Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 V 211



129 V 211

32. Urteil i.S. IV-Stelle des Kantons St. Gallen gegen L. und
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen I 319/01 vom 24. Januar 2003

Regeste

    Art. 48 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 85 Abs. 1 IVV in Verbindung mit Art. 77
AHVV; Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV: Verfahrensrechtliche Qualifizierung
der - im Anschluss an eine zu Unrecht erfolgte Sistierung - wieder
aufgenommenen Rentenausrichtung; zeitliche Wirkungsweise (ex nunc oder
ex tunc).

    Wurde eine Invalidenrente zufolge unrichtiger Beurteilung eines
strafrechtlich angeordneten Massnahmenvollzugs zu Unrecht sistiert, kann
darauf bezüglich des von der Sistierungsverfügung erfassten, bis zu deren
Erlass reichenden Zeitraums wiedererwägungsweise zurückgekommen werden,
sofern die entsprechenden Voraussetzungen (zweifellose Unrichtigkeit
der Sistierungsverfügung, erhebliche Bedeutung der Berichtigung) erfüllt
sind. Da es sich bei der unrichtigen Qualifizierung des Massnahmenvollzugs
nicht um einen spezifisch invalidenversicherungsrechtlichen Aspekt handelt,
gelangt bei der Wiederaufnahme der Rentenzahlungen für diese Periode
Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV nicht zur Anwendung; massgebend sind die
Art. 85 Abs. 1 IVV in Verbindung mit Art. 77 AHVV sowie Art. 48 Abs. 1 IVG.

    Für die Zeit nach Erlass der Sistierungsverfügung sind - da
diesbezüglich noch keine Verfügung vorliegt - die bei einer Neuanmeldung
des Rentenanspruchs geltenden Regeln zu beachten, mit der Folge, dass
die Rentennachzahlung gestützt auf Art. 48 Abs. 1 IVG bis maximal fünf
Jahre zurück bis zum ersten nach dem letzten von der Rechtskraft der
Sistierungsverfügung erfassten Monat zu erfolgen hat; Art. 48 Abs. 2
IVG ist nicht anwendbar, weil nicht eine fehlerhafte Beurteilung eines
spezifisch invalidenversicherungsrechtlichen Gesichtspunktes Anlass für
die Rentensistierung bildete.

Sachverhalt

    A.

    A.a  Die 1971 geborene L., welche seit ihrem Kindesalter wegen sehr
schweren Verhaltensauffälligkeiten Leistungen der Invalidenversicherung
(medizinische Massnahmen, Sonderschulung, Berufsberatung, erstmalige
berufliche Ausbildung) bezog, gelangte mit Wirkung ab 1. April 1992 in
den Genuss einer ganzen Invalidenrente (Verfügung der Ausgleichskasse
des Kantons St. Gallen vom 20. August 1992), dies nachdem fortgesetzte
Eingliederungsbemühungen letztlich nichts gefruchtet hatten und Frau
J., pract. med., in einem Bericht vom 16. Juni 1992 eine "hysterische
Persönlichkeitsstörung in Folge eines infantilen psychoorganischen
Syndromes bei schwerer Milieuproblematik" diagnostiziert und eine
vollständige Arbeitsunfähigkeit attestiert hatte.

    A.b  Im Rahmen eines am 14. April 1994 eingeleiteten
Rentenrevisionsverfahrens entnahm die Invalidenversicherung einem Bericht
des Dr. med. B., Spezialarzt für Innere Medizin FMH, vom 21. September
1994, dass die Versicherte auf Grund eines Urteils des Bezirksgerichts
Z. vom 25. April 1991 und einer Verfügung der Abteilung Strafrecht des
Departements des Innern des Kantons Aargau (nachfolgend: Departement) vom
18. Januar 1993 zum Massnahmenvollzug nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in
die Grossfamilie F. eingewiesen worden war. Mit bei der Ausgleichskasse
des Kantons St. Gallen am 17. November 1994 eingegangenem Schreiben teilte
die damalige Vormundin von L. mit, sie sei kürzlich in einem Gespräch mit
dem Adjunkten des Departements darauf aufmerksam gemacht worden, dass ihr
Mündel, da es seit dem 18. Januar 1993 im stationären Massnahmenvollzug
in der Grossfamilie F. lebt, kein Anrecht mehr auf den Bezug einer
Invalidenrente habe. Mit Schreiben vom 2. und 20. Dezember 1994 bestätigte
die Sektion Straf- und Massnahmenvollzug des Departements gegenüber der
Ausgleichskasse, dass sich L. im Vollzug einer stationären Massnahme nach
"Erwachsenenrecht" gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB befinde.

    Mit Verfügung vom 27. Januar 1995 eröffnete die
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (nachfolgend: SVA)
der durch ihre Vormundin vertretenen Versicherten, weil sie sich
ab 18. Januar 1993 (Datum der Departementsverfügung) im stationären
Massnahmenvollzug befinde, werde die Invalidenrente mit Wirkung ab
1. Februar 1993 sistiert. Am 23. Februar 1995 verfügte die SVA sodann
die Rückforderung der im Zeitraum von Februar 1993 bis und mit Februar
1995 bezogenen Renten im Gesamtbetrag von Fr. 31'405.-. Am 4. Mai 1995
schliesslich lehnte sie das von der Vormundin eingereichte Erlassgesuch
mangels Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug ab; gleichzeitig erklärte sie
sich indessen bereit, im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse
und die Vermögenssituation der Versicherten einen Teil der Rückforderung
als uneinbringlich abzuschreiben, und reduzierte diese dementsprechend
um Fr. 10'109.- auf Fr. 21'296.-.

    A.c  Am 23. April 1998 wandte sich das Departement - unter Einreichung
zweier Entscheide des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 11. Mai
und 2. November 1993, welche auf die Rechtsprechung zur Frage nach der
Rentenaufhebung/-sistierung während eines strafrechtlich angeordneten
Freiheitsentzuges Bezug nehmen - an die Vormundschaftsbehörde der
Wohnsitzgemeinde. Es vertrat darin die Auffassung, die vom Bezirksgericht
Z. ausgesprochene Freiheitsstrafe von vier Monaten, abzüglich acht Tage
Untersuchungshaft, sei, werde der Massnahmenaufenthalt (auf Grund einer
Verfügung des Departements vom 6. Juni 1991 zunächst noch bis Ende März
1992 in der Stiftung R.) angerechnet, am 16. August 1991 vollzogen gewesen;
ab diesem Datum hätte L. wieder Anspruch auf ihre Rente gehabt; die
Invalidenversicherung habe ihr diese zu Unrecht nicht wieder gewährt. Am
27. April 1998 unterbreitete die Sozialhilfestelle der Wohnsitzgemeinde
der Versicherten diese Korrespondenz der SVA mit der Bitte, "diese
Angelegenheit nochmals (zu) überprüfen und (...) mitzuteilen, ab welchem
Zeitpunkt die Sistierung aufgehoben werden kann". Im darauf erlassenen
Vorbescheid vom 10. August 1998 äusserte sich die SVA wie folgt:

      "Gemäss Rechtsprechung des EVG hat ein Versicherter, der sich im

    Massnahmevollzug nach Art. 43 StGB befindet, während der Dauer der

    ausgesprochenen Freiheitsstrafe den Status eines Strafgefangenen,

    weshalb die IV-Rente während dieser Zeitspanne zu sistieren ist. Wird

    die Massnahme über die Dauer der verhängten Freiheitsstrafe hinaus

    verfügt, ist zu prüfen, ob der fortdauernde stationäre Aufenthalt wegen

    der weiteren Sozialgefährlichkeit notwendig ist oder ob die

    Behandlungsbedürftigkeit des Versicherten den hauptsächlichen
Grund dazu

    bildet. Ist die Sozialgefährlichkeit gegeben, bleibt die Sistierung in

    Kraft. Steht die Behandlungsbedürftigkeit im Vordergrund, muss die

    Sistierung einer IV-Rente aufgehoben

    werden, sofern eine Invalidität auch ohne die strafrechtlichen

    Massnahmen vorläge.

      Unsere Abklärungen haben im Zusammenhang mit Ihrem Schreiben vom

    27.4.1998 ergeben, dass vorliegendenfalls von keiner

    Sozialgefährlichkeit auszugehen ist. Weil der Vollzug der stationären

    Massnahme am 25.4.1991 begonnen hat, wäre die von uns erlassene

    Sistierung mit Verfügungen vom 27.1.1995, 23.2.1995 und 4.5.1995

    lediglich für die Zeit vom 1.5.-31.8.1991 zulässig gewesen. Somit
ist zu

    prüfen, ob das zurückgeforderte Rentenbetreffnis vollumfänglich

    zurückzuerstatten ist.

      Nach Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV erfolgt die Erhöhung der Renten und

    Hilflosenentschädigungen frühestens vom Monat an, ab welchem

    festgestellt wird, dass der Beschluss der IV-Stelle zum Nachteil des

    Versicherten zweifellos unrichtig war. Bei dieser Bestimmung handelt es

    sich um eine Wiedererwägungsbestimmung im Bereich des IV-Rechtes (BGE

    110 V 294). Im erwähnten Urteil hält das EVG jedoch eindeutig fest,
dass

    diese Bestimmung auch analog bei Fällen anzuwenden sei, wo sich die

    Abweisung (Einstellung) eines Leistungsbegehrens nachträglich als

    zweifellos unrichtig erweist. Dieser Artikel findet jedoch

    ausschliesslich bei der Beurteilung von iv-rechtlichen Gesichtspunkten

    Anwendung.

      Die Rentenbetreffnisse können somit nicht rückwirkend ausgerichtet

    werden. Das Gesuch um Neuüberprüfung der Sachlage wurde im April 1998

    eingereicht. Der Rechtsmangel wurde unsererseits im Juni 1998 entdeckt.

    Anlehnend an die obenerwähnten Bestimmungen kann somit ab dem 1.6.1998

    wieder die ganze IV-Rente ausgerichtet werden."

    Mit der Modifikation, dass die Verwaltung den "Beginn der zu
erwartenden Zahlungen (...) nun auf April 1998" (statt Juni 1998)
vorzuverlegen bereit war, verfügte die SVA in diesem Sinne am 24. September
1998 die Ausrichtung einer ordentlichen ganzen einfachen Invalidenrente
ab 1. April 1998.

    B.- In Gutheissung der hiegegen von W., der neuen Vormundin von
L., eingereichten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen die Verfügung vom 24. September 1998 auf und wies die Sache
an die SVA zurück, damit diese der Versicherten mit Wirkung ab 1. April
1993 die Rentenbetreffnisse nachzahle, dies für die Zeit ab April 1993
bis 28. Februar 1995 in demjenigen Umfang, in welchem die Versicherte
seinerzeit effektiv eine Rückzahlung geleistet hatte (Entscheid vom
20. März 2001).

    C.- Die SVA, IV-Stelle, führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.

    Das kantonale Versicherungsgericht nimmt zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde in ablehnendem Sinne Stellung.

    Die (über eine Prozessvollmacht verfügende) Vormundin pflichtet dem
kantonalen Entscheid bei. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet
auf eine Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.

    1.1  Es ist unter den Parteien und dem kantonalen Gericht unbestritten
- und nach der Aktenlage auch nicht von Amtes wegen in Frage zu
stellen -, dass die am 27. Januar 1995 rückwirkend ab 1. Februar
1993 verfügte Rentensistierung (mit anschliessender Rückforderung
und Ablehnung des Erlasses) im Lichte der Rechtsprechung (BGE 113 V
273, 114 V 143; AHI 1998 S. 182) materiell unrechtmässig und auch im
wiedererwägungsrechtlichen Sinne zweifellos unrichtig war (vgl. - für den
umgekehrten Fall einer während des Strafvollzugs weiter ausgerichteten
Rente - Erw. 5a des nicht veröffentlichten Urteils S. vom 10. Juni 1992
[I 375/90]). Denn gemäss Departementsverfügungen vom 6. Juni 1991 und
18. Januar 1993 befand sich die Beschwerdegegnerin ab 16. August 1991
nicht wegen Sozialgefährlichkeit, sondern wegen klar im Vordergrund
stehender Behandlungsbedürftigkeit zunächst in der Stiftung R. und
(laut Schreiben des Departements vom 23. April 1998) ab November 1992 in
der Grossfamilie F. im Erwachsenenmassnahmenvollzug nach Art. 43 StGB,
was den Rentenanspruch unberührt lässt. Dieser Rechtsprechung (vgl. SVR
1995 IV Nr. 35 S. 93; AHI 1998 S. 182) liegt die Überlegung zu Grunde,
dass eine gesundheitlich nicht behandlungsbedürftige Person während eines
solchen Massnahmenvollzuges nicht an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit
verhindert wäre, weshalb im Fall eines Rentenbezügers die fortbestehende
Invalidität rentenmässig zu entschädigen ist.

    1.2   Die Streitigkeit dreht sich damit einzig um die Frage, ab
welchem Zeitpunkt die Rentenzahlungen wieder aufzunehmen sind. Die SVA
redet mit der im Vorbescheid vom 10. August 1998 enthaltenen und in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuerten Auffassung der Anwendbarkeit
von Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV das Wort, was im Hinblick auf die
Entdeckung der Unrichtigkeit der Rentensistierung im Juni 1998 zu einer
Wiederausrichtung der Rentenzahlungen ab 1. Juni 1998 führen würde. Im
Hinblick auf die Eingabe der Sozialhilfestelle der Wohnsitzgemeinde der
Versicherten vom 27. April 1998 hat sie die Zahlung der Rente letztlich
dann aber doch (in Anlehnung an Art. 88bis Abs. 1 lit. a IVV) ab 1. April
1998 verfügt.

    Das kantonale Gericht vertritt demgegenüber in seinem Entscheid vom
20. März 2001 und in der Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde
vom 31. Mai 2001 die Auffassung, Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV sei auf
den Fall einer aufgehobenen, als - im wiedererwägungsrechtlichen Sinne -
zweifellos unrichtig erkannten Rentensistierung nicht anzuwenden. Nachdem
die Vorinstanz im nunmehr angefochtenen Entscheid zum Schluss gelangt war,
eine Wiedererwägung führe "aus der Natur der Sache regelmässig zu einer
'rückwirkenden' Neubeurteilung", hält sie in ihrer im vorliegenden
Verfahren eingereichten Vernehmlassung an dieser Betrachtungsweise
fest, indem sie darlegt, dass ihrer Meinung nach "schon die Logik der
Wiedererwägung für sich etwas anderes als eine 'Rückwirkung' gar nicht
zulässt". Im Ergebnis stützte sich das kantonale Gericht dann bei der
Bestimmung des Beginns der Wiederaufnahme der Rentenausrichtung auf
Art. 48 Abs. 1 IVG.

Erwägung 2

    2.  (Anwendbares Recht nach dem auf den 1. Januar 2003 erfolgten
In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts [ATSG] vom 6. Oktober 2000; vgl. BGE 129 V
4 Erw. 1.2)

Erwägung 3

    3.

    3.1  Nach Art. 48 Abs. 1 IVG erlischt der Anspruch auf Nachzahlung mit
dem Ablauf von fünf Jahren seit Ende des Monats, für welchen die Leistung
geschuldet war. Meldet sich jedoch ein Versicherter mehr als zwölf Monate
nach Entstehen des Anspruchs an, so werden die Leistungen gemäss Art. 48
Abs. 2 IVG lediglich für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate
ausgerichtet; weiter gehende Nachzahlungen werden erbracht, wenn der
Versicherte den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte
und die Anmeldung innert zwölf Monaten seit Kenntnisnahme vornimmt. Unter
Vorbehalt der Verjährung und Verwirkung des Nachzahlungsanspruches gemäss
Art. 48 IVG erklärt Art. 85 Abs. 1 IVV den Art. 77 AHVV für die Nachzahlung
von Taggeldern, Renten und Hilflosenentschädigungen als sinngemäss
anwendbar. Art. 77 AHVV (Nachzahlung nicht bezogener Renten) lautet:

      "Wer eine ihm zustehende Rente nicht bezogen oder eine niedrigere

    Rente erhalten hat, als er zu beziehen berechtigt war, kann den ihm

    zustehenden Betrag von der Ausgleichskasse nachfordern. Erhält eine

    Ausgleichskasse Kenntnis davon, dass ein Rentenberechtigter keine oder

    eine zu niedrige Rente bezogen hat, so hat sie den entsprechenden
Betrag

    nachzuzahlen. Vorbehalten bleibt die Verjährung gemäss Art. 46 AHVG."

    3.2  Von diesen nachzahlungsrechtlichen Bestimmungen, welche dem
Versicherten einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Neuberechnung
der Rente einräumen (BGE 124 V 324), sind die Normen und Grundsätze zu
unterscheiden, welche die zeitlichen Wirkungen ordnen im Falle

    - der Revision im Sinne der Anpassung an geänderte Verhältnisse
(Art. 41 IVG),

    - der prozessualen Revision wegen neu entdeckter vorbestandener
Tatsachen oder Beweismittel,

    - der Wiedererwägung wegen zweifelloser Unrichtigkeit und erheblicher
Bedeutung ihrer Berichtigung sowie

    - der Neuanmeldung (Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV).

    3.2.1  Eine eingehende Regelung auf Verordnungsstufe haben die
zeitlichen Wirkungen, mit denen die Verfügung betreffend eine Nachzahlung
zu versehen ist, lediglich für den Fall der Revision nach Art. 41 IVG
erfahren. Ohne dass der Bundesrat über eine spezielle Grundlage verfügte
(was vom Eidgenössischen Versicherungsgericht jedoch von Anbeginn weg nicht
beanstandet worden war, vgl. BGE 104 V 147 Erw. 2), sind die Art. 88a und
Art. 88bis IVV erlassen worden. Während Art. 88a IVV die Frage regelt, ab
wann eine im Sinne von Art. 41 IVG revisionsrelevante Tatsachenänderung in
zeitlicher Hinsicht zu berücksichtigen ist, hat Art. 88bis IVV die Frage
zum Gegenstand, auf welchen Zeitpunkt hin die Rechtsfolge einer solchen
nach Art. 88a IVV erheblichen Tatsachenänderung eintreten soll. Gemäss
Art. 88bis Abs. 1 IVV erfolgt die Erhöhung der Invalidenrente frühestens

      "a. sofern der Versicherte die Revision verlangt, von dem Monat

      an, in

    dem das Revisionsbegehren gestellt wurde;

      b. bei einer Revision von Amtes wegen von dem für diese vorgesehenen

    Monat an;

      c. falls festgestellt wird, dass der Beschluss der IV-Stelle zum

    Nachteil des Versicherten zweifellos unrichtig war, von dem Monat
an, in

    dem der Mangel entdeckt wurde."

    Art. 88bis IVV geht den allgemeinen Nachzahlungsvorschriften
des Art. 48 IVG vor (BGE 98 V 103 Erw. 4), ist auf revisions- und
wiedererwägungsrechtliche Änderungen des Rentenanspruchs anwendbar
und sieht grundsätzlich die Anpassung ex nunc et pro futuro vor (BGE
110 V 289 f. Erw. 4 und 293 ff. Erw. 3). Wiewohl Art. 88bis Abs. 1
IVV nach Wortlaut und systematischer Einordnung auf den Tatbestand
des laufenden Rentenbezuges zugeschnitten ist (BGE 109 V 108, 106 V
16), bringt die Rechtsprechung Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV auch auf
Wiedererwägungen ursprünglich rechtskräftig verfügter Rentenablehnungen
zur Anwendung (BGE 110 V 296 f. Erw. 3d), soweit es um spezifisch
invalidenversicherungsrechtliche Aspekte geht. Handelt es sich dagegen
um AHV-analoge Gesichtspunkte, haben Nachzahlungen im Rahmen von Art. 48
Abs. 1 IVG (Fünfjahreszeitraum) zu erfolgen (nicht veröffentlichtes
Urteil G. vom 12. August 1987 [I 131/86]). Die Nachzahlung von
Leistungen unterliegt insbesondere auch im Falle einer Wiedererwägung der
ursprünglichen Verfügung einer absoluten Verwirkungsfrist von fünf Jahren
(nicht veröffentlichtes Urteil E. vom 18. August 1998 [I 261/97]). Die
Rechtsprechung hat sodann den Anwendungsbereich von Art. 88bis Abs. 1
lit. c IVV noch in anderweitiger Richtung eingeschränkt. So ist
diese Bestimmung nicht anwendbar auf die Wiedererwägung einer formell
rechtskräftigen Taggeldverfügung, mit welcher zu Ungunsten der versicherten
Person ein spezifisch invalidenversicherungsrechtlicher Gesichtspunkt
unrichtig beurteilt worden war (AHI 2001 S. 163, insbes. S. 166
f. Erw. 2d). Art. 85 Abs. 1 IVV, wonach ein gerichtlich durchsetzbarer
Nachzahlungsanspruch besteht, und Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV, wonach
die Wirkung der Wiedererwägung ex nunc et pro futuro eintritt, stehen im
Verhältnis Grundregel und Sonderregel (AHI 2001 S. 165 Erw. 2b).

    3.2.2  Im Wesen der prozessualen Revision (wegen unverschuldet
unbekannt gebliebener, neu entdeckter, vorbestandener Tatsachen und/oder
Beweismittel) liegt es, dass dieser Rückkommenstitel, welcher der
rechtsbeständigen Verfügung die Grundlage entzieht, eine uneingeschränkte
materiellrechtliche Neuprüfung gebietet und damit rückwirkend (ex tunc)
Platz greift (vgl. statt vieler BGE 122 V 138 f. Erw. 2d mit Hinweisen).

    3.2.3  Ergibt sich hingegen eine Leistungsänderung - sei es
eine Rückforderung oder eine Nachzahlung - aus dem Umstand, dass
die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der Leistungsverfügung
gegeben sind, lässt sich - vorbehältlich der Fälle mit Auskunfts-
oder Meldepflichtverletzungen - die Frage der zeitlichen Wirkung der
vorgenommenen Wiedererwägung nach der Rechtsprechung nicht generell
entscheiden (BGE 110 V 294 ff. Erw. 3c mit Hinweisen). Vorbehalten bleiben
jedoch besondere Vorschriften wie die soeben (Erw. 3.2.1) erwähnte
Vorschrift des Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV, welche die Praxis auch
ausserhalb der Revisionsverfahren nach Art. 41 IVG zur Anwendung bringt.

    3.2.4  Zu beachten ist schliesslich die Neuanmeldung nach
vorausgegangener rechtskräftiger Ablehnung des Rentenanspruches (Art. 87
Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 3 IVV). Meldet sich ein Versicherter
in einem solchen Fall neu zum Rentenbezug an, ist für die Festsetzung
nicht Art. 88bisAbs. 1 IVV anwendbar - der, wie gesagt (Erw. 3.2.1),
eine bereits laufende Rente voraussetzt -; sondern für die Festsetzung
eines rückwirkenden Rentenbeginnes ist Art. 48 Abs. 2 IVG massgebend
(BGE 109 V 117 f. Erw. 4).

Erwägung 4

    4.

    4.1  Das kantonale Gericht erkennt in der Verfügung der SVA vom
24. September 1998 eine Wiedererwägung; die Verwaltung sei darin zwar auf
die rechtskräftige Sistierungsverfügung vom 27. Januar 1995 zurückgekommen,
dies jedoch nicht rückwirkend, sondern nur mit Wirkung ab 1. April 1998,
was mit dem Wesen der Wiedererwägung unvereinbar sei.

    Vorinstanz und die Beschwerde führende Verwaltungsstelle verkennen,
dass die Verfügung vom 24. September 1998 einen doppelten rechtlichen
Gehalt aufweist. Die rechtskräftige Sistierungsverfügung vom 27. Januar
1995 und die im Anschluss daran erlassene, ebenfalls rechtskräftig
gewordene Rückerstattungsverfügung vom 23. Februar 1995 für die
Anspruchsperiode von Februar 1993 bis und mit Februar 1995 vermögen
nur für diejenigen Verhältnisse, welche bis zu ihrem Erlass eintraten,
Rechtsbeständigkeit zu entfalten. Hinsichtlich der Rentenberechtigung
in der Zeit ab März 1995 liegt keine Verfügung vor. Daraus ergibt sich,
dass die Anspruchsberechtigung für die Zeit vor und nach 1. März 1995
nach unterschiedlichen rechtlichen Regeln zu beurteilen ist.

    4.2

    4.2.1  Was die Zeit ab März 1995 anbelangt, liegt eine Neuanmeldung
vor. Nach dem Gesagten (Erw. 3.2.4) würde dies zur Anwendbarkeit
von Art. 48 Abs. 2 IVG führen. Nun ist aber zu beachten, dass
Art. 48 Abs. 2 IVG eine spezifisch invalidenversicherungsrechtliche
Vorschrift darstellt, welche im AHV-Recht nicht (resp. nur bezüglich
der Hilflosenentschädigung nach Art. 43bis AHVG) existiert (Art. 46
AHVG). Art. 48 Abs. 2 IVG bezweckt, die Verwaltung von der Prüfung von
invaliditätsmässigen Verhältnissen zu entheben, welche Jahre zurückliegen
und daher zuverlässiger Feststellung gar nicht mehr zugänglich sind
(vgl. BGE 114 V 136 f. Erw. 3). Art. 48 Abs. 2 IVG kann daher, kraft
teleologischer Reduktion (BGE 127 V 488 Erw. 3b/bb mit Hinweisen), im
vorliegenden Sachzusammenhang nicht massgeblich sein. Denn es geht nicht
um eine gestützt auf Art. 48 Abs. 2 IVG auszuschliessende langwierige
Abklärung zurückliegender invaliditätmässiger Verhältnisse, sondern
um den - von Art. 48 Abs. 2 IVG nicht erfassten - Umstand, dass der
Charakter des Massnahmenvollzuges, dem sich die Beschwerdegegnerin in der
Grossfamilie F. unterzog, von der Verwaltung seinerzeit - in Verkennung
der Rechtsprechung - falsch beurteilt worden war.

    4.2.2  Die Beschwerdegegnerin kann daher gestützt auf Art. 48 Abs. 1
IVG fünf Jahre zurück bis zum ersten Monat nach dem letzten von der
Rechtskraft der Verfügung vom 27. Januar 1995 erfassten Monat (Februar
1995), somit ab März 1995, die Nachzahlung beanspruchen.

    4.3  Zu prüfen bleibt, wie es sich mit der Anspruchsperiode von März
1993 bis und mit Februar 1995 verhält, welche von der Rechtsbeständigkeit
der unangefochten gebliebenen Sistierungs- und Rückerstattungsverfügungen
vom 27. Januar und 23. Februar 1995 erfasst ist. Diesbezüglich handelt
es sich in der Tat um eine Wiedererwägung, geht es doch darum, einen
Rechtsanwendungsfehler der SVA - unrichtige Würdigung der tatsächlichen
Verhältnisse im Zusammenhang mit dem Massnahmenvollzug, Verkennung der
Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts - zu korrigieren.

    4.3.1  Wendet man die Rechtsprechung zu Art. 88bis Abs. 1
lit. c IVV an, so scheidet eine rückwirkende Korrektur der von
den rechtskräftigen Verfügungen vom 27. Januar und 23. Februar 1995
angeordneten Rentensistierung und Rückerstattung ohne weiteres aus, sofern
man davon ausgeht, die fehlerhafte Beurteilung betreffe einen spezifisch
invalidenversicherungsrechtlichen Aspekt. Dies trifft nach dem Gesagten
indessen nicht zu, geht es doch um die unrichtige Qualifizierung des
Massnahmenvollzuges (Erw. 4.2.1 in fine). Damit gelangt aber Art. 48
Abs. 1 IVG zur Anwendung mit der Folge, dass der Beschwerdegegnerin,
nachdem die Sozialhilfestelle ihrer Wohnsitzgemeinde den Anspruch mit
Schreiben vom 27. April 1998 geltend gemacht hat, die Rente rückwirkend
ab 1. April 1993 zusteht.

    4.3.2  Im Ergebnis ebenfalls zur Bestätigung des vorinstanzlichen
Erkenntnisses führt BGE 124 V 324. Denn wenn einer Person - sogar
ohne dass die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung erfüllt
sind (die im vorliegenden Fall im Übrigen klar gegeben sind)
- ein Anspruch auf eine rechnerische Berichtigung ihrer formell
rechtskräftigen Rentenverfügung eingeräumt wird, geht es im Lichte
des verfassungsmässigen Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht an, jenen
Versicherten einen Nachzahlungsanspruch zu verweigern, die nicht nur von
einer unrichtigen Rentenberechnung, sondern von einer rechtswidrigen
Rentensistierung betroffen wurden. Gestützt auf Art. 85 Abs. 1 IVV in
Verbindung mit Art. 77 AHVV hat damit die SVA die zu Unrecht sistierte
Rente im fünfjährigen Zeitraum nach Art. 48 Abs. 1 IVG, somit ab 1. April
1993, zu erbringen, soweit sie nicht schon ausgerichtet und von der
Beschwerdegegnerin seinerzeit nicht zurückbezahlt worden war.