Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 IV 282



129 IV 282

43. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zug gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde)

    6S.471/2002 vom 26. Mai 2003

Regeste

    Art. 26 Abs. 2 SVG, Art. 4 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 2 VRV;
Sorgfaltspflichten gegenüber Kindern im Strassenverkehr.

    Die vom Fahrzeuglenker auf Grund von Art. 26 Abs. 2 SVG gegenüber
einem Kind aufzubringende erhöhte Sorgfalt (Misstrauensgrundsatz) ist
auch zu beachten, wenn es von einer erwachsenen Person begleitet wird. Der
Lenker darf auf korrektes Verhalten nur vertrauen, wenn die Begleitperson
das Kind, das eine Strasse überqueren will, erkennbar an der Hand oder
in anderer Weise fest hält (E. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Am 30. September 1997 um 16.35 Uhr fuhr X. mit seinem Personenwagen
des Typs Range Rover auf der A.strasse in C. talwärts. Etwas oberhalb
der rechtsseitigen Einmündung zum B.rain standen der fünfjährige Y. und
seine Begleiterin, die knapp achtzehnjährige Z., bei der Einmündung einer
privaten Zufahrtsstrasse am linken Fahrbahnrand. Die beiden Fussgänger,
welche sich zuvor aus der Zufahrtsstrasse genähert hatten, beabsichtigten
die A.strasse an dieser Stelle zu überqueren, weil sie auf der anderen
Strassenseite in den B.rain einbiegen wollten und weil auf der linken
Strassenseite kein Trottoir vorhanden war. Sie warteten einen bergwärts
fahrenden Personenwagen ab. Nachdem dieser passiert hatte, sprang Y.,
der links neben seiner Begleiterin gestanden und sich an einer von dieser
mitgeführten Tasche gehalten hatte, plötzlich auf die Strasse. In diesem
Moment näherte sich von rechts X. mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 40
km/h. Es kam zu einer Kollision zwischen X.s Personenwagen und Y. Das Kind
wurde von der Frontpartie des Wagens am Kopf getroffen und auf die Strasse
geschleudert. Es verstarb in der Folge an seinen schweren Kopfverletzungen.

    X. hatte Bremsbereitschaft erstellt, als er die beiden Fussgänger
wahrnahm. Im Moment, als Y. zu rennen begann, konnte er die Kollision
nicht mehr verhindern.

    Die Sichtweite der Fussgänger bergwärts, woher sich X. genähert hatte,
betrug ungefähr 85 Meter. X. war der Auffassung, mit der Begleiterin von
Y. Blickkontakt aufgenommen zu haben, was diese aus ihrer Sicht nicht
bestätigen konnte. X. hatte seine Aufmerksamkeit auf Z. gerichtet, nicht
aber auf Y. Da das verunfallte Kind auf der linken Seite seiner Begleiterin
gestanden hatte, konnte X. nicht feststellen, ob diese das Kind an der
Hand hielt; er war jedoch davon ausgegangen, dass dies der Fall sei.

    B.- Auf Grund dieses Sachverhalts erhob die Staatsanwaltschaft des
Kantons Zug am 9. August 2001 gegen X. Anklage wegen fahrlässiger Tötung.

    Gestützt auf Art. 66bis StGB verzichtete der zuständige Jugendanwalt
auf die Eröffnung eines Jugendstrafverfahrens gegen die Begleiterin des
verunfallten Kindes.

    C.- Von der Anklage der fahrlässigen Tötung sprach das Einzelrichteramt
des Kantons Zug X. mit Urteil vom 30. Januar 2002 frei. Das Strafgericht
des Kantons Zug wies die von der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch
erhobene Berufung am 5. Juli 2002 ab und bestätigte den erstinstanzlichen
Freispruch.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug erhebt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Strafgerichts vom
5. Juli 2002 sei aufzuheben, und die Sache sei zur Schuldigsprechung des
Beschwerdegegners an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Gemäss Art. 117 StGB wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft,
wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht. Fahrlässig begeht der
Täter ein Verbrechen oder Vergehen, wenn die Tat darauf zurückzuführen ist,
dass er die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit
nicht bedacht oder darauf nicht Rücksicht genommen hat (Art. 18 Abs. 3
Satz 1 StGB). Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung setzt somit
voraus, dass der Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht
verursacht hat. Sorgfaltswidrig ist die Handlungsweise, wenn der Täter
zum Zeitpunkt der Tat aufgrund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und
Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte
erkennen können und müssen und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten
Risikos überschritten hat (Art. 18 Abs. 3 Satz 2 StGB; BGE 127 IV 34 E. 2a;
121 IV 10 E. 3; 122 IV 17 E. 2b, 133 E. 2a, 145 E. 3b sowie 225 E. 2a, je
mit Hinweisen). Wo besondere Normen ein bestimmtes Verhalten gebieten,
bestimmt sich das Mass der dabei zu beachtenden Sorgfalt in erster
Linie nach diesen Vorschriften (BGE 122 IV 17 E. 2b/aa mit Hinweisen).
Grundvoraussetzung für das Bestehen einer Sorgfaltspflichtverletzung und
mithin für die Fahrlässigkeitshaftung ist die Vorhersehbarkeit des Erfolgs.
Die zum Erfolg führenden Geschehensabläufe müssen für den konkreten Täter
mindestens in ihren wesentlichen Zügen voraussehbar sein (STRATENWERTH,
Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 2. Aufl., Bern 1996, § 16
N. 16; TRECHSEL/NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 5. Aufl.,
Zürich 1998, S. 269 f.; RIKLIN, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I,
2. Aufl., Zürich 2002, S. 193, § 16 N. 44).

    Es ist daher zu prüfen, ob der Täter eine Gefährdung des Kindes
hätte voraussehen bzw. erkennen können und müssen. Für die Beantwortung
dieser Frage gilt der Massstab der Adäquanz. Danach muss sein Verhalten
geeignet sein, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den Erfahrungen
des Lebens einen Erfolg wie den eingetretenen herbeizuführen oder
mindestens zu begünstigen. Die Adäquanz ist nur zu verneinen, wenn
ganz aussergewöhnliche Umstände, wie das Mitverschulden eines Dritten
oder Material- oder Konstruktionsfehler, als Mitursachen hinzutreten,
mit welchen schlechthin nicht gerechnet werden musste und die derart
schwer wiegen, dass sie als wahrscheinlichste und unmittelbarste Ursache
des Erfolges erscheinen und so alle anderen mitverursachenden Faktoren -
namentlich das Verhalten des Angeschuldigten - in den Hintergrund drängen
(BGE 127 IV 34 E. 2a; 122 II 315 E. 3c; 122 IV 17 E. 2c/bb; 121 IV 10
E. 3 und 286 E. 3; 120 IV 300 E. 3e, je mit Hinweisen).

    2.2

    2.2.1  Der Fahrzeuglenker ist gegenüber dem Fussgänger, der die
Strasse ausserhalb eines Fussgängerstreifens zu überqueren beabsichtigt,
grundsätzlich vortrittsberechtigt, auch wenn er ihm gemäss Art. 33 Abs. 1
SVG das Überqueren der Strasse in angemessener Weise zu ermöglichen
hat. Dieses Vortrittsrecht gilt jedoch nicht unbedingt, sondern nur unter
dem Vorbehalt von Art. 26 Abs. 2 SVG (BGE 94 IV 124 E. 4a; 106 IV 391
[=JdT 1981 I S. 420]).

    Das Mass der Sorgfalt, die vom Fahrzeuglenker verlangt wird, richtet
sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den
örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren
Gefahrenquellen (BGE 122 IV 225 E. 2b S. 228). Gesetzliche Grundlage der
vom Fahrzeuglenker im Strassenverkehr zu beachtenden Sorgfalt bilden
die im Strassenverkehrsgesetz und in den dazu gehörenden Verordnungen
statuierten Verkehrsregeln. Gemäss der Grundregel von Art. 26 Abs. 1 SVG
muss sich jeder Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass er andere in der
ordnungsgemässen Benützung der Strasse weder behindert noch gefährdet. Aus
dieser Bestimmung haben Rechtsprechung und Lehre den so genannten
Vertrauensgrundsatz abgeleitet. Danach darf jeder Strassenbenützer
darauf vertrauen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäss
verhalten.

    Solches Vertrauen ist jedoch unter bestimmten in Art.  26 Abs. 2
SVG enumerierten Umständen nicht gerechtfertigt und kann deshalb
sorgfaltspflichtwidrig sein. Dies gilt zunächst, wenn bereits Anzeichen
dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird
oder wenn ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers auf Grund
einer unklaren Verkehrssituation nach der allgemeinen Erfahrung unmittelbar
in die Nähe rückt. Art. 26 Abs. 2 SVG gebietet ausserdem eine besondere
Vorsicht gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten (BGE 125 IV 83
E. 2b S. 87 f.; Urteil des Bundesgerichts 6S.120/1998 vom 3. April 1998,
E. 2b, publ. in: Pra 87/1998 Nr. 125 S. 692). Die gegenüber den erwähnten
Personen vorgeschriebene besondere Vorsicht bedeutet, dass eine Berufung
auf das Vertrauensprinzip grundsätzlich selbst dann unzulässig ist, wenn
keine konkreten Anzeichen dafür vorliegen, dass sich Kinder, Gebrechliche
oder alte Personen unkorrekt verhalten werden (BGE 104 IV 28 E. 3c; 115
IV 239 E. 2; RAPHAEL VON WERRA, Du principe de la confiance dans le droit
de la circulation routière ..., ZWR 4/1970 S. 200). In der deutschen Lehre
wird in diesem Zusammenhang von einem Misstrauensgrundsatz gesprochen, der
folgenden Inhalt hat: "Eine Begegnung mit einem Kind im Alter bis zu 10
Jahren ist in der Regel so gefährlich, dass der Kraftfahrer, unabhängig
vom mutmasslichen Verhalten des Kindes, von sich aus alles tun muss,
um einen Unfall zu verhüten." [KLAUS KIRSCHBAUM, Der Vertrauensschutz im
deutschen Strassenverkehrsrecht, Diss. Berlin 1980, S. 249]). Gegenüber den
im Gesetz aufgezählten Personen bedarf es umgekehrt besonderer Umstände,
welche positiv für ein begrenztes Vertrauen in deren ordnungsgemässes
Verhalten im Verkehr sprechen (BGE 115 IV 239; vgl. auch SCHAFFHAUSER,
Grundriss des Schweizerischen Strassenverkehrsrechts, 2. Aufl., 2002,
Bd. I, N. 441).

    Besondere Vorsicht gegenüber Kindern im Strassenverkehr schreiben
auch Art. 4 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 2 der Verkehrsregelnverordnung vom
13. November 1962 (VRV; SR 741.11) vor: Die erste Bestimmung verlangt,
dass die Geschwindigkeit zu mässigen oder dass gegebenenfalls anzuhalten
sei, wenn Kinder im Strassenbereich nicht auf den Verkehr achten; die
zweite schreibt unter denselben Voraussetzungen die Abgabe akustischer
Warnsignale vor.

    Die Pflicht zu besonderer Vorsicht auch ohne konkrete Anzeichen
eines Fehlverhaltens geht indessen nicht so weit, dass der Führer eines
Motorfahrzeugs beim Anblick eines Kindes in jedem Fall seine Fahrt
verlangsamen und Hupsignale geben müsste. Dies ist innerorts lediglich
etwa geboten, wenn das Kind sich auf der Fahrbahn oder am Strassenrand
befindet, nicht aber wo es auf dem Trottoir ruhig seines Weges geht (BGE
115 IV 239; 112 IV 87). Steht ein kleines Kind hingegen am Strassenrand,
um die Strasse zu überqueren, darf sich der Lenker demnach nicht auf sein
Vortrittsrecht verlassen, auch wenn keine konkreten Anzeichen für ein
Fehlverhalten ersichtlich sind. Er darf dies nur, wenn er die Gewissheit
hat, dass das Kind die nahende Gefahr wahrgenommen hat und zu verstehen
gibt, dass es sich richtig verhalten wird. Andernfalls hat der Lenker
zu bremsen und ein Hupsignal abzugeben. Lässt sich eine Gefährdung auch
damit nicht ausschliessen, hat der Lenker anzuhalten.

    2.2.2  Der gesetzlichen Regelung der Sorgfaltspflichten gegenüber
Kindern liegt die entwicklungspsychologische Tatsache zu Grunde, dass
Kinder wenigstens bis zu einem gewissen Alter gar nicht oder nur sehr
beschränkt in der Lage sind, die Gefahren des Verkehrs kognitiv zu
verarbeiten. Untersuchungen geben Anlass zur Annahme, dass Kinder
zum Teil bis zu zwölf Jahren typische Verkehrsgefahren überhaupt
nicht verstehen (vgl. SCHAFFHAUSER, aaO, N. 443, mit Hinweisen).
Kinder verfügen über ein engeres Blickfeld als Erwachsene. Sie
können bewegte Objekte im Raum wahrnehmungsmässig nicht miteinander
koordinieren und ihr Wahrnehmungsprozess ist gegenüber demjenigen
Erwachsener verlangsamt. Unabhängig von ihren kognitiven Fähigkeiten
sind Kinder ausserdem in ihrem Verhalten sprunghaft und in besonderem
Masse unberechenbar; sie beherrschen ihren Körper nur beschränkt und
neigen zu unvorhersehbaren Spontanreaktionen auf innere und äussere Reize
(vgl. SCHAFFHAUSER, ebd., mit Hinweisen). Trotz des besonderen normativen
Schutzes, den der Gesetzgeber Kindern im Strassenverkehr gewährt,
gehören Kinder zwischen 4 und 14 Jahren zu derjenigen Fussgängergruppe,
die im Strassenverkehr anteilsmässig am häufigsten Opfer schwerer oder
tödlicher Verletzungen wird (vgl. Eidgenössisches Departement für Umwelt,
Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK, Bundesamt für Strassen ASTRA:
Erarbeitung der Grundlagen für eine Verkehrssicherheitspolitik des Bundes,
2002, Schlussbericht, S. 29).

Erwägung 3

    3.

    3.1  Die Vorinstanz spricht den Lenker mit der Begründung frei,
das verunfallte Kind sei kein Kind im Sinne von Art. 26 Abs. 2
SVG gewesen, weil es von einer erwachsenen Person begleitet worden
sei. Der Lenker habe darauf vertrauen dürfen, dass die Begleitperson
das Kind beaufsichtige. Sie unterstellt damit indirekt, dass der Unfall
ausschliesslich der Verantwortungssphäre der Begleiterin zuzurechnen
ist. Ob die von Art. 26 Abs. 2 SVG vorgeschriebene erhöhte Sorgfalt
auch gegenüber begleiteten Kindern aufgebracht werden muss, stellt eine
Rechtsfrage dar, die durch Auslegung des Gesetzes zu klären ist. Dabei
ist auf die konkreten Umstände und auf den Grundgedanken abzustellen,
von dem sich der Gesetzgeber leiten liess. Die Vorinstanz beruft sich
für ihren Entscheid auf eine in der Lehre vertretene Auffassung (MATTHIAS
HEIERLI, Die Bedeutung des Vertrauensprinzips im Strassenverkehr und für
das Fahrlässigkeitsdelikt, Zürich 1996, S. 169; SCHAFFHAUSER, aaO, N. 443).

    Der Beschwerdegegner bewertet mit seiner Vernehmlassung
die Unfallsituation und sein eigenes Verhalten ebenso wie die
Vorinstanz. Er geht dabei aber von einem Sachverhalt aus, der sich mit
den vorinstanzlichen Feststellungen teilweise nicht deckt (Art. 277bis
Abs. 1 BStP).

    Das Bundesgericht hat sich bisher mit der Frage nach der Geltung des
Vertrauensgrundsatzes gegenüber begleiteten Kindern ausdrücklich erst
einmal in einem weit zurückliegenden Fall befasst, der mit der vorliegend
zu beurteilenden Konstellation nur bedingt vergleichbar ist (BGE 77 IV 35;
vgl. auch Urteil 6S.721/2001 vom 18. Februar 2002, E. 2b/bb).

    3.2  Anknüpfungspunkt für die Anwendung von Art. 26 Abs. 2 SVG ist die
Anwesenheit eines Kindes im Gefahrenbereich des Strassenverkehrs. Aus dem
Text des Gesetzes geht nicht hervor, dass die im Sinne dieser Bestimmung
gegenüber dem Kind aufzubringende erhöhte Sorgfalt entfallen dürfte,
wenn es begleitet wird. In bestimmten Situationen kann jedoch ohne
weiteres davon ausgegangen werden, dass der Fahrzeuglenker auf das
richtige Verhalten des Kindes vertrauen darf: Dies gilt für den Fall,
dass es von einer erwachsenen Begleitperson in seinem Verhalten erkennbar
faktisch kontrolliert und beherrscht wird - so etwa, wenn es von einer
Begleitperson fest gehalten wird. Unter diesen Umständen muss nicht mit
einem sprunghaften und unvorhersehbaren Verhalten des Kindes gerechnet
werden.

    Daraus darf jedoch nicht geschlossen werden, dass der Lenker
gegenüber begleiteten Kindern die vom Gesetz verlangte erhöhte Sorgfalt
grundsätzlich nicht aufzubringen hätte. Auch die von der Vorinstanz
angeführten Autoren wollen die Geltung des Vertrauensgrundsatzes gegenüber
begleiteten Kindern nur unter bestimmten Umständen zulassen: Wenn das
Kleinkind überwacht werde und auf dessen Verhalten Einfluss genommen
werden könne, dieses also beispielsweise an der Hand gehalten werde
(vgl. HEIERLI, aaO, S. 169; vgl. auch SCHAFFHAUSER, aaO, N. 443). Ein
weiterer Autor stellt sogar noch höhere Anforderungen an die Anwendbarkeit
des Vertrauensgrundsatzes: "Sind noch nicht schulpflichtige Kinder auf
oder an der Strasse oder auf dem Trottoir sichtbar, ist erhöhte Vorsicht
angezeigt, es sei denn, der Erwachsene halte das Kind fest an der Hand"
(HANS SCHULTZ, Kinder im Strassenverkehr - Strafrechtliche Aspekte, in:
Strassenverkehrsrechts-Tagung, Freiburg 1992, Nr. 3a, S. 8).

    3.3  In Bezug auf das Unfallgeschehen stellt die Vorinstanz Folgendes
fest: Der Lenker fuhr auf einer wenig befahrenen Innerortsstrasse
auf ein kleines Kind und eine knapp achtzehnjährige Begleiterin zu,
die als Fussgänger am linken Strassenrand standen. Auf dieser Seite
war kein Trottoir vorhanden. Das Kind stand links neben, aus Sicht des
Lenkers also hinter seiner Begleiterin und war somit für ihn wenigstens
teilweise verdeckt. Die beiden Fussgänger wollten die Fahrbahn
erkennbar überqueren. Der Lenker mässigte sein Tempo und erstellte
Bremsbereitschaft. Das Kind achtete nicht auf den Verkehr, insbesondere
nicht auf das sich von rechts nahende Fahrzeug. Der Lenker seinerseits
konzentrierte sich auf die Begleiterin, nicht aber auf das Kind. Er
ging davon aus, mit der Begleiterin Sichtkontakt aufgenommen zu haben -
was diese allerdings nicht bestätigte -, und er nahm fälschlicherweise
im Weiteren an, das Kind werde von seiner Begleiterin an der Hand
gehalten. Als es für die Erwachsenen überraschend auf die Strasse
rannte, konnte der Lenker die für das Kind tödliche Kollision nicht
mehr verhindern.

    Obwohl der Lenker eine gewisse Vorsicht aufbrachte, indem er
sein Tempo mässigte und Bremsbereitschaft erstellte, ist ihm eine
Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen. Er hätte nicht nur auf die
Begleiterin achten dürfen, sondern sich auch auf das Kind konzentrieren
müssen. Insbesondere hätte er nicht davon ausgehen dürfen, die
Begleiterin halte es fest, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen,
ob dies tatsächlich der Fall sei. Ebenso wenig berücksichtigte er,
dass das Kind nicht auf ihn achtete. Unter diesen Umständen hätte er
nicht darauf vertrauen dürfen, dass sich das Kind, welches die Strasse
erkennbar überqueren wollte, richtig verhalten werde. Er wäre deshalb
verpflichtet gewesen, die zweideutige Situation wenigstens mit einem
Warnsignal zu klären oder gar sein Tempo so weit zu mässigen, dass er vor
den Fussgängern hätte anhalten können. Das überraschende Hervorspringen
des Kindes entspricht demjenigen Verhalten, welches Art. 26 Abs. 2 SVG als
gesetzgeberisches Motiv zu Grunde liegt. Das Verhalten des Lenkers kann
nicht durch Berufung auf den Vertrauensgrundsatz gerechtfertigt werden.

    3.4  Aufgrund der Akten und des angefochtenen Entscheids kann
ein Mitverschulden der Begleiterin des Kindes nicht ausgeschlossen
werden. Ihr Verhalten - das Kind nicht fest zu halten - war unter
den gegebenen örtlichen Verhältnissen als mögliches Drittverschulden
jedoch nicht derart ungewöhnlich, dass der Lenker damit überhaupt nicht
hätte rechnen müssen. Aus Art. 26 Abs. 2 SVG ergibt sich im Übrigen,
dass die Verantwortung für die Sicherheit des begleiteten Kindes im
Strassenverkehr von den beteiligten erwachsenen Personen gemeinsam
zu tragen ist: vom Automobilisten, der die Gefahr schafft, und von der
Person, die es begleitet und zu beaufsichtigen hat. Daraus folgt, dass
keiner der beteiligten Erwachsenen darauf vertrauen darf, der andere
werde eine Gefährdung des Kindes ausschliessen, wenn er sich darüber
keine Gewissheit verschaffen kann.

    3.5  Die Vorinstanz macht zur Begründung ihres freisprechenden
Entscheides im Weiteren geltend, dass der Strassenverkehr zusammenbrechen
würde, wenn der Fahrzeuglenker auf das richtige Verhalten begleiteter
Kinder nicht vertrauen dürfte. Sie bezieht sich damit indirekt auf
die dogmatische Figur des so genannten erlaubten Risikos, wonach die
Anforderungen an die Sorgfalt bei der Ausübung einer gesellschaftlich
tolerierten und nützlichen, aber gefährlichen Tätigkeit nicht so hoch
angesetzt werden dürfen, dass die Tätigkeit als solche nicht mehr ausgeübt
werden könnte, wenn die Sorgfaltspflichten erfüllt würden.

    Die Befürchtung der Vorinstanz, der Strassenverkehr könnte durch allzu
weitgehende Vorsichtspflichten der Fahrzeuglenker übermässig erschwert
werden, ist verständlich. Allerdings hält der Gesetzgeber die erhöhten
Schutzbedürfnisse von Kindern und die Gewährleistung des Verkehrsflusses
für vereinbar, und das Leben und die Unversehrtheit der Kinder ist
ein wichtigeres Rechtsgut als der ungestörte Verkehrsfluss. Im Übrigen
ist nicht ersichtlich, dass die vorstehend dargelegte Sorgfaltspflicht
des Automobilisten gegenüber begleiteten Kindern den Strassenverkehr
zum Erliegen bringen könnte. Schliesslich ist bei der Bemessung der
Sorgfaltspflicht auf die konkreten Umstände abzustellen. Der vorliegend
zu beurteilende Unfall ereignete sich auf einer wenig befahrenen
Innerortsstrasse. Es kann nicht angenommen werden, dass der Lenker den
Verkehrsfluss behindert oder dritte Verkehrsteilnehmer gefährdet hätte,
wenn er gehupt oder sein Tempo weiter verlangsamt oder gar angehalten
hätte.

    3.6  Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist demnach gutzuheissen
und das angefochtene Urteil aufzuheben.