Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 I 68



129 I 68

7. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen
Abteilung i.S. A. gegen Römisch-katholische Kirchgemeinde B. sowie
Römisch-katholische Landeskirche des Kantons Luzern (staatsrechtliche
Beschwerde)

    2P.16/2002 vom 18. Dezember 2002

Regeste

    Art. 15 BV, Art. 72 BV; Art. 9 EMRK; Glaubens- und Gewissensfreiheit;
Austritt aus der Kirchgemeinde bzw. aus der Landeskirche.

    Rechtswirkungen einer Erklärung, lediglich aus der Kirchgemeinde
bzw. Landeskirche austreten, sich aber weiterhin zur römisch-katholischen
Kirche bekennen zu wollen (sog. partieller Kirchenaustritt), im Lichte
der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der rechtlichen Regelung im Kanton
Luzern (E. 3.1-3.4).

Sachverhalt

    A.- A. ist in der luzernischen Gemeinde B.  wohnhaft. Mit schriftlicher
Eingabe vom 9. Dezember 2000 an den Kirchenrat der katholischen
Kirchgemeinde B. mit dem Betreff "Partieller Kirchenaustritt" erklärte
sie, aus der erwähnten Kirchgemeinde auszutreten. Gleichzeitig hielt
sie aber fest, "dass dieser Austritt nur die Staatskirche des Kantons
Luzern betrifft und nicht etwa die Röm.-Kath. Kirche, zu der ich mich als
Katholikin nach wie vor zugehörig fühle". Der Präsident des Kirchenrates
antwortete am 21. Dezember 2000, ihre Mitgliedschaft in der Kirchgemeinde
B. bestehe fort, nachdem sie sich nach wie vor zur römisch-katholischen
Kirche bekenne; ein "partieller Kirchenaustritt" sei aus rechtlichen
Gründen nicht möglich. Er verwies hiezu auf folgende Bestimmungen der
Verfassung der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern vom
25. März 1969 (im Folgenden: Kirchenverfassung/LU):

      § 12 Katholikinnen und Katholiken Wer nach kirchlicher Ordnung der

      römisch-katholischen Kirche angehört,

    gilt für Landeskirche und Kirchgemeinden als Katholikin oder Katholik,

    solange sie oder er dem zuständigen Kirchenrat am gesetzlich geregelten

    Wohnsitz nicht schriftlich erklärt hat, der römisch-katholischen

    Konfession nicht mehr anzugehören.

      § 13 Mitgliedschaft (1) Mitglied der Kirchgemeinde ist jede

      Katholikin und jeder Katholik,

    die oder der in ihrem Gemeindegebiet den gesetzlich geregelten Wohnsitz

    hat.

      (2) Wer einer Kirchgemeinde angehört, ist zugleich Mitglied der

    Landeskirche.

    Im Anschluss daran wechselten A. und der Kirchenrat
mehrfach Korrespondenz. Mit als "Gemeindebeschwerde" bezeichneter
Rechtsschrift vom 31. Juli 2001 (Postaufgabe 2. August 2001) gelangte
A. schliesslich erfolglos an den Synodalrat der römisch-katholischen
Landeskirche des Kantons Luzern mit dem Antrag festzustellen, "dass die
Beschwerdeführerin mit Wirkung ab 10. Dezember 2000 nicht mehr Mitglied
der Römisch-katholischen Kirchgemeinde B. ist".

    B.- Mit Postaufgabe vom 19. Januar 2002 hat A. beim Bundesgericht
staatsrechtliche Beschwerde mit folgendem Antrag eingereicht:

      1. Es sei der Entscheid der Römisch-katholischen Landeskirche des

         Kantons Luzern vom 19. Dezember 2001 aufzuheben.

      2. Es sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin mit Wirkung ab

         Empfang der Austrittserklärung, d.h. ab 10. Dezember 2000,

         eventuell ab 21. Dezember 2000, nicht mehr Mitglied der

         Römisch-katholischen Kirchgemeinde B. ist.

    Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit
es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.

    3.1  Die Beschwerdeführerin macht im Wesentlichen geltend, die
Kirchenbehörden würden von ihr "eine Erklärung betreffend Austritt aus
der Konfession" verlangen, sie solle "ihren Glauben verleugnen". Ein
solches Begehren sei ein "Anti-Bekenntnis". Dies dürfe von ihr aber
nicht verlangt werden, denn es sei "eine Form des Glaubensabfalls
und aus christlicher Sicht verboten". Nach kanonischem Recht sei ein
Austritt "aus der Kirche Jesu Christi nicht möglich, nicht einmal mit
einer schriftlichen Erklärung". Letztlich würden die Kirchenbehörden
von ihr also etwas Unmögliches fordern. Dadurch werde die Glaubens-
und Gewissensfreiheit verletzt.

    3.2  Das Bundesgericht hat sich bisher nicht ausdrücklich zu der hier
interessierenden Frage geäussert. Immerhin hat es bereits in BGE 2 S. 388
festgehalten und darauf auch in einem neueren Urteil vom 19. April 2002
(BGE 128 I 317 E. 2.2.2 S. 322) Bezug genommen, dass Art. 49 aBV nur
von "Religionsgenossenschaften" (Art. 15 BV von "Religionsgemeinschaft")
spricht und dass die Befreiung von den Kirchensteuern den Austritt aus der
Religionsgenossenschaft selbst bedingt, wohingegen der Austritt aus der
Kirchgemeinde allein nicht genügt (BGE 2 S. 388 E. 5 S. 396). In BGE 34
I 41 hat es sodann eine kantonale Regelung, die für die steuerrechtliche
Anerkennung einen Austritt nicht nur aus der Kirchgemeinde, sondern
aus der Landeskirche oder Religionsgenossenschaft überhaupt forderte,
als nicht gegen Art. 49 aBV verstossend betrachtet (E. 11 und 12 S. 52 f.).

    3.3  Die Doktrin ist gespalten: die Möglichkeit eines sog. partiellen
Kirchenaustritts wird teilweise bejaht (vgl. in diesem Sinne MARTIN
GRICHTING, Kirche oder Kirchenwesen?, Diss. Freiburg 1997, S. 185 ff.;
DIETER KRAUS, Schweizerisches Staatskirchenrecht, Diss. Tübingen 1993,
S. 93 f.; FELIX HAFNER, Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte,
Habilitationsschrift Basel 1991, S. 339, Fn. 171; PETER KARLEN, Das
Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, Diss. Zürich 1988,
S. 338 f.; JOHANNES GEORG FUCHS, Zugehörigkeit zu den Schweizer
evangelisch-reformierten Volkskirchen, in: Louis Carlen [Hrsg.],
Austritt aus der Kirche, 1982, S. 183 ff., insbes. S. 187; HANS SCHMID,
Die rechtliche Stellung der römisch-katholischen Kirche im Kanton Zürich,
Diss. Zürich 1973, S. 235; FRITZ ROHR, Organisation und rechtliche Stellung
der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde des Kantons Aargau, Diss. Zürich
1951, S. 94); zum Teil wird sie abgelehnt (URS JOSEF CAVELTI, Kirchenrecht
im demokratischen Umfeld, 1999, S. 188 f.; ders., Der Kirchenaustritt
nach staatlichem Recht, in: Louis Carlen [Hrsg.], aaO, S. 91; ADRIAN
LORETAN, Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit - oder ist
der Kirchenaustritt Privatsache?, in: Pastoralsoziologisches Institut
[Hrsg.], Jenseits der Kirchen, 1998, S. 125 ff.; GIUSEP NAY, Leitlinien der
neueren Praxis des Bundesgerichts zur Religionsfreiheit, in: René Pahud de
Mortanges, Religiöse Minderheiten und Recht, 1998, S. 37 f.; EUGEN ISELE,
Die Gliedschaft in der Kirche und die Mitgliedschaft in der Kirchgemeinde,
Rechtsgutachten, Freiburg 1971; HEINZ BACHTLER, Rechtsgutachten über
die Auslegung von § 4 des Gesetzes über das katholische Kirchenwesen vom
7. Juli 1963, in: Informationsblatt für die katholischen Kirchgemeinden
des Kantons Zürich, Heft 3, Zürich 1971, S. 25 ff., insbes. S. 39; HANS
BEAT NOSER, Pfarrei und Kirchgemeinde, 1957, S. 131; ALOIS SCHWEGLER,
Die Kirchgemeinde im Kanton Luzern, Diss. Freiburg 1935, S. 77 f.; ULRICH
LAMPERT, Kirche und Staat in der Schweiz, Bd. I, 1929, S. 331; wohl auch
WALTHER BURCKHARDT, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung, 3.
Aufl., 1931, S. 454).

    3.4  Die in Art. 15 BV und Art. 9 EMRK garantierte Glaubens- und
Gewissensfreiheit umfasst unter anderem das Recht, die Religion frei zu
wählen, einer Religionsgemeinschaft beizutreten, anzugehören, aus ihr
aber auch jederzeit auszutreten (vgl. BGE 125 I 347 E. 3a S. 354; 104
Ia 79 E. 3 S. 84; URS JOSEF CAVELTI, in: Bernhard Ehrenzeller/Philippe
Mastronardi/Rainer J. Schweizer/Klaus A. Vallender [Hrsg.], Die
Schweizerische Bundesverfassung, 2002, N. 28-30 zu Art. 15 BV; MARK
E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl.,
1999, S. 383, N. 594 f.). § 2 der Staatsverfassung des Kantons Luzern
vom 29. Januar 1875, der für die Glaubens- und Gewissensfreiheit auf die
Bundesverfassung verweist, hat keinen weiter gehenden Inhalt. Die von
den kantonalen Kirchenbehörden mit Blick auf die Kirchenverfassung/LU
vertretene Position respektiert diese Freiheit. Der Beschwerdeführerin
steht es nämlich frei, der römisch-katholischen Religionsgemeinschaft
weiterhin anzugehören oder aus ihr auszutreten. Von der Beschwerdeführerin
wird nicht verlangt, dass sie sich gegen die römisch-katholische
Religion ausspricht ("Anti-Bekenntnis"). Bekennt sie sich aber zu dieser
Religionsgemeinschaft, die im Kanton Luzern als öffentlichrechtliche
Institution anerkannt ist, ist sie auch an die insoweit vorgesehene
Organisation gebunden. Denn nach dem schweizerischen Verfassungsverständnis
können die Kantone gestützt auf Art. 72 Abs. 1 BV die Organisation und
die Mitgliedschaft in den von ihnen anerkannten Kirchen regeln (vgl.
BGE 120 Ia 194 E. 2c S. 201; WILLY SPIELER, Staatskirchenrecht als
Kirchennotrecht, in: Dietmar Mieth/René Pahud de Mortanges [Hrsg.],
Recht - Ethik - Religion, Festgabe zum 60. Geburtstag von Giusep Nay,
2002, S. 73 ff.; ADRIAN HUNGERBÜHLER/MICHEL FÉRAUD, Rechtsprechung der
Verfassungsgerichte im Bereich der Bekenntnisfreiheit, in: Constitutional
jurisprudence, XI. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte,
Warschau 2000, S. 821; ULRICH HÄFELIN, Kommentar zur Bundesverfassung,
N. 23 zu Art. 49 aBV; UELI FRIEDERICH, Kirchen und Glaubensgemeinschaften
im pluralistischen Staat, Diss. Bern 1993, S. 374 ff.; DIETER KRAUS, aaO,
S. 367 ff., insbes. S. 368 und 404 f.; ders., Die Kirchgemeinde in der
Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts, in: Urban Fink/René
Zihlmann [Hrsg.], Kirche, Kultur, Kommunikation, Peter Henrici zum 70.
Geburtstag, 1998, S. 579). Dies ist hier durch das Luzerner Gesetz vom
21. Dezember 1964 über die Kirchenverfassung (als Rahmengesetz) sowie durch
die vom Grossen Rat des Kantons Luzern genehmigte Kirchenverfassung/LU
geschehen. Die Kirchenverfassung/LU (§§ 12 und 13) verknüpft für die im
Kanton Luzern wohnhaften Personen das Bekenntnis zur römisch-katholischen
Religionsgemeinschaft bzw. Konfession mit der Mitgliedschaft in der
römisch-katholischen Landeskirche und der entsprechenden Kirchgemeinde
(sog. Nexus). Eine solche Verknüpfung ist verfassungsrechtlich zwar
nicht geboten; der Kanton kann das Verhältnis zwischen kirchlichen
Körperschaften des öffentlichen Rechts und Religionsgemeinschaft auch
dualistisch regeln. Der Nexus, eine Regelung, die die Zugehörigkeit
zur Religionsgemeinschaft und zu ihren lokalen Verbänden als Einheit
betrachtet, ist aber grundsätzlich zulässig. Dies muss jedenfalls solange
gelten, als die Organe der Religionsgemeinschaft eine Verknüpfung nicht
ablehnen, sondern sie - allenfalls stillschweigend - akzeptieren, wovon
hier auszugehen ist. Es wäre auch in gewissem Sinne widersprüchlich,
der Kirchgemeinde seines Wohnsitzes nicht angehören zu wollen, wohl aber
der entsprechenden kirchlichen Dachorganisation. Denn beiden ist das
gleiche Bekenntnis eigen, und die Organe vor Ort sind zugleich Organe der
Dachorganisation bzw. handeln in ihrem Interesse und Auftrag. Persönliche
Konflikte verleihen noch nicht von Verfassungs wegen das Recht, aus einem
Verband nur teilweise auszutreten; das gilt im Bereich der Glaubens- und
Gewissensfreiheit nicht anders als in anderen Grundrechtsbereichen. Auch
unter Gesichtspunkten des Rechtsmissbrauchs wäre nur schwer zu
rechtfertigen, weshalb eine aus der Kirchgemeinde und der Landeskirche
ausgetretene Person weiterhin die Dienste der Kirchenorgane beanspruchen
können sollte, nachdem sie mit ihrem Austritt bewirkt hat, dass sie an
diese Leistungen nichts mehr beizusteuern hat (vgl. BGE 10 S. 320 E. 3
S. 324). Ein verfassungsrechtlicher Schutz für solches Verhalten erscheint
jedenfalls nicht als geboten. Es ist weder von der Beschwerdeführerin
dargelegt worden noch ersichtlich, dass das im Kanton Luzern geregelte
Mitgliedschaftsverhältnis die Beschwerdeführerin in ihrem Bekenntnis und
ihrer Religionsausübung in unzulässiger Weise beeinträchtigen würde. Wenn
die Beschwerdeführerin den in BGE 104 Ia 79 publizierten Entscheid des
Bundesgerichts anführt, ist ihr entgegenzuhalten, dass es dort nur um
Formalitäten des Kirchenaustritts ging; zum partiellen Kirchenaustritt
hatte sich das Bundesgericht nicht geäussert. Soweit es schliesslich um
das Recht geht, seine religiöse Überzeugung zu verschweigen, verzichtet
eine förmlich den Austritt aus den lokalen kirchlichen Körperschaften
erklärende Person von sich aus auf absolute Geheimhaltung; der Austritt
ohne derartige Erklärung ist im System der Mitgliedschaftspräsumption,
welches das Bundesgericht seit langem anerkannt hat (vgl. BGE 31 I 81
E. 2 S. 88; 55 I 113 E. 2 S. 126; Urteil vom 14. November 1978, ZBl
80/1979 S. 78 ff. E. 2), gar nicht möglich. Gewiss kann die Person von
den Behörden nicht verpflichtet werden, auch eine Austrittserklärung
bezüglich der Religionsgemeinschaft abzugeben. Es ist jedoch auf dem
Boden von rechtlichen Grundlagen wie den im Kanton Luzern geltenden
auch nicht verfassungswidrig, wenn die Behörden eine Austrittserklärung
wie die vorliegende als unvollständig und damit unbeachtlich betrachten
(vgl. BGE 52 I 108 E. 3 S. 118 f.).