalten an der Praxis
gemäss BGE 120 V 306 unter dem Geltungsbereich des FZG sich auch zum
Vorteil der Züger auswirken kann. Dies ist der Fall, wenn ein Versicherter
mit der Austrittsleistung der vormaligen Vorsorgeeinrichtung sich zwar
nach Massgabe der Art. 9, 10, 12 und 13 FZG eine Eintrittsleistung bei
der neuen Vorsorgeeinrichtung finanzieren kann, deren darauf künftig
festzusetzende reglementarischen Leistungen im Altersrentenfall aber
tiefer sind als jene der vormaligen Vorsorgeeinrichtung.

    Diese Gesichtspunkte in Verbindung mit der Komplexität des
Regelungsgegenstandes verbieten ein richterliches Eingreifen. Da, je
nach Ausgangslage, verschiedene Möglichkeiten gesetzlicher Gestaltung
in Betracht fallen, beschränkt sich das Gericht auf den Hinweis an
den Gesetzgeber, dass die geltende Ordnung nicht für alle Fälle zu
befriedigenden Ergebnissen führt (vgl. in diesem Sinne zur richterlichen
Zurückhaltung: BGE 117 V 318 ff. Erw. 6a und b).

    4.6  Demnach muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass
an der Rechtsprechung gemäss BGE 120 V 306 auch unter dem Geltungsbereich
des FZG festzuhalten ist (für den Fall, dass das Vorsorgereglement die
vorzeitige Pensionierung von einer entsprechenden Willenserklärung des
Versicherten abhängig macht: in Erw. 4.2 hievor erwähntes Urteil S. vom
24. Juni 2002, B 38/00). Von einer Gesetzwidrigkeit der mit dieser Praxis
im Einklang stehenden reglementarischen Bestimmungen der Beschwerdegegnerin
kann unter diesen Umständen nicht die Rede sein. Dass die Pensionskasse
für das Personal der Winterthur Gesellschaften dem Versicherten nach dessen
Ausscheiden eine Altersrente ausgerichtet und nicht eine Austrittsleistung
an die neue Vorsorgeeinrichtung überwiesen hat, ist bei dieser Sachlage
nicht zu beanstanden.