Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 V 207



129 V 207

31. Auszug aus dem Urteil i.S. IV-Stelle Luzern gegen 1. M., 2. N. und
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern I 94/00 vom 9. April 2003

Regeste

    Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 3 IVV; Art. 1 Abs. 1 und 2, Art. 3 GgV;
Ziff. 494 und Ziff. 395 GgV Anhang: Sekundäre Folgen von Geburtsgebrechen
mit zeitlich limitierter Leistungspflicht.

    Bei Geburtsgebrechen, bei welchen der Verordnungsgeber die Leistung
für das Geburtsgebrechen selbst beschränkt hat, stellt sich die Frage
der Leistungspflicht der Invalidenversicherung für sekundäre Folgen nur
im Rahmen der dort festgeschriebenen zeitlichen Limitierung. Dies trifft
bei den Geburtsgebrechen nach Ziff. 494 und Ziff. 395 GgV Anhang zu.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.

    3.1  Während in den streitigen Verfügungen der IV-Stelle
ein Anspruch nach Art. 13 IVG generell verneint wurde, ohne auf
Ziff. 494 GgV Anhang Bezug zu nehmen, hat die Vorinstanz erwogen, die
Zwillinge hätten zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Verfügungen
ein Körpergewicht von über 3 Kilogramm unbestrittenermassen längst
erreicht, weshalb das Geburtsgebrechen Ziff. 494 GgV Anhang nicht mehr
vorgelegen habe. Sie hat indessen geprüft, ob der zu jenem Zeitpunkt
vorhandene Entwicklungsrückstand beider Kinder eine sekundäre Folge des
Geburtsgebrechens darstellte, die den Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen
selbst aufgewiesen hätte. Das kantonale Gericht hat diese Frage bejaht,
indem es erwog, die festgestellte Entwicklungsverzögerung sei auf die
extreme Frühgeburt der Zwillinge zurückzuführen. Diese seien nach
nur 27 5/7 Schwangerschaftswochen mit einem Geburtsgewicht von 990
Gramm und 950 Gramm geboren worden. Zum einen habe der Bericht des
Entwicklungsneurologischen Behandlungszentrums des Spitals X. vom
23. März 1998 ausdrücklich auf die Frühgeburt Bezug genommen, und
zum andern hätten sich die Zwillinge von Anfang an routinemässigen
entwicklungsneurologischen Kontrollen unterziehen müssen. Auf Grund dieses
Berichtes sei demnach mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt,
dass die fraglichen Entwicklungsverzögerungen sekundäre Folgen der
Frühgeburt darstellten. Nebst der natürlichen Kausalität bejahte die
Vorinstanz auch den erforderlichen qualifizierten Kausalzusammenhang,
weil nach medizinischer Erfahrung ein Entwicklungsrückstand häufig Folge
einer extremen Frühgeburt sei.

    Demgegenüber macht die IV-Stelle geltend, es bestehe vorliegend
klarerweise kein Anspruch auf Ergotherapie. Die Vorinstanz
habe übersehen, dass gemäss der für die Verwaltung verbindlichen
Ziff. 494.1 des bundesamtlichen Kreisschreibens über die medizinischen
Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME; gültig
ab 1. Januar 1994) sämtliche Leistungen im Zusammenhang mit dem
Geburtsgebrechen Ziff. 494 zeitlich limitiert seien, somit nur so lange
ausgerichtet würden, bis das Neugeborene ein Gewicht von 3000 Gramm
erreicht habe. Diese Formulierung lasse eine Ausdehnung auf Folgemassnahmen
nach Erreichen der Gewichtslimite nicht zu. Demnach habe die Vorinstanz
sich im angefochtenen Urteil über den klaren Wortlaut von Ziff. 494.1
KSME hinweggesetzt, ohne sich ausdrücklich damit auseinanderzusetzen und
die entsprechende Weisung allenfalls als gesetzwidrig zu bezeichnen.

    3.2  Es ist aktenkundig und nicht streitig, dass die frühgeborenen
Zwillinge beim Erlass der Verfügungen das Körpergewicht von drei
Kilogramm längst erreicht hatten. Das Geburtsgebrechen Ziff. 494 GgV
Anhang, das sich auf Neugeborene mit einem Geburtsgewicht unter 2000
g bis zum Erreichen eines Gewichtes von 3000 g bezieht, liegt somit
nicht mehr vor. Die Vorinstanz hat jedoch dargelegt, der Anspruch auf
medizinische Massnahmen erstrecke sich im vorliegenden Fall gestützt auf
Art. 13 IVG und der dazu ergangenen Rechtsprechung darüber hinaus auch
auf die Behandlung der sekundären Geburtsschäden.

    3.3  Nach Art. 13 IVG haben Versicherte bis zum 20.  Altersjahr
Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen
medizinischen Massnahmen (Abs. 1). Der Bundesrat bezeichnet die
Gebrechen, für welche diese Massnahmen gewährt werden. Er kann die Leistung
ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2).
Nach der allgemein im Geburtsgebrechensbereich geltenden Rechtsprechung
erstreckt sich die Leistungspflicht der Invalidenversicherung auch
auf sekundäre Folgen eines Geburtsgebrechens, sofern diese in einem
qualifiziert adäquaten Kausalzusammenhang zum Geburtsgebrechen
stehen (statt vieler Pra 1991 Nr. 214 S. 903 ff.). Dabei bedarf
es einer Abgrenzung von limitierten Geburtsgebrechen im Verhältnis
zur Rechtsprechung, die sich auf nicht limitierte Geburtsgebrechen
bezieht und deren Behandlung gemäss Art. 3 GgV am Ende des Monats,
in dem die versicherte Person das 20. Altersjahr zurückgelegt hat,
erlischt. Somit ist zwischen zeitlich limitierten und nicht limitierten
Geburtsgebrechen zu unterscheiden, da sich bei Geburtsgebrechen, bei
welchen der Verordnungsgeber die Leistung für das Geburtsgebrechen selbst
beschränkt hat, die Frage der Leistungspflicht der Invalidenversicherung
für sekundäre Folgen nur im Rahmen der dort festgeschriebenen zeitlichen
Limitierung stellt. Dies trifft beim als Geburtsgebrechen versicherten
"Untergewicht des Neugeborenen" gemäss Ziff. 494 GgV Anhang (bis zur
Erreichung eines Gewichts von 3000 g) sowie beim Geburtsgebrechen der
leichten zerebralen Bewegungsstörungen nach Ziff. 395 GgV Anhang (bis
zum Ende des zweiten Lebensjahres) zu und ergibt sich aus der Verordnung
selbst, im Sinne einer lex specialis zu der nach der Rechtsprechung sonst
geltenden Regel, wonach die Invalidenversicherung auch für sekundäre Folgen
von Geburtsgebrechen bis zum vollendeten 20. Altersjahr aufzukommen hat,
wenn diese zum Geburtsgebrechen selbst in einem qualifizierten adäquaten
Kausalzusammenhang stehen. Die zeitliche Limitierung der Leistungspflicht
in Ziff. 494 und Ziff. 395 GgV Anhang findet ihre Begründung auch im
Lichte des Geringfügigkeitsaspekts nach Art. 13 Abs. 2 in fine IVG, weil
bei schwer ausgeprägten krankhaften Befunden anderweitige Geburtsgebrechen
als das neonatale Untergewicht und die leichte zerebrale Bewegungsstörung
vorliegen können. Liegt somit "nur" ein neonatales Untergewicht oder "nur"
eine leichte zerebrale Bewegungsstörung vor, dann soll nach dem Willen
des Verordnungsgebers die Leistungspflicht der Invalidenversicherung nach
Erreichen des Normalgewichts bzw. nach Ablauf des stipulierten Zeitraumes
ihr Ende nehmen, weil nach der - der verordnungsmässigen Limitierung
zugrunde liegenden - medizinischen Erfahrung die Beeinträchtigungen aus
diesem Geburtsgebrechen in der Regel behoben sind. Liegen dagegen nicht
nur neonatale Untergewichtigkeit oder leichte zerebrale Bewegungsstörungen
vor, sondern werden weitere Geburtsgebrechen diagnostiziert, dann kann eine
Leistungspflicht der Invalidenversicherung auch für diese Geburtsgebrechen
und ihre qualifiziert adäquatkausalen Folgen gegeben sein.

    3.4  Ziff. 494 GgV Anhang versichert als Geburtsgebrechen das
"Untergewicht des Neugeborenen", wobei die obere Gewichtslimite
Abgrenzungsfunktion hat, indem oberhalb dieser Limite ein Geburtsgebrechen
in diesem Sinne nicht mehr vorliegt. Unter dem Titel eines limitierten
Geburtsgebrechens als solches bestand somit kein Anspruch auf Leistungen
mehr, da die Zwillinge im Zeitpunkt der Verfügungserlasse das Grenzgewicht
von 3000 g längst überschritten hatten. Zudem findet nach diesem Zeitpunkt,
wie in Erw. 3.3 dargelegt, die allgemein im Geburtsgebrechensbereich
geltende Rechtsprechung zu den qualifiziert adäquatkausalen Folgen eines
Geburtsgebrechens keine Anwendung, da der Verordnungsgeber die Leistungen
für das Geburtsgebrechen selbst limitiert hat, ohne dass hierin eine im
Rahmen der konkreten Normenkontrolle vorfrageweise zu prüfende Gesetzes-
oder Verfassungswidrigkeit erblickt werden könnte (BGE 128 V 98 Erw. 5a
mit Hinweisen). Die Frage, ob der qualifizierte Kausalzusammenhang für
sekundäre Folgen des Geburtsgebrechens Ziff. 494 GgV Anhang nach Lage
der Akten erstellt war, stellt sich daher nicht.