BGE 129 V 187
129 V 187 27. Urteil i.S. J. gegen Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Solothurn und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn C 134/02 vom 25. November 2002 Regeste Art. 27 Abs. 3 AVIG; Art. 41b AVIV. Der Begriff des AHV-Rentenalters in Art. 27 Abs. 3 AVIG meint die massgebliche Altersgrenze nach Art. 21 AHVG. Art. 41b AVIV, der vom "Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters" ausgeht, hält sich daher im Rahmen des Art. 27 Abs. 3 AVIG. Auszug aus den Erwägungen: Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: Erwägung 1 1. Auf Grund der Akten steht unbestrittenerweise fest, dass der Beschwerdeführer mangels ausserordentlicher Mindestbeitragszeit von 12 Monaten (Art. 13 Abs. 1 Satz 2 AVIG) mit Wirkung ab der zweiten eröffneten Rahmenfrist für den Leistungsbezug ab 1. März 2001 keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hat. Streitig und zu prüfen ist einzig, ob der Beschwerdeführer, welcher in der ersten Rahmenfrist vom 1. März 1999 bis 28. Februar 2001 Taggelder nach Art. 27 Abs. 2 lit. a AVIG bezogen hat, sich auf Abs. 3 dieser Bestimmung berufen kann. Danach kann der Bundesrat für Versicherte nach Abs. 2, die innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre vor Erreichen des AHV-Rentenalters arbeitslos geworden sind und deren Vermittlung allgemein aus Gründen des Arbeitsmarktes unmöglich oder stark erschwert ist, den Anspruch um höchstens 120 Taggelder erhöhen und die Rahmenfrist für den Leistungsbezug um sechs Monate verlängern (Art. 27 Abs. 3 AVIG in der Fassung gemäss dem Bundesgesetz vom 19. März 1999 über das Stabilisierungsprogramm 1998, in Kraft seit 1. September 1999 [AS 1999 2374]). Gestützt darauf hat der Bundesrat Art. 41b AVIV erlassen, der lautet: Versicherten mit einem Taggeldhöchstanspruch nach Art. 27 Abs. 3 AVIG, die sich innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre vor Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters als arbeitslos melden, wird eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug eröffnet, welche bis zum AHV-Rentenalter dauert. Sie haben Anspruch auf zusätzliche 120 Taggelder. (Fassung gemäss Ziff. I 6 der Verordnung über das Stabilisierungsprogramm 1998 vom 11. August 1999 [AS 1999 2387]). Vor In-Kraft-Treten der im Rahmen des Stabilisierungsprogramms 1998 neu gefassten Bestimmungen lauteten die Vorgängernormen: Art. 27 Abs. 3 AVIG Der Bundesrat kann für Versicherte, die innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre vor Erreichen des AHV-Rentenalters arbeitslos geworden sind und deren Vermittlung allgemein aus Gründen des Arbeitsmarktes unmöglich oder stark erschwert ist, den Anspruch um höchstens 120 Taggelder erhöhen und die Rahmenfrist für den Leistungsbezug um sechs Monate verlängern (Fassung gemäss Ziff. 1 des Bundesgesetzes vom 23. Juni 1995, in Kraft seit 1. Januar 1996 [AS 1996 273, 293]). Art. 41b AVIV Rahmenfrist und Anzahl Taggelder für Versicherte vor dem Rentenalter (Art. 27 Abs. 3 AVIG) Versicherten, die sich innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre vor Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters als arbeitslos melden, wird eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug eröffnet, welche bis zum AHV-Rentenalter dauert. Sie haben Anspruch auf zusätzliche 120 Taggelder (Fassung gemäss Ziff. I der Verordnung vom 11. Dezember 1995 [AS 1996 295]). Erwägung 2 2. Art. 27 Abs. 3 AVIG spricht somit unverändert vom AHV-Rentenalter, Art. 41b AVIV (auch in der seit 1. September 1999 gültigen Fassung) dagegen vom ordentlichen AHV-Rentenalter. Der Beschwerdeführer sieht darin eine Gesetzwidrigkeit der Verordnung durch unzulässige, weil nicht von der Delegationsnorm gedeckte Einschränkung desjenigen Kreises versicherter Personen, der von der formellgesetzlichen Rahmenfristverlängerung anvisiert wird. Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid, gestützt auf das Urteil C 426/99 "vom 20. August 2000" (es handelt sich um BGE 126 V 368, der vom 7. August 2000 datiert) erwogen, das Eidgenössische Versicherungsgericht habe in jenem Urteil keine Veranlassung gesehen, eine Gesetzwidrigkeit von Art. 41b AVIV in der damaligen Fassung anzunehmen. Das Gericht habe selber vom Eintritt des ordentlichen AHV-Rentenalters gesprochen, wiewohl eingewendet werden möge, dass in jenem Fall ein Rentenvorbezug gar nicht zur Diskussion stand. Mit der Flexibilisierung des AHV-Rentenalters, also der (durch die 10. AHV-Revision geschaffenen) Möglichkeit des Rentenvorbezuges, sei die Verordnungsbestimmung (Art. 41b AVIV) auf dem Hintergrund des offener formulierten Art. 27 Abs. 3 AVIG nicht gesetzwidrig geworden. Wenn auch die Möglichkeit eines gesetzgeberischen Übersehens nicht auszuschliessen sei, verdiene die Auslegung einer unveränderten Gültigkeit von Art. 41b AVIV den Vorzug, sei doch der Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (gemeint BGE 126 V 368) in einem Moment ergangen, da die (mit der 10. AHV-Revision neu gefassten) Art. 39 f. AHVG (flexibles Rentenalter) bereits in Kraft gestanden hätten. Trotz Kenntnis um die Rechtslage habe der Gesetzgeber von inhaltlichen Änderungen der Art. 27 Abs. 3 AVIG und Art. 41b AVIV abgesehen, weshalb kein Raum für eine andere Anwendung bestehe. Habe der Gesetzgeber somit zwar eine Flexibilisierung des Rentenalters mit Vorbezugsmöglichkeit der Altersrente einführen wollen, habe er aber nicht die Absicht gehabt, dadurch auch die Möglichkeit des Taggeldbezugs vom ordentlichen Rentenalter zu lösen, ansonsten dies hätte angeordnet werden können. Damit sei die einschränkende Verordnungsregelung von Art. 41b AVIV durch Art. 27 Abs. 3 AVIG "gedeckt", obwohl dessen Wortlaut lediglich vom AHV-Alter und nicht vom ordentlichen AHV-Alter spreche. Der Bundesrat enge seinen Spielraum nicht zu stark ein, wenn er die Möglichkeit für weitere 120 Taggelder nur Personen zugestehen wolle, die kurz vor dem ordentlichen AHV-Alter stünden. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird hingegen eingewendet, das Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts C 426/99 sei nicht präjudiziell und könne daher zur Untermauerung des vorinstanzlichen Standpunktes nicht dienen. Art. 27 Abs. 3 AVIG spreche lediglich vom AHV-Rentenalter und nicht vom ordentlichen AHV-Rentenalter. Dem gestützt auf diese Delegationsnorm ermächtigten Bundesrat sei es als Exekutivbehörde "verwehrt, dem Bürger auf Gesetzesstufe eingeräumte Rechte in einer Verordnung zu beschneiden bzw. ihm darin neue Pflichten aufzuerlegen". Indem Art. 41b AVIV vom Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters spreche, setze der Bundesrat Grenzen für die Anwendung dieser Bestimmung, welche durch das Gesetz nicht vorgegeben würden. Sämtliche Personen, die ihre Rente vorbeziehen möchten, seien dadurch ausgeschlossen. Diese Leistungseinschränkung überschreite den durch die Delegationsnorm geschaffenen Rahmen der Rechtsetzungsbefugnis. Die von der Vorinstanz erwähnte Kenntnis des Gesetzgebers um die Rechtslage sei unbehelflich, hätte doch Art. 27 Abs. 3 AVIG so oder anders keine inhaltliche Änderung erfahren müssen. Die vorinstanzliche Auffassung verkenne auch die systematische Einordnung des Rentenvorbezuges nach Art. 40 AHVG in "IV. Das flexible Rentenalter", welcher Abschnitt sich seinerseits unter "B. Die ordentlichen Renten" befinde. Eine vorzeitige Pensionierung nach Art. 40 AHVG sei somit durchaus ein AHV-Rentenalter, welches zu einer ordentlichen Rente berechtige. Schliesslich beruft sich der Beschwerdeführer auf ein Schreiben des (damaligen) Bundesamtes für Wirtschaft und Arbeit vom 23. März 1998. Erwägung 3 3. Dass das kantonale Gericht Art. 41b AVIV, seinem Wortlaut und Rechtssinn entsprechend, zutreffend zur Anwendung gebracht hat, steht fest und wird auch vom Beschwerdeführer nicht bestritten. 3.1 Fraglich ist einzig, ob die dort erwähnte qualifizierende Anspruchsvoraussetzung der Beschränkung der Erweiterung der Rahmenfrist um längstens sechs Monate mit 120 zusätzlichen Taggeldern auf das ordentliche AHV-Rentenalter gesetzmässig ist. Diese im Rahmen der konkreten, inzidenten oder vorfrageweisen Normenkontrollbefugnis gemäss ständiger Rechtsprechung (BGE 127 I 192 Erw. 5 Ingress, 127 V 454 Erw. 3b) zu beurteilende Frage nach der Gesetzmässigkeit von Art. 41b AVIV setzt zunächst voraus, dass Klarheit über den Rechtssinn der Delegationsnorm besteht. Die Prüfung der Gesetzmässigkeit der Verordnungsbestimmung kann erst stattfinden, wenn feststeht, was die übergeordnete formell gesetzliche Delegationsbestimmung (und allfällige weitere zu berücksichtigende Normen) bedeuten (vgl. z.B. BGE 126 V 71 Erw. 4b). 3.2 Art. 27 Abs. 3 AVIG ist somit daraufhin auszulegen, was der Terminus, innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre "vor Erreichen des AHV-Rentenalters" arbeitslos geworden, bedeutet. Dazu ist festzustellen, dass der Begriff des AHV-Rentenalters (l'âge donnant droit à une rente AVS; età che dà diritto alla rendita AVS) ein genereller Begriff ist, wie er sich aus der Umschreibung der Altersrentenvoraussetzungen nach Art. 21 AHVG ergibt. "AHV-Rentenalter" lässt schon rein sprachlich nicht an das individuelle Alter denken, in dem eine bestimmte versicherte Person den Rentenvorbezug wählen kann. In systematischer Hinsicht stellt der Rentenvorbezug wenn nicht geradezu das begriffliche Gegenstück, so doch eindeutig eine Abweichung zum AHV-Rentenalter dar. Was Sinn und Zweck von Art. 27 Abs. 3 AVIG anbelangt, wollte der Gesetzgeber mit dieser bevorzugten Behandlung eine bestimmte Kategorie von Arbeitslosen besser stellen, nämlich die kurz vor dem Rentenalter stehenden Versicherten, wobei er die Grenze zweieinhalb Jahre vor dem AHV-Rentenalter zog. Auch diese Überlegung spricht gegen eine Relativierung der zweieinhalbjährigen Frist des Art. 27 Abs. 3 AVIG je nach den individuellen für den Rentenbezug ausschlaggebenden Verhältnissen. Was das historische Auslegungselement anbelangt, ist Art. 27 Abs. 3 AVIG durch das Bundesgesetz vom 23. Juni 1995, in Kraft seit 1. Januar 1996 (zweite Teilrevision des AVIG), in das Gesetz gekommen. Im Entwurf des Bundesrates war die Bestimmung noch nicht vorgesehen (BBl 1994 I 340 ff., insbesondere 349). Den Verhandlungen in den beiden Räten sind keine Hinweise zu entnehmen, dass diese Bestimmung an einen individuell gewählten Vorbezug einer Rente geknüpft werden sollte (Sten.Bull. N 1994 1590 bis 1592, 1995 1129, S 1994 313, 1995 107). Erwägung 4 4. Ergeben damit sämtliche normunmittelbaren Kriterien (BGE 126 V 387 ff. Erw. 2c aa-cc), dass der Begriff des AHV-Rentenalters die massgebliche Altersgrenze nach Art. 21 AHVG meint, hält sich Art. 41b AVIV ohne weiteres im Rahmen dieser Bestimmung. Der Vorwurf der Gesetzwidrigkeit ist unbegründet.