Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 I 402



129 I 402

36. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen
Abteilung i.S. Schweizerische Vereinigung für Straflosigkeit des
Schwangerschaftsabbruchs und Mitb. gegen Gesundheitsdirektion des Kantons
Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)

    1P.561/2002 vom 14. Oktober 2003

Regeste

    Zürcher Richtlinien für den straflosen Schwangerschaftsabbruch;
Art. 49 Abs. 1 BV, Art. 119 StGB.

    Vorrang des Bundesrechts (E. 2).

    Es ist mit der Bestimmung von Art. 119 Abs. 1 StGB nicht vereinbar,
für einen Schwangerschaftsabbruch nach der 12. Woche über die ärztliche
Begutachtung durch den behandelnden Arzt hinaus mittels kantonaler
Richtlinien eine Zweitbeurteilung durch einen Facharzt zu verlangen,
welcher eine schwerwiegende körperliche Schädigung oder eine schwere
seelische Notlage der betroffenen Frau bestätigt (E. 3).

Sachverhalt

    Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich erliess im September
2002 die "Richtlinien für den straflosen Schwangerschaftsabbruch nach
den Bestimmungen des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB)". Diese
Richtlinien basieren auf den Art. 118-120 StGB und haben, soweit im
vorliegenden Fall von Bedeutung, folgenden Wortlaut:

      "1. Voraussetzungen

       Der Abbruch einer Schwangerschaft ist straflos, wenn die folgenden

       Voraussetzungen erfüllt sind:

    - eine schwangere Frau stellt innerhalb von 12 Wochen seit Beginn der

         letzten Periode ein schriftliches Gesuch, in dem sie eine Notlage

         geltend macht (...);

    - der Schwangerschaftsabbruch nach der 12. Schwangerschaftswoche ist

         nach ärztlichem Urteil notwendig, um von der betroffenen Frau

         eine schwerwiegende körperliche Schädigung oder eine schwere

         seelische Notlage abzuwenden;

    - die Ärztin/der Arzt verfügt über die entsprechende Bewilligung der

         Gesundheitsdirektion;

    - es erfolgt auf dem offiziellen Formular eine Meldung an die

         Gesundheitsdirektion.

       2. Bewilligung Die Gesundheitsdirektion erteilt einer

       Ärztin/einem Arzt die Bewilligung zum Praktizieren des straflosen

       Schwangerschaftsabbruchs auf Gesuch hin.  Die Bewilligung wird

       erteilt, wenn:

    - die Ärztin/der Arzt eine nicht eingeschränkte

         Berufsausübungsbewilligung im Kanton Zürich besitzt und

    - sich schriftlich verpflichtet, die mit der Bewilligung verbundenen

         Auflagen einzuhalten.

       Bei Verstössen gegen diese Richtlinien kann die Bewilligung zum

       Praktizieren des straflosen Schwangerschaftsabbruchs entzogen

       werden.  Zugelassen sind die Spitäler mit einer gynäkologischen

       Klinik gemäss der jeweils geltenden Spitalliste des Kantons

       Zürich.  3. Durchführung Für das obligatorische schriftliche

       Gesuch der schwangeren Frau kann das von der Gesundheitsdirektion

       herausgegebene Formular verwendet werden. (...)  Anlässlich des

       eingehenden Beratungsgesprächs ist der schwangeren Frau ein

       Exemplar des von der Gesundheitsdirektion herausgegebenen Leitfadens

       auszuhändigen. (...)  Ist die schwangere Frau unter 16 Jahren, muss

       sich die Ärztin/der Arzt zudem vergewissern, dass sie sich für eine

       Zweitmeinung an eine für Jugendliche spezialisierte Beratungsstelle

       gewandt hat. (...)  Für einen Schwangerschaftsabbruch nach der

       12. Woche ist eine Zweitbeurteilung durch eine entsprechende

       Fachärztin/einen entsprechenden Facharzt einzuholen, die/der

       eine schwerwiegende körperliche Schädigung oder eine schwere

       seelische Notlage der betroffenen Frau bestätigt. Diese ist in

       der Krankengeschichte abzulegen.  (...)"

    Die Schweizerische Vereinigung für Straflosigkeit des
Schwangerschaftsabbruchs und weitere Mitbeteiligte führen beim
Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde und beantragen die Aufhebung von
Ziff. 3 Abs. 4 der genannten Richtlinien. Sie rügen im Wesentlichen eine
Verletzung des Vorrangs des Bundesrechts im Sinne von Art. 49 Abs. 1 BV,
weil die angefochtene Bestimmung der Richtlinien mit Art. 119 Abs. 1 StGB
in Widerspruch stehe.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt die angefochtene
Bestimmung auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Die Beschwerdeführer rügen zur Hauptsache eine Verletzung
des Vorrangs des Bundesrechts im Sinne von Art. 49 Abs. 1 BV und
machen geltend, die angefochtene Bestimmung der Zürcher Richtlinien zum
straflosen Schwangerschaftsabbruch stehe mit der abschliessenden Regelung
von Art. 119 Abs. 1 StGB im Widerspruch. Angesichts der Bundesregelung,
welche den straflosen Schwangerschaftsabbruch nach der 12. Woche einzig vom
ärztlichen Urteil über die medizinische oder sozial-medizinische Indikation
abhängig macht, sei es den Kantonen verwehrt, hierfür eine Zweitbeurteilung
durch eine entsprechende Fachperson zu verlangen. Demgegenüber wendet
die Gesundheitsdirektion ein, dass der Ausdruck "nach ärztlichem Urteil"
in Art. 119 Abs. 1 StGB sehr wohl Raum für eine Beurteilung durch einen
weiteren als den behandelnden Arzt belasse.

    Der Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts nach Art. 49
Abs. 1 BV (Art. 2 ÜbBest. aBV) schliesst in Sachgebieten, welche die
Bundesgesetzgebung abschliessend regelt, eine Rechtssetzung durch die
Kantone aus. In Sachgebieten, die das Bundesrecht nicht abschliessend
ordnet, dürfen die Kantone nur solche Vorschriften erlassen, die nicht
gegen den Sinn und Geist des Bundesrechts verstossen und dessen Zweck
nicht beeinträchtigen oder vereiteln. Der Grundsatz der derogatorischen
Kraft des Bundesrechts kann auch unter der Herrschaft der neuen
Bundesverfassung als verfassungsmässiges Individualrecht angerufen
werden. Er bezieht sich gleichermassen auf Verwaltungsverordnungen wie die
angefochtenen Richtlinien; es ist daher unerheblich, dass die Richtlinien
lediglich administrativer Natur sind und keine strafrechtlichen Normen
darstellen. Das Bundesgericht prüft mit freier Kognition, ob die kantonale
Norm mit dem Bundesrecht in Einklang steht (BGE 128 I 46 E. 5a S. 54;
127 I 60 E. 4a S. 68, mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.  Für die Beurteilung der Rüge der Verletzung von Art. 49 Abs. 1
BV ist im Folgenden zu prüfen, ob die Bestimmung von Art. 119 Abs. 1 StGB
betreffend den Schwangerschaftsabbruch nach der 12. Woche abschliessenden
Charakter hat und welche Bedeutung ihr nach den üblichen Auslegungsregeln
zukommt. Der Sinngehalt ist danach mit der angefochtenen Bestimmung der
Richtlinien für den Schwangerschaftsabbruch in Beziehung zu setzen.

    3.1  Es kann, was von keiner Seite bestritten wird, davon ausgegangen
werden, dass Art. 119 Abs. 1 StGB - gleichermassen wie Art. 120
Ziff. 1 aStGB (vgl. BGE 114 Ia 452 E. 2a S. 458) - die materiellen
Voraussetzungen für den straflosen Schwangerschaftsabbruch abschliessend
ordnet. Die Kantone sind daher nicht befugt, Bestimmungen zu erlassen,
welche den Schwangerschaftsabbruch zusätzlich erschweren oder weiteren
Voraussetzungen unterstellen.

    3.2  Die Bestimmung von Art. 119 Abs. 1 StGB hat in den drei Sprachen
den folgenden Wortlaut:

      "Der Abbruch einer Schwangerschaft ist straflos, wenn er nach

       ärztlichem Urteil notwendig ist, damit von der schwangeren Frau

       die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder einer

       schweren seelischen Notlage abgewendet werden kann.  Die Gefahr muss

       umso grösser sein, je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist.

       L'interruption de grossesse n'est pas punissable si un avis médical

       démontre qu'elle est nécessaire pour écarter le danger d'une

       atteinte grave à l'intégrité physique ou d'un état de détresse

       profonde de la femme enceinte. Le danger devra être d'autant

       plus grave que la grossesse est avancée.  L'interruzione della

       gravidanza non è punibile se, in base al giudizio di un medico,

       è necessaria per evitare alla gestante il pericolo di un grave

       danno fisico o di una grave angustia psichica. Il pericolo deve

       essere tanto più grave quanto più avanzata è la gravidanza."

    Die Beschwerdeführer machen geltend, der Wortlaut der Strafbestimmung
schliesse mit dem Ausdruck "nach ärztlichem Urteil" eine zweite,
obligatorische Begutachtung klar aus. Soweit der Bundesgesetzgeber eine
solche hätte vorschreiben wollen, hätte er dies ausdrücklich angemerkt,
zumal die Frage der Zweitbegutachtung in den langen Diskussionen äusserst
umstritten gewesen war. Demgegenüber hält die Gesundheitsdirektion dafür,
der Begriff "nach ärztlichem Urteil" sei weiter und nenne lediglich
die Forderung nach ärztlicher Begutachtung, umschreibe indessen nicht
abschliessend, wie dieses ärztliche Urteil zustande komme; die Norm lasse
Raum dafür, eine zweite ärztliche Beurteilung vorzuschreiben und das
"ärztliche Urteil" gesamthaft von zwei Ärzten zustande kommen zu lassen.

    Die Bestimmung von Art. 119 Abs. 1 StGB enthält mit dem Wortlaut
"nach ärztlichem Urteil" eine abstrakte Formulierung, die die
Möglichkeit einer Begutachtung durch einen zweiten Arzt nicht zwingend
ausschliesst. Deutlicher sprechen sich demgegenüber der französische und
der italienische Wortlaut aus. Hier ist die Rede von "un avis médical"
in der Einzahl bzw. von "in base al giudizio di un medico" ebenfalls
im Singular. Diese gleichermassen massgebenden Fassungen weisen darauf
hin, dass für einen Schwangerschaftsabbruch nach der 12. Woche keine
Zweitbeurteilung verlangt und der Schwangerschaftsabbruch demnach nicht
von einer zweiten Begutachtung abhängig gemacht werden sollte.

    3.3  Ausgangspunkt für die Revision der StGB-Bestimmungen betreffend
den Schwangerschaftsabbruch bildete der Bericht der Kommission für
Rechtsfragen des Nationalrates zur Parlamentarischen Initiative Haering
Binder betreffend Schwangerschaftsabbruch (BBl 1998 S. 3005). Die
Kommission zeichnete die neue Regelung mit dem Mehrheitsantrag vor,
der mit der heutigen Gesetzesformulierung weitgehend übereinstimmt
(S. 3020). Sie führte in Bezug auf den Vorschlag, der dem heutigen Art. 119
Abs. 1 StGB entspricht, aus, das Verfahren werde gegenüber der damaligen
Praxis dadurch vereinfacht, dass kein zweites ärztliches Gutachten mehr
eingeholt werden müsse (Ziff. 41, S. 3013); der Arzt oder die Ärztin müsse
sich als Vertrauensperson der schwangeren Frau über die Rechtfertigung
des Schwangerschaftsabbruchs vergewissern (Ziff. 422, S. 3015). Der
Bundesrat, der den Vorschlag der Kommission ablehnte, nahm in seinem
Bericht (BBl 1998 S. 5376) zur hier umstrittenen Frage nicht Stellung.

    Der Vorschlag der Kommission und deren Äusserungen sind im Lichte
der alten Regelung zu würdigen. Art. 120 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB sah die
Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs bei gegebener Indikation durch
einen "patentierten Arzt nach Einholung eines Gutachtens eines zweiten
patentierten Arztes" vor. Dieses Erfordernis war, wie in BGE 114 Ia 452
E. 2b/bb S. 458 ausgeführt, eine der umstrittensten Fragen hinsichtlich
der früheren Strafnorm. Der Umstand, dass die Kommission in ihrem Antrag
in Kenntnis der früheren Rechtslage eine Zweitbegutachtung nicht erwähnte,
spricht zusammen mit den erwähnten Erläuterungen dafür, dass mit einem
qualifizierten Schweigen auf eine solche verzichtet werden sollte.

    Die parlamentarischen Beratungen bestätigen dieses Ergebnis
(vgl. allgemein zur Debatte im Nationalrat AB 1998 N 1989, 2000 N 1425
und 2001 N 183). Diejenigen Mitglieder des Nationalrates, welche dem
Vorschlag der Kommission folgten, hatten kaum Anlass zu entsprechenden
Äusserungen. Der Minderheitsantrag II übernahm mit der Formulierung
"nach ärztlichem Urteil" den Kommissionsantrag (vgl. Minderheit II
Sandoz Suzette et al., AB 1998 N 2006), der Antrag Ducrot sprach vom
Schwangerschaftsabbruch "durch einen zur Berufsausübung zugelassenen Arzt
(...), der unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen
Verhältnisse der schwangeren Frau zum Schluss kommt ..." (AB 1998 N
2007). Frau Nationalrätin Sandoz führte zum Ausdruck "nach medizinischem
Urteil" bzw. "sur un avis médical" aus: "Par rapport au droit actuel,
la proposition de minorité II supprime l'avis conforme et se contente
de l'avis du médecin qui procédera à l'interruption. C'est lui qui
prend la responsabilité de la pesée d'intérêts et qui, par conséquent,
prend la responsabilité" (AB 1998 N 2009). Frau Nationalrätin Ducrot
fügte an, "que l'appréciation de la situation est le fait du médecin
intervenant ... et que l'avis d'un autre médecin n'est pas requis"
(AB 1998 N 2010). Diese nationalrätlichen Auffassungen, wenngleich zu
Minderheitsanträgen geäussert, weisen darauf hin, dass auch hinsichtlich
der schliesslich obsiegenden Formulierung auf eine Zweitbegutachtung
verzichtet werden sollte. Daran vermag der mit starker Minderheit
abgelehnte Antrag Föhn nichts zu ändern, weil er nicht direkt Art. 119
StGB, sondern eine Anpassung des Krankenversicherungsgesetzes betraf
(AB 1998 N 2017 und 2018).

    In der Diskussion des Ständerates (vgl. allgemein AB 2000 S 406,
533 und 2001 S 6) wurde darauf hingewiesen, dass die nach altem Recht
erforderliche Zweitbegutachtung in weiten Kreisen kritisiert oder gar
als "Alibiübung" bezeichnet worden sei (Votum Marty, AB 2000 S 408). Im
Übrigen wurden in Bezug auf die in Art. 119 Abs. 2 StGB geregelte
Fristenlösung Bedenken geäussert, ob der behandelnde Arzt zusätzlich zur
Intervention vorher die Beratung vornehmen könne. Ständerat David meinte,
der Mehrheitsantrag kranke daran, dass der abtreibende Arzt gleichzeitig
Berater sein solle (AB 2000 S 545), und er befürwortete eine Lösung, dass
unabhängig vom abtreibenden Arzt eine qualitativ hochstehende Beratung
vorgenommen werde (AB 2000 S 551). Ständerat Bieri fügte an, nach dem
Mehrheitsantrag stehe der behandelnde Arzt in einem unmittelbaren, auch
finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zur Frau (AB 2000 S 546). Ähnlich
äusserte sich Bundesrätin Metzler (AB 2000 S 548). - Diese Bedenken
betrafen indessen Abs. 2 und setzten sich nicht durch, weshalb ihnen
im Hinblick auf die Auslegung von Art. 119 Abs. 1 StGB keine Bedeutung
zugesprochen werden kann.

    3.4  Die Beschwerdeführer verweisen zur Unterstützung ihrer Auffassung
auf entsprechende Weisungen anderer Kantone, die ausdrücklich oder
sinngemäss von einer obligatorischen Zweitbegutachtung absehen; einzig die
Kantone Thurgau und Glarus sollen eine solche verlangen. Solche kantonale
Richtlinien mögen einen Hinweis darauf geben, wie Art. 119 Abs. 1 StGB in
Bezug auf die umstrittene Frage verstanden wird; indessen kommt ihnen für
die Auslegung der Bestimmung keine entscheidende Bedeutung zu. Desgleichen
ist eine kurz gehaltene und offen formulierte Stellungnahme des Bundesamtes
für Justiz zu einer kantonalen Anfrage, auf die die Gesundheitsdirektion
hinweist, nicht ausschlaggebend. Das Gleiche gilt grundsätzlich für
die im sog. Bundesbüchlein zur Volksabstimmung enthaltene Auffassung
des Referendumskomitees, wonach für Abtreibungen von der 12. Woche an
"das heute vorgeschriebene Gutachten eines zweiten Arztes stillschweigend
abgeschafft" werde; sie deutet aber auch klar darauf hin, dass das Fehlen
einer weitern Voraussetzung in Form einer zweiten ärztlichen Begutachtung
im Vergleich mit dem alten Gesetzestext als qualifiziertes Schweigen
verstanden wurde.

    3.5  Für eine gesamthafte Beurteilung der Vereinbarkeit der
angefochtenen Richtlinienbestimmung mit dem Bundesrecht ist der
Wortlaut von Art. 119 Abs. 1 StGB in den drei massgeblichen Fassungen
vorab von Bedeutung; aus dem französischen und italienischen Text mit
den Singularformulierungen "un avis médical" und "in base al giudizio
di un medico" ergibt sich der Ausschluss einer Zweitbegutachtung. Von
entscheidendem Gewicht ist ferner der Umstand, dass der Gesetzgeber in
Kenntnis von Art. 120 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB und der darum geführten
Diskussionen auf die Nennung einer Zweitbegutachtung verzichtete
und diese damit nicht zur Voraussetzung für die Straflosigkeit des
Schwangerschaftsabbruchs machen wollte. Dies wird schliesslich durch den
Bericht der vorberatenden Kommission des Nationalrates sowie verschiedene
Äusserungen im Nationalrat und Ständerat bestätigt. Es liegt daher ein
qualifiziertes Schweigen vor.

    Daraus ergibt sich, dass mit der abschliessenden Regelung von Art. 119
Abs. 1 StGB für den Schwangerschaftsabbruch nach der 12. Woche auf eine
Zweitbegutachtung verzichtet und der Schwangerschaftsabbruch nicht von
einer zweiten ärztlichen Stellungnahme abhängig gemacht wurde. Damit
erweist sich die Rüge, die angefochtene, eine Zweitbegutachtung erfordernde
Bestimmung der zürcherischen Richtlinien zum Schwangerschaftsabbruch sei
mit Art. 119 Abs. 1 StGB unvereinbar und verletze daher Art. 49 Abs. 1 BV,
als begründet.