Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 V 110



129 V 110

17. Auszug aus dem Urteil i.S. Staatssekretariat für Wirtschaft gegen
D. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern C 205/00 vom 8. Oktober 2002

Regeste

    Art. 95 Abs. 1 AVIG.

    Nach Ablauf einer Zeitspanne, die der Rechtsmittelfrist bei formellen
Verfügungen entspricht, darf die Verwaltung in einer unbeanstandet
gebliebenen faktischen Verfügung zugesprochene Versicherungsleistungen
nur unter den Voraussetzungen der Wiedererwägung oder der prozessualen
Revision zurückfordern (Änderung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.

    1.1  Wie das kantonale Gericht zutreffend dargetan hat, unterliegt eine
Rückforderung rechtsbeständig zugesprochener Kassenleistungen nach Art. 95
AVIG den üblichen Rückkommensvoraussetzungen entweder der prozessualen
Revision oder der Wiedererwägung wegen zweifelloser Unrichtigkeit und
erheblicher Bedeutung der Berichtigung, unabhängig davon, ob die zur
Rückforderung Anlass gebenden Leistungen förmlich oder formlos verfügt
worden sind (BGE 126 V 23 Erw. 4b, 46 Erw. 2b, 400 Erw. 2b/aa, 122 V 368
Erw. 3).

    1.2

    1.2.1  Auf unangefochtene formelle Verfügungen darf die Verwaltung
während der Rechtsmittelfrist zurückkommen, ohne dass die nach Eintritt
der Rechtskraft erforderlichen Voraussetzungen der Wiedererwägung oder
der prozessualen Revision erfüllt sein müssen (BGE 124 V 247 Erw. 2 mit
Hinweisen). Bei faktischen Verfügungen, wie z.B. Bezügerabrechnungen,
ist der Behörde für ein voraussetzungsloses Zurückkommen kein
längerer Zeitraum zuzubilligen. Der Verwaltung allein deshalb eine
längere Frist einzuräumen, um von sich aus voraussetzungslos auf eine
Leistungszusprechung zurückzukommen, weil Letztere nicht in eine formelle
Verfügung gekleidet war, sondern in Form einer bloss faktischen Verfügung
erfolgte, würde nämlich zu einer nach Art. 8 Abs. 1 BV untersagten
rechtsungleichen Behandlung führen. Denn allein das mehr oder weniger
zufallsabhängige Kriterium der Form der Leistungszusprechung stellt
keinen sachlichen Grund dar, um ansonsten gleiche Situationen in dem Sinne
unterschiedlich zu behandeln, dass der Empfänger oder die Empfängerin einer
faktischen Verfügung monatelang mit deren voraussetzungsloser Rücknahme
durch die Verwaltung rechnen müsste, wohingegen der Adressat oder die
Adressatin einer formellen Verfügung die Gewähr hat, dass die Behörde
nach Ablauf der Rechtsmittelfrist nur unter erschwerten Voraussetzungen -
nämlich jenen der Wiedererwägung oder der prozessualen Revision - auf den
Verwaltungsakt zurückkommen kann (siehe zum Begriff der Rechtsgleichheit
BGE 127 I 192 Erw. 5 Ingress, 209 Erw. 3f/aa, 125 I 4 Erw. 2b/aa, 168
Erw. 2a, 178 Erw. 6b). Wollte man anders entscheiden, müsste überdies
allen Versicherten, denen eine Leistung formlos zugesprochen wird,
empfohlen werden, unverzüglich eine anfechtbare Verfügung zu verlangen,
obwohl sie mit der von der Verwaltung getroffenen Lösung einverstanden
sind, nur um nach Empfang der formellen Verfügung die Beschwerdefrist
ungenutzt verstreichen zu lassen und sich so gegen ein voraussetzungsloses
Zurückkommen der Behörde auf das Verwaltungshandeln zu schützen (vgl. zum
Ganzen auch AJP 1997 S. 741).

    1.2.2  Zu keiner anderen Beurteilung vermag die Tatsache zu führen,
dass die rechtsuchende Person selbst eine faktische Verfügung nicht innert
der für formelle Verfügungen geltenden Rechtsmittelfrist zu beanstanden
braucht, sondern innert einer nach den Umständen angemessenen Prüfungs-
und Überlegungsfrist eine beschwerdefähige Verfügung verlangen kann
(BGE 126 V 24 Erw. 4b, 122 V 369 Erw. 3). Hinsichtlich der Beanstandung
des Verwaltungshandelns durch die betroffene Person ist im Gegensatz
zur Rechtslage bezüglich der Voraussetzungen, unter denen die Behörde
von sich aus auf eine Leistungszusprechung zurückkommen kann, eine
unterschiedliche Behandlung formeller Verfügungen auf der einen und
faktischer Verfügungen auf der anderen Seite im Lichte von Art. 8 Abs. 1
BV gerade geboten. Der Grund für die Differenzierung liegt darin,
dass faktische Verfügungen anders als formelle Verfügungen (vgl. für
das Arbeitslosenversicherungsrecht Art. 103 Abs. 2 AVIG) nicht mit
einer Rechtsmittelbelehrung versehen sind, woraus den Betroffenen
hinsichtlich der Beanstandung des Verwaltungshandelns kein Nachteil
entstehen darf. Letzteres wäre indessen der Fall, wenn man Empfängern
faktischer Verfügungen trotz Fehlens einer Rechtsmittelbelehrung die
für die Anfechtung formeller Verfügungen vorgesehene Rechtsmittelfrist
entgegenhalten wollte (vgl. auch AJP 1997 S. 741). Der Grundsatz der
Gleichbehandlung gebietet nicht nur, in den relevanten Punkten Gleiches
gleich, sondern auch in den relevanten Punkten Ungleiches ungleich
zu behandeln (BGE 127 I 192 Erw. 5 Ingress, 209 Erw. 3f/aa, 125 I 4
Erw. 2b/aa, 168 Erw. 2a, 178 Erw. 6b).

    1.2.3  Somit ist eine ohne Bindung an die Voraussetzungen der
Wiedererwägung oder der prozessualen Revision erfolgende Rückforderung
formlos zugesprochener Versicherungsleistungen nur während eines
Zeitraums möglich, welcher der Rechtsmittelfrist bei formellen Verfügungen
entspricht. Zu einem späteren Zeitpunkt bedarf die Rückforderung eines
Rückkommenstitels in Form einer Wiedererwägung oder einer prozessualen
Revision, auch wenn die faktische Verfügung, z.B. die Taggeldabrechnung,
von der versicherten Person noch beanstandet werden kann, mithin noch keine
Rechtsbeständigkeit erreicht hat, die mit der bei formellen Verfügungen
mit dem Ablauf der Beschwerdefrist eintretenden Rechtskraft vergleichbar
wäre. Soweit sich der bisherigen Rechtsprechung, insbesondere BGE 122
V 369 Erw. 3 und 126 V 23 Erw. 4b, etwas anderes entnehmen lässt, kann
daran nicht festgehalten werden.