Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 I 103



129 I 103

11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft Winterthur und Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)

    1P.335/2002 vom 10. Dezember 2002

Regeste

    Anwendbarkeit der Garantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf die
Beschlagnahme von Hanfpflanzen.

    Die zu beurteilende Beschlagnahme lässt sich auf § 96 Abs. 1 StPO/ZH
stützen, da im Gegensatz zur Vernichtung der Hanfpflanzen durch die
Strafverfolgungsbehörden offen bleibt, was mit dem beschlagnahmten Gut
zu geschehen hat (E. 2.1 und 2.2).

    Die angefochtene Beschlagnahme bis zum Abschluss des Strafverfahrens
verhindert die Verwendung der Hanfpflanzen zum vorgesehenen Zweck,
entwertet sie auf diese Weise und schränkt damit die Erwerbstätigkeit
des Beschuldigten für eine unbestimmte Zeitspanne ein. Damit kommt dieser
Beschlagnahme mit Blick auf die EMRK-Rechtsschutzgarantien ähnlich einer
Vernichtungsanordnung der Charakter eines Eingriffs in ein "civil right"
zu (E. 2.3).

    Da die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich keine richterliche
Behörde ist und das Bundesgericht die Garantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK
im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde vorliegend nicht selbst
gewährleisten kann, ist der Beschwerdeführerin der Zugang zu einer
kantonalen gerichtlichen Instanz zu ermöglichen (E. 3).

Sachverhalt

    Die Bezirksanwaltschaft Winterthur führt gegen die Verantwortlichen
einer Gärtnerei eine Strafuntersuchung wegen gewerbsmässiger
Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Mit Verfügung vom
25. März 2002 beschlagnahmte die Bezirksanwaltschaft in dieser Gärtnerei
ca. 15'000 Hanfpflanzen und 41'000 Hanfstecklinge. Sie beliess die
Pflanzen, welche nach der Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes der
Stadtpolizei Zürich einen THC-Gehalt von einem bis zweieinhalb Prozent
aufwiesen, in den Gewächshäusern und ordnete unter anderem an, dass nur
die Kantonspolizei Zürich Zutritt zur Hanfplantage habe. Die Bewässerung
der Pflanzen habe in Absprache mit und in Anwesenheit von Polizeibeamten
zu erfolgen. Gemäss Bestätigung vom 27. März 2002 erklärte die
Verwaltungsratspräsidentin der Gärtnerei ihr Einverständnis zur Vernichtung
eines Teils der beschlagnahmten Hanfplanzen und -stecklinge. Der gegen die
Beschlagnahme erhobene Rekurs an die kantonal letztinstanzlich zuständige
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich blieb erfolglos.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Die Beschwerdeführerin erblickt in der umstrittenen Beschlagnahme
einen Eingriff in zivilrechtliche Ansprüche im Sinne von Art. 6 Ziff. 1
EMRK. Nach ihrer Ansicht sind die angeordneten Massnahmen nicht nur
vorübergehender Natur, sondern führen zu einem irreversiblen Eingriff
in ihre Eigentumsrechte, Vermögensrechte und Erwerbstätigkeit. Es hätten
deshalb die in Art. 6 Ziff. 1 EMRK für ein faires Verfahren vorgesehenen
Garantien beachtet werden müssen. Dies sei in verschiedener Hinsicht nicht
geschehen. So habe nicht ein unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht
entschieden und es habe auch keine öffentliche Verhandlung stattgefunden.

    2.1  Die von der Bezirksanwaltschaft angeordnete und von der
Staatsanwaltschaft geschützte Beschlagnahme stützt sich auf § 96
Abs. 1 des zürcherischen Gesetzes betreffend den Strafprozess vom
4. Mai 1919 (Strafprozessordnung; StPO/ZH). Gemäss dieser Bestimmung
kann der Untersuchungsbeamte Gegenstände und Vermögenswerte, die
als Beweismittel, zur Einziehung oder zum Verfall (Art. 58 ff. StGB)
in Frage kommen, in Beschlag nehmen oder auf andere Weise der Verfügung
ihres Inhabers entziehen. Die Einziehungsbeschlagnahme ist eine vorläufige
strafprozessuale Zwangsmassnahme. Erst die in § 106 ff. StPO/ZH genannten
Behörden haben bei Abschluss des Verfahrens über das Schicksal der
beschlagnahmten Gegenstände definitiv zu entscheiden. Vorsorgliche
bzw. vorläufige Massnahmen, die in Abhängigkeit eines Verfahrens in
der Hauptsache getroffen werden, liegen grundsätzlich ausserhalb des
Geltungsbereichs von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Entscheide der Europäischen
Menschenrechtskommission vom 30. November 1994 i.S. Haser-Tavsanci gegen
Schweiz, publ. in: VPB/59 1995 Nr. 123 S. 996 und vom 10. März 1981 i.S.
X. gegen Belgien, DR 24, S. 198 ff.; Urteile des Bundesgerichts P.1694/87
vom 7. Juli 1988 und 6A.72/1995 vom 30. August 1995, E. 4; JOCHEN
ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention,
EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Kehl usw. 1996, N. 52 zu Art. 6 EMRK S. 191;
MARK VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention,
2. Aufl., Zürich 1999, N. 391 und 402; RUTH HERZOG, Art. 6 EMRK und
kantonale Verwaltungsrechtspflege, Diss. Bern 1995, S. 71 ff.).

    2.2  Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, die umstrittene
Beschlagnahmeverfügung sei in Wirklichkeit keine vorläufige Massnahme
im Sinne von § 96 Abs. 1 StPO/ZH. Dem kann nicht gefolgt werden. Die
sichergestellten Hanfpflanzen sind zwar - als lebende Organismen
- naturgemäss einem stetigen Wachstums- und Veränderungsprozess
unterworfen und können deswegen mit der Zeit für den Eigentümer -
je nach der angestrebten Nutzungsart - an Wert einbüssen oder sogar
nutzlos werden. Dies schliesst jedoch eine Beschlagnahme, d.h. eine
die allfällige Einziehung gemäss Art. 58 f. StGB sichernde Massnahme,
nicht aus. Der Umstand, dass Pflanzen Gegenstand der Beschlagnahme sind,
ändert an der Rechtsnatur der Zwangsmassnahme grundsätzlich nichts. Im
von der Beschwerdeführerin zitierten Bundesgerichtsentscheid 1P.775/2000
vom 10. April 2001 (publ. in: ZBl 103/2002 S. 150 ff.) ging es um
eine Anordnung der Bezirksanwaltschaft, beschlagnahmte Hanfpflanzen
und Trockenblumen zu vernichten. In dieser Hinsicht betrachtete das
Bundesgericht Art. 96 Abs. 1 StPO/ZH - auch unter Berücksichtigung einer
Weisung der Staatsanwaltschaft - als unzureichende Rechtsgrundlage und
verneinte mithin die Zuständigkeit der Bezirksanwaltschaft, die Vernichtung
sichergestellten Gutes anzuordnen (s. auch Urteile 1P.699/2000 vom
5. Februar 2001 sowie 6S.561/1997 vom 24. November 1997 mit Besprechung
von NIKLAUS SCHMID, in: Freiburger Zeitschrift für Rechtsprechung
1998, S. 87 ff.). Demgegenüber betrifft der angefochtene Entscheid
eine Einziehungsbeschlagnahme, die den Einziehungsentscheid nicht schon
(faktisch) vorwegnimmt, sondern noch offen lässt, was mit dem eingezogenen
Gut zu geschehen hat. Hierüber hat grundsätzlich der Strafrichter im
Endurteil zu befinden (zur vorgezogenen Einziehung vgl. NIKLAUS SCHMID,
in: ders. [Hrsg.], Einziehung, Organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei,
Kommentar, Bd. I, Zürich 1998, Rz. 80 zu Art. 58 StGB mit Hinweisen).

    Nach dem Gesagten lässt sich die umstrittene Beschlagnahmeverfügung
auf § 96 Abs. 1 StPO/ZH abstützen. Damit ist auch die Zuständigkeit der
Bezirksanwaltschaft - aus der Sicht des kantonalen Rechts - zu bejahen,
wobei offen gelassen werden kann, mit welcher Kognition das Bundesgericht
im vorliegenden Zusammenhang über Auslegung und Anwendung des kantonalen
Prozessrechts zu befinden hat.

    2.3  Im Weiteren ist zu prüfen, ob der umstrittenen Zwangsmassnahme
auch unter dem Blickwinkel der EMRK-Rechtsschutzgarantien lediglich der
Charakter einer vorläufigen Massnahme zukommt. Gegebenenfalls fällt die
strittige Anordnung - wie oben in E. 2.1 ausgeführt worden ist - nicht
in den Anwendungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

    2.3.1  Nach Ansicht der Beschwerdeführerin stellen sich, wenn die
Beschlagnahme länger als einige Wochen dauert, nachteilige Folgen
ein; diese seien definitiv und irreversibel. Die beschlagnahmten
Pflanzen bedürften nicht nur der Bewässerung, sondern weitergehender
Pflege. Fehlende Pflege führe zu "einer schleichenden Zerstörung"
der Pflanzen. Sodann handle es sich bei den sichergestellten
Pflanzen einerseits um so genannte Mutterpflanzen und andererseits um
Stecklinge. Die Mutterpflanzen seien ausschliesslich zur Gewinnung von
Stecklingen gehalten worden. Seien Stecklinge älter als sechs Wochen,
könnten sie nicht mehr als solche verkauft werden. Die Beschwerdeführerin
habe solche Pflanzen jeweils entsorgt. Ihr Betrieb habe im Wesentlichen in
der Produktion von Stecklingen bestanden. Über sechs Wochen alte Stecklinge
hätten für die Beschwerdeführerin jeden Wert verloren. Insgesamt laufe
die umstrittene Beschlagnahme faktisch auf eine "stetige Verminderung
der Güter der Beschwerdeführerin bis zur vollständigen Unbrauchbarkeit
bzw. Zerstörung hinaus" und bewirke eine "vollständige Blockierung der
bisherigen Geschäftstätigkeit".

    2.3.2  Es ist einzuräumen, dass der umstrittenen Beschlagnahme
faktisch nicht bloss konservatorische Bedeutung zukommt. Es können
Auswirkungen eintreten, die an die Substanz des beschlagnahmten Gutes
gehen. Ob und in welchem Ausmass damit zu rechnen ist, hängt von
der Dauer der Beschlagnahme ab. Vorliegend ist von einer eher langen
Prozessdauer auszugehen, d.h. es dürfte verhältnismässig lange dauern,
bis ein definitiver Entscheid über das Schicksal der sichergestellten
Pflanzen vorliegt. Die Beschlagnahmeverfügung der Bezirksanwaltschaft
ist unbefristet. Sie ist darauf angelegt, bis zum Abschluss des
Strafverfahrens eine allfällige Einziehung sicherzustellen. Damit aber
musste schon im Zeitpunkt der Anordnung mit dem Eintritt der genannten
Folgen gerechnet werden. Im Übrigen beeinträchtigt die Beschlagnahme,
weil die sichergestellten Pflanzen an Ort und Stelle belassen worden sind,
die Beschwerdeführerin im Betrieb ihrer Gärtnerei und dies unter Umständen
für eine längere Zeitspanne. Angesichts dieser Auswirkungen fragt sich,
ob sich ein Dispens von den Rechtsschutzgarantien gemäss Art. 6 Ziff. 1
EMRK rechtfertigen lässt.

    2.3.3  Nach der oben in E. 2.1 zitierten Praxis und Lehre liegt
keine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK
vor, wenn die Regelung bloss vorläufigen Charakter hat und prozessual
sichergestellt ist, dass sie durch eine spätere definitive Verfügung
abgelöst wird. In formaler Hinsicht treffen diese Voraussetzungen auf die
Beschlagnahmeverfügung der Bezirksanwaltschaft zu. Die Verfügung hat aber -
wie schon gesagt - faktische Auswirkungen, die sich nicht im vorläufigen
Entzug des Verfügungsrechts erschöpfen, sondern darüber hinausgehen
und irreversibel sind. Insoweit kann von einem definitiv wirkenden
Eingriff in zivilrechtliche Positionen der Beschwerdeführerin gesprochen
werden. Dabei ist entscheidend, dass der Eingriff nicht nur im vorläufigen
Entzug der Verfügungsmacht besteht. Die Sachlage ist zwar nicht ohne
weiteres mit einer Vernichtungsanordnung gleichzusetzen; indessen ist das
Rechtsschutzbedürfnis als ebenbürtig einzuschätzen. Im bereits zitierten
Urteil 1P.775/2000 vom 10. April 2001 hat das Bundesgericht unter anderem
festgehalten, dass die im Rahmen einer vorsorglichen strafprozessualen
Zwangsmassnahme angeordnete Vernichtung des Pflanzenbestandes einer
Hanfgärtnerei eine Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche und
Verpflichtungen im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK darstelle (aaO,
ZBl 103/2002 S. 156, E. 4). Die vorliegend umstrittene Beschlagnahme
verhindert endgültig die Verwendung der beschlagnahmten Pflanzen zum
vorgesehenen Zweck, entwertet sie auf diese Weise und schränkt damit
die Beschwerdeführerin in ihrer Erwerbstätigkeit für eine unbestimmte
Zeitspanne ein. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich nicht,
die dem angefochtenen Entscheid zugrunde liegende Beschlagnahme vom
Anwendungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auszunehmen. Die neu in
Art. 29a BV verankerte Rechtsweggarantie kann demgegenüber vorliegend
nicht herangezogen werden, da diese Verfassungsbestimmung noch nicht in
Kraft getreten ist (siehe Bundesbeschluss vom 24. September 2002 über
das teilweise Inkrafttreten der Justizreform vom 12. März 2000 [AS 2002
S. 3147 ff.]).

Erwägung 3

    3.  Aus den dargelegten Gründen ergibt sich, dass die
Verfahrensgarantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf die angeordnete
Beschlagnahme anzuwenden sind. Des Weiteren handelt es sich weder
bei den Bezirksanwaltschaften noch bei der Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich um richterliche Behörden im Sinne von der angerufenen
Konventionsbestimmung. Damit genügt das kantonale Verfahren den
Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht.

    Nach der so genannten "Oberschrot-Praxis" (BGE 117 Ia 497 E. 2c-3
S. 501 ff.) kann die staatsrechtliche Beschwerde unter bestimmten
Voraussetzungen den Verfahrensgarantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gerecht
werden (Entscheide der Menschenrechtskommission vom 11. April 1996
i.S. Fondation Croix-Etoile gegen Schweiz, publ. in: VPB 60/1996 Nr. 113
S. 899, und vom 30. November 1994 i.S. Augustin S.A. gegen Schweiz,
publ. in: VPB 59/1995 Nr. 121 S. 993; BGE 122 I 294 E. 2b S. 296
f.). Diesen Rechtsschutz kann das Bundesgericht indessen nur dann
gewährleisten, wenn der rechtserhebliche Sachverhalt nicht bestritten
ist. Im vorliegenden Fall macht die Beschwerdeführerin unter anderem
geltend, die Beschlagnahme sei ohne hinreichenden Tatverdacht angeordnet
worden. Die beschlagnahmten Pflanzen seien nie in der Absicht angebaut
worden, daraus Betäubungsmittel zu gewinnen; die Stecklinge seien mit dem
Ziel angebaut worden, sie als Zierpflanzen zu verwenden. Im Hinblick auf
diese Rüge kann das Bundesgericht die Rechtsschutzgarantien von Art. 6
Ziff. 1 EMRK im vorliegenden Verfahren nicht in ausreichendem Masse
gewährleisten. Der angefochtene Entscheid ist deshalb aufzuheben. Es
ist der Beschwerdeführerin der Zugang zu einer kantonalen gerichtlichen
Instanz zu ermöglichen, welcher obliegt, die tatsächlichen und rechtlichen
Voraussetzungen der Beschlagnahmeverfügung der Bezirksanwaltschaft
umfassend zu überprüfen. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich, auf die
weiteren Rügen der Beschwerdeführerin einzugehen.