Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 IV 44



129 IV 44

5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen
Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)

    6S.168/2002 vom 3. Oktober 2002

Regeste

    Art. 36 Abs. 2 und Art. 34 Abs. 1 SVG, Art. 7 Abs. 1 VRV;
Rechtsvortritt, Rechtsfahrgebot.

    Das Vortrittsrecht auf Strassenverzweigungen hebt das Gebot des
Rechtsfahrens nicht auf (E. 1.2).

    An unübersichtlichen Stellen verlangt die Verkehrssicherheit das
strenge Einhalten des Rechtsfahrgebots (E. 1.3).

Sachverhalt

    A.- Am 27. Juli 2000 kam es im Bereich der Einmündung der
vortrittsbelasteten A.strasse in die B.strasse in der Gemeinde C. zu einer
Kollision zwischen den beiden Personenwagen von Y. und X. Erstere bog
aus der A.strasse nach rechts in die B.strasse ein, ohne ihre Fahrbahn
zu verlassen. X. kam von rechts und wollte geradeaus über die Kreuzung
Richtung Dörfli fahren. Im Kollisionszeitpunkt befand sich das linke
Vorderrad des Wagens von X. 50 cm links der Strassenmitte. Die B.strasse
biegt sich im Bereich der Kreuzung leicht nach links.

    B.- Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte am 20. März 2002
die Verurteilung von X. wegen einfacher Verkehrsregelverletzung durch
ungenügendes Rechtsfahren und auferlegte ihr eine Busse von Fr. 300.-.

    C.- Die Kollisionsbeteiligte Y. wurde wegen Missachtung des
Vortrittsrechts mit rechtskräftigem Strafmandat vom 8. Februar 2001 mit
Fr. 300.- gebüsst.

    D.- X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur neuen
Beurteilung an dieses zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.  Die Beschwerdeführerin macht geltend, ihr Vortrittsrecht bestehe
auf der gesamten Schnittfläche der Verzweigung, weshalb insoweit das
Rechtsfahrgebot aufgehoben sei.

    1.1  Die Vorinstanz verneint die von der Beschwerdeführerin vor
allem gestützt auf BGE 98 IV 113 geltend gemachte Verletzung von Art. 36
Abs. 2 SVG. Die zitierten Fälle bezögen sich auf Situationen, wo die
Fahrbahnen der Beteiligten zwingend zusammentrafen. Vorliegend handle
es sich aber um eine Konstellation, bei der die Beschwerdeführerin
das ihr unbestrittenermassen zustehende Vortrittsrecht zur ungestörten
Weiterführung ihres Weges gar nicht habe in Anspruch nehmen müssen, denn
die Kollisionsgegnerin habe ihr dies durch ihre Fahrtroute nicht verwehrt.

    In einer Eventualbegründung führt die Vorinstanz aus, selbst wenn man
von der Anwendung des Grundsatzes ausgehe, wonach dem Vortrittsberechtigten
der Vortritt auf der gesamten Kreuzungsfläche der Strasse zustehe,
sei dieser einigen Einschränkungen unterworfen. Es gelte wie überall
das Vertrauensprinzip. Die Kollisionsgegnerin habe ihre Fahrbahn nie
verlassen. Sie hätte eine korrekt entgegenkommende Verkehrsteilnehmerin in
der Fortführung ihrer Fahrt nicht behindert. Überdies habe sie aufgrund
der unübersichtlichen Verhältnisse das verkehrswidrige Verhalten der
Beschwerdeführerin nicht erkennen können. Damit habe sie in aller Hinsicht
den Strassenverkehrsregeln genügt und insbesondere das Vortrittsrecht
der Beschwerdeführerin nicht beschnitten. Hingegen habe letztere durch
ungenügendes Rechtsfahren im Bereich der Einmündung Verkehrsvorschriften
verletzt.

    1.2  Auf Strassenverzweigungen hat das von rechts kommende Fahrzeug
den Vortritt (Art. 36 Abs. 2 SVG). Die Regel des Rechtsvortritts kommt
nur zum Tragen, wenn bei einer Strassenverzweigung die Fahrbahnen der
aus verschiedenen Richtungen kommenden Fahrzeuge nach den örtlichen
Verhältnissen auch bei korrektem Fahren notwendig zusammentreffen (BGE 93
IV 104 E. 1 S. 106; Urteil 4C.242/1998 vom 2. Oktober 1998, E. 3). Die
Vorinstanz hält fest, dass die Fahrbahnen der zwei verunfallten Wagen
nicht notwendigerweise zusammentreffen mussten. Daraus zieht sie zu Recht
den Schluss, dass Art. 36 Abs. 2 SVG nicht zur Anwendung gelangt.

    Selbst wenn diese Vorschrift anwendbar wäre, könnte die
Beschwerdeführerin aus ihrem Vortrittsrecht nichts zu ihren Gunsten
ableiten. Zwar besteht nach ständiger Rechtsprechung der Rechtsvortritt
auch dann, wenn sich der Berechtigte pflichtwidrig verhält, etwa
in Missachtung des Rechtsfahrgebots zu weit links fährt (BGE 116 IV
157 E. 1 S. 158; 102 IV 259 E. 2 S. 261 mit Hinweisen). Entgegen der
Auffassung der Beschwerdeführerin bedeutet dies jedoch nicht, dass
das Vortrittsrecht ihr das Recht einräumt, ohne weiteres auch die
linke Fahrbahn zu benutzen. Die Rechtsprechung zu Art. 36 Abs. 2 SVG
bedeutet nur, dass der Vortrittsbelastete auch dann wegen Missachtung des
Vortrittsrechts verurteilt werden kann, wenn sich der Vortrittsberechtigte
pflichtwidrig verhält. Aus dieser Praxis kann hingegen nicht geschlossen
werden, das Vortrittsrecht entbinde den Fahrzeuglenker von der Pflicht,
sich an die allgemeinen Fahrregeln sowie an die besonderen Verkehrsregeln,
zu denen das Rechtsfahrgebot zählt, zu halten. Auch wenn dem Berechtigten
das Vortrittsrecht auf der ganzen Schnittfläche der zusammentreffenden
Strassen zusteht, hat er die Vorschriften des Strassenverkehrsgesetzes
einzuhalten (vgl. auch Urteil 6S.111/1991 vom 19. August 1991, E. 1b;
Urteil 6S.723/2001 vom 6. Februar 2002, E. 2a/bb). Die Tatsache, dass links
eine Strasse einmündet und ein geradeaus fahrendes Fahrzeug gegenüber einem
von dort kommenden den Vortritt hat, kann den geradeaus fahrenden Lenker
nicht von der Pflicht entbinden, rechts zu fahren (Urteil 4C.341/1992
vom 25. Februar 1993, E. 3c). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten:
Das Vortrittsrecht auf einer Strassenverzweigung hebt das Gebot des
Rechtsfahrens nicht auf.

    1.3  Nach Art. 34 Abs. 1 SVG müssen Fahrzeuge rechts, auf breiten
Strassen innerhalb der rechten Fahrbahnhälfte fahren (Satz 1); sie
haben sich möglichst an den rechten Strassenrand zu halten, namentlich
bei langsamer Fahrt und auf unübersichtlichen Strecken (Satz 2). Das
Rechtsfahrgebot gilt allerdings nicht absolut. Dessen Einhaltung ist nach
den Verkehrs- und Sichtverhältnissen der konkreten Situation zu beurteilen
(BGE 107 IV 44 E. 2a S. 46; 106 IV 50 E. 2 S. 51). Der Fahrzeugführer
kann auf gewölbten oder sonst schwer zu befahrenden Strassen und in
Linkskurven von der Regel abweichen, wenn die Strecke übersichtlich ist
und weder der Gegenverkehr noch nachfolgende Fahrzeuge behindert werden
(Art. 7 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 [VRV;
SR 741.11]). Laut der Rechtsprechung zum Rechtsfahrgebot gemäss Art. 26
MFG (BS 7 S. 595 ff.), das sich inhaltlich mit Art. 34 SVG deckt (vgl.
dazu BGE 97 II 362 E. 2 S. 365), allerdings ohne die in Art. 7 Abs. 1
VRV statuierte Ausnahme vorzusehen, ist auf unübersichtlichen Strassen
oder auf solchen, in welche unübersichtliche andere Strassen oder Wege
einmünden, das Rechtsfahrgebot strikt einzuhalten. Der Fahrzeuglenker muss
sich immer an diese Vorschrift halten, wenn wegen besonderer Verhältnisse
jede Abweichung von der Regel den Verkehr unmittelbar gefährden müsste (BGE
76 IV 59 E. 1 S. 62). Wo mit entgegenkommenden Fahrzeugen zu rechnen ist,
die nicht auf Distanz wahrgenommen werden können, muss zum vornherein der
zum Kreuzen notwendige Zwischenraum in der Mitte der Strasse freigelassen
werden (BGE 81 IV 170 E. 1 S. 173). Dieser Zwischenraum wurde auf
mindestens 50 cm festgesetzt (BGE 107 IV 44 E. 2c S. 47).

    Die Vorinstanz stellt verbindlich fest (Art. 277bis Abs. 1 BStP), dass
die Beschwerdeführerin weder einem anderen Verkehrsteilnehmer auf ihrer
Rechten ausweichen noch jemanden überholen musste. Die Beschwerdeführerin
konnte die einmündende A.strasse nur beschränkt einsehen. Sie ist zudem in
C. wohnhaft und kennt die örtlichen Verhältnisse. Unter diesen Umständen
musste sie sich streng an das Rechtsfahrgebot halten, ungeachtet dessen,
ob die leichte Biegung der B.strasse als Linkskurve im Sinne von Art. 7
Abs. 1 VRV zu bezeichnen ist oder nicht. An unübersichtlichen Stellen
erheischt nämlich die Verkehrssicherheit das strenge Einhalten des
Rechtsfahrgebots. Der Fahrzeugführer hat bei unübersichtlichen Stellen
mit dem Erscheinen anderer Strassenbenützer (Fahrzeuge, Fussgänger) zu
rechnen und seine Fahrweise darauf einzurichten; insbesondere muss er sich
an das Rechtsfahrgebot halten und seine Geschwindigkeit anpassen. Die
Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen ungenügenden Rechtsfahrens
verletzt somit kein Bundesrecht. Im Übrigen hätte die Beschwerdeführerin
entgegen ihrer Auffassung selbst dann gebüsst werden müssen, wenn sich
kein Unfall ereignet hätte. Sie hat sich unabhängig vom Fahrverhalten
der Kollisionsgegnerin verkehrsregelwidrig verhalten.