Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 I 151



129 I 151

16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft sowie Obergericht des Kantons Aargau
(staatsrechtliche Beschwerde)

    1P.279/2002 vom 6. November 2002

Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK; Art. 32 Abs.  2 BV; §
107 Abs. 2 StPO/AG; Anspruch auf Befragung des minderjährigen Opferzeugen.

    Der Anspruch, dem Belastungszeugen Fragen stellen zu können, ist
dann absoluter Natur, wenn dem Zeugnis ausschlaggebende Bedeutung zukommt
(E. 3.1).

    Dieser Anspruch kann mit Rücksicht auf den Schutz des Opfers allenfalls
auch ohne Konfrontation mit dem Angeklagten oder direkte Befragung des
Opfers durch den Verteidiger gewährleistet werden (E. 3.2).

    Die Beantwortung von Fragen der Verteidigung an den ausschlaggebenden
Belastungszeugen darf nicht mittels antizipierter Beweiswürdigung für
nicht notwendig erklärt werden. Schliessen es die berechtigten Interessen
namentlich des minderjährigen Opfers aus, dass ihm der Angeklagte Fragen
stellen lässt, darf auf die entsprechende Zeugenaussage grundsätzlich
nicht abgestellt werden (E. 4).

    Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Ersatzmassnahmen für
die direkte Konfrontation in Frage kommen, um die Verteidigungsrechte
des Angeschuldigten so weit als möglich zu gewährleisten und gleichzeitig
den Interessen des Opfers gerecht zu werden (E. 5).

Sachverhalt

    A. werden sexuelle Handlungen mit B.  (geboren 1991) vorgeworfen; zu
diesen soll es zwischen Januar 1997 und Mai 1999 gekommen sein. B. wurde
aufgrund der Angaben seiner Mutter am 10. Juni 1999 durch eine Beamtin
der Kantonspolizei vor laufender Videokamera befragt. Den Antrag des
erst später mit den ihm gegenüber erhobenen Vorwürfen konfrontierten
Angeschuldigten, seinen Rechtsvertreter als amtlichen Verteidiger
einzusetzen, lehnte die zuständige Untersuchungsbeamtin ab. Mit Urteil
des Bezirksgerichts Y. vom 20. März 2001 wurde A. (teilweise versuchter)
sexueller Handlungen mit einem Kind schuldig gesprochen und mit zehn
Monaten Gefängnis bestraft, ohne dass B. einvernommen worden wäre.

    Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte gelangten mit
Berufung an das Obergericht des Kantons Aargau. Zum Verfahren verlangte A.,
der Zeuge B. sei in geeigneter Form durch das Gericht einzuvernehmen. Das
Obergericht forderte den Angeklagten auf, allfällige Ergänzungsfragen an
B. schriftlich zu stellen. Nachdem dem Verteidiger Gelegenheit gegeben
worden war, sich die Videoaufnahme der Kantonspolizei vom 10. Juni
1999 vorführen zu lassen, reichte er die Ergänzungsfragen ein. Am 27.
Februar 2002 wurde die Berufung der Staatsanwaltschaft gutgeheissen und
dem Angeklagten die Gewährung des bedingten Strafvollzuges verweigert. Die
Berufung des Angeklagten wurde abgewiesen. Das Obergericht erachtete dabei
die Beantwortung der von der Verteidigung vorgeschlagenen Ergänzungsfragen
als nicht notwendig.

    Gegen das Urteil des Obergerichts erhebt A.  staatsrechtliche
Beschwerde.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.  In der Hauptsache rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von
Art. 29 Abs. 2 BV sowie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Er habe Anspruch
darauf, dem Belastungszeugen Fragen stellen zu dürfen. Zu einem fairen
Verfahren gehöre Waffengleichheit. Es komme nicht darauf an, ob der
urteilenden Instanz die vorgelegten Fragen sinnvoll erscheinen.

    3.1  Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch des
Angeschuldigten, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein
besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6
Ziff. 1 EMRK. Entsprechend sind Beschwerden wie die vorliegende unter dem
Blickwinkel beider Bestimmungen zu prüfen (Urteil des EGMR i.S. Kostovski
gegen Niederlande vom 20. November 1989, Serie A, Bd. 166, Ziff. 39; BGE
127 I 73 E. 3f S. 80; 125 I 127 E. 6a S. 131 f., je mit Hinweisen). Mit
der Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK soll ausgeschlossen werden,
dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne
dass dem Beschuldigten wenigstens einmal angemessene und hinreichende
Gelegenheit gegeben wird, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen
an den Zeugen zu stellen (Urteil des EGMR i.S. Unterpertinger gegen
Österreich vom 24. November 1986, Serie A, Bd. 110, Ziff. 33; BGE 125
I 127 E. 6c/cc S. 135; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen
Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., Zürich 1999, Rz. 477). Dieser Anspruch
wird als Konkretisierung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) auch
durch Art. 32 Abs. 2 BV gewährleistet (Urteil 1P.650/2000 vom 26. Januar
2001, publ. in: Pra 90/2001 Nr. 93 S. 545, E. 3b). Dabei ist festzuhalten,
dass das Abstellen auf Aussagen aus der Voruntersuchung mit Konvention
und Bundesverfassung unter Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte
vereinbar ist (Urteil des EGMR i.S. Asch gegen Österreich vom 26. April
1991, Serie A, Bd. 203, Ziff. 27; BGE 125 I 127 E. 6c/aa S. 134). Das Ziel
der Norm ist die Wahrung der Waffengleichheit (JOCHEN ABR. FROWEIN/WOLFGANG
PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Aufl.,
Kehl usw. 1996, Art. 6 EMRK Rz. 200).

    Dem Anspruch, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, kommt
grundsätzlich ein absoluter Charakter zu. Demgegenüber ist das Recht,
Entlastungszeugen zu laden und zu befragen, relativer Natur. Der Richter
hat insoweit nur solche Beweisbegehren, Zeugenladungen und Fragen zu
berücksichtigen und zuzulassen, die nach seiner Würdigung rechts- und
entscheiderheblich sind (BGE 125 I 127 E. 6c/bb S. 135). Das strenge
Erfordernis des Anspruchs auf Befragung von Belastungszeugen erfährt in
der Praxis eine gewisse Abschwächung; es gilt uneingeschränkt nur in all
jenen Fällen, bei denen dem streitigen Zeugnis ausschlaggebende Bedeutung
zukommt, dieses also den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt
(Urteil des EGMR i.S. Delta gegen Frankreich vom 19. Dezember 1990,
Serie A, Bd. 191-A, Ziff. 37; BGE 125 I 127 E. 6c/dd S. 135 f.; 124 I
274 E. 5b S. 286).

    3.2  § 107 Abs. 2 des Gesetzes über die Strafrechtspflege des
Kantons Aargau vom 11. November 1958 (StPO; SAR 251.100) schreibt vor,
dass Kinder, die an Unzuchtsdelikten Erwachsener beteiligt sind, ohne
zwingende Gründe nicht mehr als einmal einvernommen werden sollen. Dies
im Wissen um die Gefahr, dass Kindern durch wiederholte Einvernahmen
gleich grosser, wenn nicht gar grösserer Schaden zugefügt werden kann
als durch das vermeintliche Delikt selbst (BEAT BRÜHLMEIER, Aargauische
Strafprozessordnung, Kommentar, 2. Aufl., Aarau 1980, § 107 N. 1).
Zwingende Gründe im Sinne dieser Bestimmung können namentlich die
Verteidigungsrechte des Angeschuldigten sein. Damit es möglichst bei
einer Einvernahme bleibt, müssen die involvierten Behörden schon sehr früh
miteinander Kontakt aufnehmen, um die weitere Vorgehensweise aufeinander
abzustimmen (HANS-JÖRG BART, Kinder als Zeugen im Strafverfahren -
insbesondere als Opfer sexuellen Missbrauchs, in: Österreichische
Juristenzeitung 1998 S. 818 ff., insb. S. 822).

    Gemäss Art. 5 Abs. 4 OHG (SR 312.5) vermeiden die Behörden
eine Begegnung des Opfers mit dem Beschuldigten, wenn das Opfer dies
verlangt. Vorbehalten bleibt der Fall, dass der Anspruch des Beschuldigten
auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann
(Art. 5 Abs. 5 OHG). Nach Art. 7 Abs. 2 OHG kann das Opfer die Aussage zu
Fragen verweigern, die seine Intimsphäre betreffen. Gemäss Art. 10b Abs. 1
OHG (in der Fassung des Bundesgesetzes vom 23. März 2001, in Kraft seit dem
1. Oktober 2002; AS 2002 S. 2998) dürfen die Behörden das minderjährige
Opfer bei Straftaten gegen die sexuelle Integrität dem Beschuldigten
nicht gegenüberstellen. Damit kommt es nicht darauf an, ob die oder der
Minderjährige (im Sinne von Art. 10a OHG) einen entsprechenden Antrag
stellt. Auch hier gilt ein Vorbehalt für den Fall, dass der Anspruch des
Beschuldigten auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet
werden kann (Art. 10b Abs. 3 OHG). Haben Kinder als Opfer über erlebte
Straftaten auszusagen und werden sie dadurch erneut mit schmerzhaften
Erinnerungen an erlittene Verletzungen und Übergriffe konfrontiert,
kann dies zur erneuten Traumatisierung bzw. zur Sekundärviktimisierung
führen (Urteil 1P.549/2001 vom 11. Januar 2002, publ. in: Pra 91/2002 Nr.
99 S. 571, E. 3.7 mit zahlreichen Literaturhinweisen). Entsprechend
hält auch der Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass die Interessen
der Verteidigung und diejenigen des Opfers im Lichte von Art. 8 EMRK
gegeneinander abgewogen werden müssen (Urteil des EGMR i.S. P.S. gegen
Deutschland vom 20. Dezember 2001, publ. in: EuGRZ 2002 S. 37 ff.,
Ziff. 22 S. 38). Besonders minderjährige Opfer von Sexualdelikten sind im
Strafverfahren zu schützen. Deshalb kann die Garantie von Art. 6 Ziff. 3
lit. d EMRK allenfalls auch ohne Konfrontation mit dem Angeklagten oder
direkte Befragung des Opfers durch den Verteidiger gewährleistet werden
(Urteil des EGMR i.S. S.N. gegen Schweden vom 2. Juli 2002, Ziff. 47
und 52).

Erwägung 4

    4.

    4.1  Im vorliegenden Fall haben sich die kantonalen Gerichte bei der
Feststellung des Sachverhalts auf Teilgeständnisse des Angeschuldigten
sowie die Videoeinvernahme des Geschädigten durch die Kantonspolizei vom
10. Juni 1999 gestützt. Diese Einvernahme ist erfolgt, noch bevor der
Angeklagte davon Kenntnis erhalten hat, dass die Strafverfolgungsbehörden
gegen ihn ermitteln.

    Das Bezirksgericht Y. hat festgehalten, die Aussagen des Opfers
seien geeignet, dem Gericht die Überzeugung zu verschaffen, dass sich die
dem Angeklagten vorgeworfenen Berührungen und Vorkommnisse tatsächlich
und vollumfänglich verwirklicht haben, soweit sie der Geschädigte
detailliert geschildert und mit einem bestimmten Ereignis in Verbindung
gebracht habe. Der Angeklagte habe die Möglichkeit gehabt, sich mit dem
Videoband über die Anhörung des Opfers auseinanderzusetzen. Der Antrag der
Verteidigung auf Einvernahme des Belastungszeugen sei deshalb abzuweisen.

    Auch vor Obergericht hat der Angeschuldigte den Antrag gestellt,
es sei das Opfer in geeigneter Form durch das Gericht einzuvernehmen
und es sei der Verteidigung anschliessend Gelegenheit zu geben, weitere
Beweisanträge zu stellen. Mit Beschluss vom 13. November 2001 hat
das Obergericht dem Angeklagten eine Frist angesetzt, um schriftliche
Ergänzungsfragen an das Opfer einzureichen. Zu diesem Zwecke hat sich
der Verteidiger die Videoaufzeichnung der Einvernahme vom 10. Juni
1999 ansehen können. Daraufhin hat er dem Obergericht beantragt, einige
Fragenkomplexe klären zu lassen. Die vorgeschlagenen Fragen seien als
Einstieg zu verstehen und es sei naturgemäss nötig, anhand von geeigneten
Anschlussfragen die Unklarheiten auszuräumen. Dies insbesondere in Bezug
auf die behaupteten Vorfälle im Europapark Rust und in der Wohnung des
Angeklagten, welche dieser bestreite. Es sei beispielsweise denkbar,
dass der Angeklagte allfällige Berührungen des Kindes auf einer "wilden"
Bahn nicht als sexuelle Handlungen aufgefasst habe. Zudem sei die Frage
zu klären, ob und inwieweit das Kind in seinem Aussageverhalten von seiner
Mutter beeinflusst worden sein könnte.

    Das Obergericht hat auf die erneute Einvernahme des Opfers verzichtet
und im angefochtenen Entscheid auf die Videoeinvernahme vom 10. Juni 1999
abgestellt. Es hat festgehalten, das Kind vermöge in zeitlicher Hinsicht
die einzelnen Vorkommnisse mit einem äusseren Ereignis (Computer-Spiele,
Übernachten, [Europapark] Rust u.a.) in Verbindung zu bringen. Dies sei
massgebend dafür, dass sich die geschilderten Ereignisse tatsächlich
so abgespielt haben. Die vorinstanzliche Annahme von mindestens
sechs Fällen sei durch die Videoaussagen belegt. Es stehe fest, dass
es auch am Wohnort des Angeklagten zu sexuellen Berührungen am Penis
gekommen sei. Das Obergericht hat die Aussagen des Kindes gewürdigt und
festgehalten, die beantragten Ergänzungsfragen seien völlig irrelevant,
ja rechtsmissbräuchlich und nicht geeignet, die Glaubhaftigkeit der
Aussagen des Geschädigten zu überprüfen oder deren Beweiswert in Frage zu
stellen. Das Opfer habe sich deutlich und glaubwürdig zu den verschiedenen
Vorfällen geäussert. Aufgrund der Ergänzungsfragen seien keinerlei neue
und relevante Erkenntnisse zu erwarten.

    4.2  Zur Wahrung der Verteidigungsrechte ist erforderlich, dass
die Gelegenheit der Befragung angemessen und ausreichend ist und die
Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann. Der Beschuldigte
muss namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage
prüfen und den Beweiswert auf die Probe und in Frage stellen zu können
(Urteil des EGMR i.S. Lüdi gegen die Schweiz, Serie A, Bd. 238,
Ziff. 49; Urteil 1P.650/2000 vom 26. Januar 2001, publ. in: Pra 90/2001
Nr. 93 S. 545, E. 3b; BGE 125 I 127 E. 6c/ff S. 137). Dabei kann es
unter Umständen genügen, dass ein speziell ausgebildeter Polizeibeamter
dem minderjährigen Opferzeugen im Verlaufe der Strafuntersuchung im
Einvernehmen mit dem Verteidiger Ergänzungsfragen stellt (Urteil des EGMR
i.S. S.N. gegen Schweden, aaO, Ziff. 50). Die Fragen der Verteidigung
sind nur zuzulassen, wenn sie irgendwie erheblich sind; die Abweisung
offensichtlich untauglicher Beweisanträge verletzt die verfassungsmässigen
Rechte des Angeklagten nicht (BGE 124 I 274 E. 5b S. 285; 105 Ia 396 E.
3b S. 398). Um ein faires Verfahren sicherzustellen, sind Schwierigkeiten,
die der Verteidigung durch eine Einschränkung ihrer Rechte während
der Untersuchung entstehen, durch die von den Gerichten durchgeführten
Verfahrensschritte hinreichend auszugleichen (Urteile des EGMR i.S. van
Mechelen gegen Niederlande vom 23. April 1997, Recueil CourEDH 1997-III S.
711, Ziff. 54, sowie i.S. P.S. gegen Deutschland, aaO, Ziff. 23).

    4.3  Im vorliegenden Fall hat das Obergericht den grundsätzlich
absoluten Charakter des Anspruchs, Fragen an den Belastungszeugen zu
stellen bzw. stellen zu lassen, verkannt. Es hat die Beantwortung der
vorgeschlagenen Fragen im Ergebnis mittels antizipierter Beweiswürdigung
für nicht notwendig erklärt. Dieses Vorgehen hält jedoch bei einem
Belastungszeugen nicht stand, wenn dessen Aussagen als das einzige
Beweismittel die Grundlage des Urteils bilden (vgl. oben E. 3.1). Durch die
ausführliche Würdigung der Aussagen des Opferzeugen mit Blick auf einige
der gestellten Fragen ist das Obergericht implizit davon ausgegangen,
dass die Ergänzungsfragen jedenfalls nur teilweise völlig irrelevant
sind. Es hätte sie aus diesem Grund nicht einfach gesamthaft für unzulässig
erklären dürfen. Diese Beurteilung stellt den Schutz des Opfers keineswegs
kurzerhand in Frage (vgl. oben E. 3.2 und unten E. 5 sowie Art. 10d Abs. 1
lit. a OHG). Schliessen es die berechtigten Interessen namentlich des
minderjährigen Opfers aus, dass ihm der Angeklagte Fragen stellen lässt,
kann dies nicht zur Folge haben, dass der Anspruch des Letzteren auf
ein faires Verfahren aufgegeben wird. In einem solchen Fall darf auf
die entsprechende Zeugenaussage grundsätzlich nicht abgestellt und der
Angeklagte nicht (allein) gestützt darauf verurteilt werden (BGE 125
I 127 E. 10a S. 157; Urteil 6P.50/2001 vom 4. Juli 2001, E. 3e). Das
ausnahmsweise Abstellen auf derartige Zeugenaussagen trotz fehlender
Befragung (vgl. dazu BGE 125 I 127 E. 6c/ee S. 136; 124 I 274 E. 5b
S. 285 f.) fällt im vorliegenden Fall schon deshalb ausser Betracht, weil
die kantonalen Behörden den Umstand selbst zu vertreten haben, dass der
Angeklagte seine Rechte nicht (rechtzeitig) hat wahrnehmen können. Die
kantonalen Instanzen hätten bei Verzicht auf die Erhebung weiterer
Beweise dem Beschwerdeführer entweder die Möglichkeit geben müssen, den
Opferzeugen in geeigneter Weise befragen zu lassen, oder den Angeklagten
nur der seinerseits nicht bestrittenen deliktischen Handlungen schuldig
erklären dürfen. Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen. Im Übrigen
ist mit grosser Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass angesichts des
Alters des Kindes dessen (ergänzende) Aussagen mehr als drei Jahre nach
der ersten Einvernahme vom 10. Juni 1999 bzw. teilweise mehr als fünf Jahre
nach den in Frage stehenden Vorfällen überhaupt nicht mehr als taugliches
Beweismittel gelten können (vgl. Urteil 1P.549/2001 vom 11. Januar 2002,
publ. in: Pra 91/2002 Nr. 99 S. 571, E. 4.1).

Erwägung 5

    5.  Nach dem Gesagten könnte offen bleiben, ob der Umstand, dass
dem Angeklagten lediglich Gelegenheit gegeben worden ist, schriftlich
Ergänzungsfragen zu stellen, als solcher bereits Art. 6 Ziff. 3 lit. d
EMRK verletzt. Aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigt es sich
jedoch, diesen Punkt zu erörtern. Gemäss dem am 1. Oktober 2002 in
Kraft getretenen Art. 10c Abs. 2 OHG ist die erste Einvernahme im
Beisein eines Spezialisten von einem zu diesem Zweck ausgebildeten
Ermittlungsbeamten durchzuführen. Die Parteien üben ihre Rechte durch die
befragende Person aus, wobei sich der Angeschuldigte in einem anderen
Raum aufhalten muss. Die Einvernahme wird auf Video aufgenommen. Nach
Art. 10c Abs. 3 OHG findet eine zweite Einvernahme unter anderem statt,
wenn der Angeschuldigte bei der ersten Einvernahme seine Rechte nicht hat
wahrnehmen können. Soweit möglich erfolgt die Befragung durch die gleiche
Person, welche die erste Einvernahme durchgeführt hat. Die Videoeinvernahme
wird damit als mögliche Ersatzmassnahme für die direkte Konfrontation von
Bundesrechts wegen vorgesehen. Die Kantone sind deshalb verpflichtet,
die nötige Infrastruktur zur Verfügung zu halten, da diese in gewissen
Konstellationen Voraussetzung dafür ist, dass ein Verfahren überhaupt unter
Einhaltung der bundesrechtlichen Vorgaben sowie der verfassungsmässigen
Garantien durchgeführt werden kann (Urteil 6P.46/2000 vom 10. April 2001,
E. 1c/bb in fine). Dies schliesst nach der Rechtsprechung nicht aus,
dass die Verteidigungsrechte auch durch Einsichtnahme in das Protokoll
und die Möglichkeit, schriftliche Ergänzungsfragen zu stellen, gewahrt
werden können (BGE 125 I E. 6c/dd f. S. 136 f.; 118 Ia 462 E. 5b S. 470;
113 Ia 412 E. 3c S. 422 mit Hinweisen; ARTHUR HAEFLIGER/FRANK SCHÜRMANN,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl., Bern
1999, S. 239). Auch die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates geht
in ihrem Bericht zur parlamentarischen Initiative "Sexuelle Ausbeutung"
vom 23. August 1999 (BBl 2000 S. 3744) davon aus, das rechtliche Gehör
könne allenfalls auch durch den Einsatz traditioneller Mittel gewahrt
werden, etwa mittels Einsicht in die Einvernahmeprotokolle, verbunden mit
der Möglichkeit, ergänzende Fragen zu stellen (BBl 2000 S. 3759). Ein Teil
der Lehre lehnt diese Vorgehensweise demgegenüber ganz ab oder macht sie
von der Zustimmung des Beschuldigten abhängig (vgl. dazu Pra 90/2001 Nr. 93
S. 545, E. 3d in fine mit zahlreichen Hinweisen sowie DORRIT SCHLEIMINGER,
Konfrontation im Strafprozess, Diss. Freiburg, Basel 2001, S. 315 ff.).

    Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Vorgehensweisen
und Ersatzmassnahmen in Frage kommen, um die Verteidigungsrechte des
Angeschuldigten so weit als möglich zu gewährleisten und gleichzeitig
den Interessen des Opfers gerecht zu werden (vgl. Urteil des EGMR
i.S. van Mechelen, aaO, Ziff. 58; EVA WEISHAUPT, Die verfahrensrechtlichen
Bestimmungen des Opferhilfegesetzes, Diss. Zürich 1998, S. 160). Die Wahl
der Ersatzmassnahme ist daher gegebenenfalls gesondert zu begründen.