Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 IV 68



129 IV 68

9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen
Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)

    6S.253/2002 vom 3. Dezember 2002

Regeste

    Art. 169 StGB; Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte.

    Wer dem Betreibungsbeamten, der einen gepfändeten Vermögenswert zum
Zwecke der Verwertung abholen möchte, wahrheitswidrig erklärt, er habe den
gepfändeten Vermögenswert veräussert und besitze ihn daher nicht mehr,
erfüllt nicht den Tatbestand von Art. 169 StGB, da er durch diese Lüge
nicht über den Vermögenswert verfügt (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Beim Pfändungsvollzug durch das Betreibungs- und Konkursamt
Berner Jura-Seeland wurde am 20. Juni 2000 im Rahmen einer Betreibung
gegen X. unter anderem ein Personalcomputer gepfändet, dessen Wert auf
Fr. 800.- geschätzt wurde. Im August 2000 reichten zwei Gläubiger das
Verwertungsbegehren ein. Da X. in der Zwischenzeit nach Wil/SG umgezogen
war, beauftragte das Betreibungs- und Konkursamt Berner Jura-Seeland das
Betreibungsamt Wil mit der Durchführung der Verwertung.

    Als der Beamte des Betreibungsamtes Wil unter anderem den gepfändeten
Personalcomputer zur Verwertung abholen wollte, gab X. ihm durch
unterschriebene Erklärung vom 31. Oktober 2000 an, der Personalcomputer
sei verkauft worden.

    Am 23. Januar 2001 erstattete das Betreibungs- und Konkursamt Berner
Jura-Seeland gegen X. Strafanzeige wegen Verfügung über mit Beschlag
belegte Vermögenswerte im Sinne von Art. 169 StGB. Im Strafverfahren sagte
X. am 19. Juli 2001 als Beschuldigter aus, dass er den Personalcomputer
in Tat und Wahrheit nicht verkauft habe. Er habe dem Beamten die
Unwahrheit gesagt, um zu verhindern, dass dieser das Gerät mitnehme. Der
Computer befinde sich nach wie vor in seiner Wohnung. X. wurde vom
Gerichtspräsidenten aufgefordert, den Computer beim Gericht abzugeben. Am
7. September 2001 lieferte X. das Gerät beim Gericht ab.

    B.- Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte X. am 4. April 2002 in
Bestätigung des Entscheids des Gerichtspräsidenten 1 des Gerichtskreises
V Burgdorf-Fraubrunnen vom 13. Dezember 2001 wegen Verfügung über mit
Beschlag belegte Vermögenswerte im Sinne von Art. 169 StGB zu einer
Gefängnisstrafe von zehn Tagen, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit
von zwei Jahren. Es ordnete gestützt auf Art. 58 StGB die Einziehung des
Personalcomputers zu Handen wem rechtens an.

    C.- X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Gemäss Art. 169 StGB macht sich strafbar, wer "über einen
Vermögenswert verfügt" ("celui qui ... aura disposé d'une valeur
patrimoniale"; "chiunque ... dispone ... di valori patrimoniali"), sowie
derjenige, welcher einen solchen Vermögenswert beschädigt, zerstört,
entwertet oder unbrauchbar macht. Durch die Bestimmung sollen sowohl die
staatliche Autorität als auch die Interessen der Gläubiger geschützt werden
(BGE 99 IV 146; 75 IV 174, je mit Hinweisen). Nicht nur, wer über die
Sache ein Rechtsgeschäft abschliesst (Eigentum überträgt, ein beschränktes
dingliches oder ein persönliches Recht bestellt), sondern auch, wer sie
zum Gegenstand anderer Handlungen macht, die den Endzweck der Pfändung,
den betreibenden Gläubiger zu befriedigen, vereiteln, "verfügt" über
sie. Es ist nicht zu sehen, weshalb das Gesetz die tatsächliche Verfügung
über eine Sache anders hätte behandeln wollen als die rechtliche Verfügung
(BGE 75 IV 62 E. 3 S. 64).

    Die Umschreibung der Tathandlungen in Art. 169 StGB lehnt sich an
jene in Art. 163 und Art. 164 StGB an (ALBRECHT, Kommentar Strafrecht,
Besonderer Teil, 2. Bd., 1990, N. 25 zu Art. 169 aStGB; TRECHSEL,
Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl. 1997, N. 7 zu
Art. 169 StGB; NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 1983,
S. 182). Nach Art. 163 StGB ("Betrügerischer Konkurs und Pfändungsbetrug")
macht sich unter den darin genannten weiteren Voraussetzungen der
Schuldner strafbar, der sein Vermögen zum Schein vermindert, namentlich
Vermögenswerte beiseite schafft oder verheimlicht. Das Verheimlichen von
Vermögenswerten im Sinne dieser Bestimmung kann auf verschiedene Weise
geschehen, zum Beispiel durch Verstecken oder durch die wahrheitswidrige
Behauptung, es seien keine (weiteren) Vermögenswerte vorhanden (ALBRECHT,
aaO, N. 33 zu Art. 163 aStGB; siehe auch BGE 102 IV 172 E. 2a).

    Aus dem Umstand, dass in Art. 169 StGB im Unterschied zu Art. 163
StGB das Beiseiteschaffen und das Verheimlichen von Vermögenswerten
nicht ausdrücklich erwähnt sind, folgt nicht die Straflosigkeit dieser
Handlungen (ALBRECHT, aaO, N. 25 zu Art. 169 aStGB). Wer gepfändete
Gegenstände verbirgt oder an einen anderen Ort schafft, wo sie dem Zugriff
des Betreibungsamtes entzogen sind, verfügt im Sinne von Art. 169 StGB
über sie; das tut er sogar schon dann, wenn er durch diese Handlungen die
Verwertung der Gegenstände bloss vorübergehend verhindert (BGE 75 IV 62
E. 3 S. 64; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I,
5. Aufl., 1995, § 23 N. 41).

    2.2  Die scheinbare Vermögensverminderung durch Verheimlichen eines
Vermögenswerts ist aber bei Art. 169 StGB, im Unterschied zu Art. 163
StGB, nicht eo ipso eine tatbestandsmässige Handlung, sondern nur, wenn
sie im Sinne von Art. 169 StGB auf dem Wege einer - rechtlichen oder
tatsächlichen - Verfügung über den Vermögenswert geschieht.

    Das Verstecken eines Vermögenswerts kann als eine tatsächliche
Verfügung betrachtet werden. Hingegen ist die blosse wahrheitswidrige
Angabe gegenüber dem Betreibungsbeamten, der Vermögenswert sei
veräussert worden und daher nicht mehr beim Veräusserer vorhanden, nicht
eine Verfügung über den Vermögenswert. Die gegenteilige Auffassung
geht über eine - zulässige - extensive Auslegung von Art. 169 StGB
hinaus und verletzt daher das unter anderem in Art. 1 StGB festgelegte
Legalitätsprinzip. Wohl werden durch eine solche wahrheitswidrige Angabe
die Interessen der Gläubiger an der Befriedigung ihrer Ansprüche aus
dem Erlös der Verwertung des gepfändeten Vermögenswerts in ähnlicher
Weise gefährdet wie etwa durch ein Verstecken oder Beiseiteschaffen
des gepfändeten Vermögenswerts. Dies bedeutet aber bloss, dass solche
wahrheitswidrige Angaben allenfalls strafwürdig sind. Daraus folgt indessen
nicht, dass die Täuschung des Betreibungsbeamten durch wahrheitswidrige
Angaben über den Verbleib eines gepfändeten Gegenstandes als Verfügung
über den Vermögenswert im Sinne von Art. 169 StGB qualifiziert werden darf.

    2.3  Indem der Beschwerdeführer dem Betreibungsbeamten wahrheitswidrig
erklärte, der gepfändete Personalcomputer sei veräussert worden und daher
nicht mehr bei ihm vorhanden, hat er nicht im Sinne von Art. 169 StGB
über einen Vermögenswert verfügt. Die Verurteilung des Beschwerdeführers
wegen Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte verstösst somit
gegen Bundesrecht.