Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 IV 155



129 IV 155

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen
Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)

    6S.430/2002 vom 13. Dezember 2002

Regeste

    Art. 35 Abs. 2 und 3, Art. 47 Abs. 2 SVG; Überholen einer
Fahrzeugkolonne durch einen Motorradfahrer; Kollision mit einem wendenden
Fahrzeug.

    Motorradfahrer dürfen nicht eine stehende Fahrzeugkolonne links
überholen (E. 3.2).

    Wer ein Überholmanöver ausführt, das wegen seiner Gefährlichkeit
gesetzlich verboten ist, verletzt damit die allgemeinen Sorgfaltsregeln
(E. 3.3).

Sachverhalt

    A.- A. fuhr mit seinem Auto in einer stockenden Kolonne auf der
Hauptstrasse A5 in Richtung Biel. Auf der Höhe von Tüscherz-Alfermée schlug
er die Räder nach links ein, um zu wenden, ohne dass er zuvor gegen die
Mittellinie eingespurt hatte. Nachdem er auf der übersichtlichen Strecke
Richtung Biel keinen Gegenverkehr sah, stellte er den linken Blinker und
blickte in den Aussenrückspiegel sowie über die Schulter zurück. Da er
hinter ihm keine die Kolonne überholende Fahrzeuge sah, begann er langsam
mit dem Wendemanöver. Als er sich mitten auf der Gegenfahrbahn in einem
Winkel von ungefähr 90 Grad zu ihr befand, prallte der in Richtung Biel
fahrende Motorradlenker X. in die linke hintere Seite des Personenwagens
von A. X. hatte ungefähr 100 bis 150 Meter vor der Unfallstrecke die
stockende Kolonne mit einer Geschwindigkeit von 60-80 km/h links zu
überholen begonnen und den Personenwagen von A. etwa 20 bis 30 Meter vor
der Unfallstelle erblickt.

    B.- Die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern verurteilte
A. wegen einfacher fahrlässiger Körperverletzung gemäss Art. 125 StGB zu
einer Busse von 600 Franken und X. wegen einfacher Verkehrsregelverletzung
nach Art. 35 Abs. 2 und 3 sowie Art. 90 Ziff. 1 SVG zu einer Busse von
300 Franken.

    C.- X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.  Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 35 Abs. 2
und 3 SVG geltend.

    3.1   Seine Verurteilung wegen Verletzung der Verkehrsregeln beruht
auf Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 35 Abs. 2 und 3 SVG. Die
Vorinstanz begründet ihren Entscheid wie folgt:

    Der Beschwerdeführer habe sich in einer unklaren Verkehrssituation
befunden und daher beispielsweise damit rechnen müssen, dass andere
Verkehrsteilnehmer wenden, um dem Stau zu entkommen. Da sich die Kolonne
langsam vorwärts bewegt habe und seitlich verschoben gewesen sei, habe es
der Beschwerdeführer an der besonderen Rücksicht gegenüber den anderen
Verkehrsteilnehmern mangeln lassen, als er sie überholte. Zudem sei er
gegenüber den überholten Fahrzeugen nicht vortrittsberechtigt gewesen,
da er nicht habe ausschliessen können, dass weiter vorne in der Kolonne
ein Fahrzeug bereits den Blinker zum Linksabbiegen gestellt habe, womit er
zum Überholen gar nicht mehr berechtigt gewesen wäre. Die Geschwindigkeit
müsse beim Überholen den Verkehrsverhältnissen angepasst sein, um die
überholten Fahrzeuge frühzeitig wahrnehmen und zeitgerecht reagieren zu
können. Angesichts der heiklen Verkehrslage hätte der Beschwerdeführer vor
allem dort, wo die Fahrzeuge in der Kolonne seitlich verschoben waren,
seine Geschwindigkeit den Erfordernissen des Verkehrs anpassen und viel
langsamer überholen sollen. Er habe seine mangelnde Aufmerksamkeit selber
zugegeben, indem er erklärte, den Blinker des abbiegenden Fahrzeuges
nicht gesehen zu haben. Er könne sich auch nicht auf das Vertrauensprinzip
berufen, da er bei seinem Manöver keine Gewissheit gehabt habe, rechtzeitig
und ohne Behinderung anderer Fahrzeuglenker wieder einbiegen zu können.

    3.2   Der zweite Abschnitt des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) "Regeln
für den Fahrverkehr" ist in folgende fünf Titel eingeteilt: "I. Allgemeine
Fahrregeln" (Art. 29 bis 32 SVG), "II. Einzelne Verkehrsvorgänge"
(Art. 34 bis 38 SVG), "III. Sicherungsvorkehren" (Art. 39 bis 42 SVG),
"IV. Regeln für besondere Strassenverhältnisse" (Art. 43 bis 45 SVG)
und "V. Besondere Fahrzeugarten" (Art. 46 bis 48 SVG). Aus dieser
Systematik ergibt sich, dass es allgemeine Bestimmungen gibt, welche
für den Verkehr generell gelten, und besondere in den Titeln IV. und
V. aufgeführte Normen. Die in Art. 35 SVG aufgestellten Überholregeln
sind allgemeine Bestimmungen, die auf alle Fahrzeuglenker anwendbar sind
(vgl. BUSSY/RUSCONI, Code suisse de la circulation routière, Commentaire,
3. Aufl., S. 355 N. 2.1 lit. e). Die spezielle Regel von Art. 47 SVG
betrifft hingegen nur Motorradfahrer.

    3.2.1   Gemäss Art. 35 Abs. 2 SVG sind Überholen und Vorbeifahren an
Hindernissen nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei
ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Im Kolonnenverkehr darf nur
überholen, wer die Gewissheit hat, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer
Fahrzeuge wieder einbiegen zu können. Wer eine Fahrzeugkolonne überholen
will, muss sich vergewissern, dass diese gesetzlichen Voraussetzungen im
Zeitpunkt erfüllt sind, wo er zum Überholen ansetzt. Wer keine Gewissheit
hat, bevor er das Überholmanöver einleitet, gefahrlos vor dem Ende des für
ihn sichtbaren Raums wieder einbiegen zu können, verletzt somit Art. 35
Abs. 2 SVG (BGE 121 IV 235 E. 1b S. 237; 105 IV 336 E. 2 S. 337).

    Abs. 3 von Art. 35 SVG bestimmt, dass der Überholende auf die übrigen
Strassenbenützer, namentlich jene, die er überholt, besonders Rücksicht
nehmen muss. So darf zum Beispiel in unübersichtlichen Kurven nicht
überholt werden (Art. 35 Abs. 4 SVG). Ebenso wenig darf überholt werden,
wenn ein Fahrzeugführer die Absicht anzeigt, nach links abzubiegen
(Art. 35 Abs. 5 SVG). Hingegen dürfen Fahrzeuge, die zum Abbiegen
nach links eingespurt sind, rechts überholt werden (Art. 35 Abs. 6 SVG;
vgl. BGE 125 IV 83 E. 1a S. 84).

    Überholen gehört - vorab natürlich auf Strassen mit Gegenverkehr - zu
den gefährlichsten Fahrmanövern. Die Regeln über das Überholen bezwecken
durchwegs, diese Fahrmanöver entweder zu verbieten in Situationen, in
denen sie üblicherweise übergrosse Gefahren bewirken, oder sie an eine
Reihe von Anforderungen zu knüpfen, bei deren Beachtung die zusätzlichen
Risiken minimiert werden. Überholen ist nur gestattet, wenn es nicht
überhaupt verboten ist, der nötige Raum übersichtlich und frei ist und
der Gegenverkehr nicht behindert oder gefährdet wird (RENÉ SCHAFFHAUSER,
Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. I, Grundlagen,
Verkehrszulassung und Verkehrsregeln, Bern 2002, S. 326, N. 716 f.).

    3.2.2   Gemäss Art. 47 Abs. 2 SVG haben Motorradfahrer ihren Platz in
der Fahrzeugkolonne beizubehalten, wenn der Verkehr angehalten wird. Das
Bundesgericht hat entschieden, dass diese Bestimmung in Verbindung mit
der allgemeinen Vorsichtsregel von Art. 26 SVG und den Überholregeln von
Art. 35 SVG dem sich in einer Fahrzeugkolonne befindenden Motorradfahrer
die Pflicht zum Anhalten auferlegt, wenn das Fahrzeug vor ihm oder
jenes, das er gerade überholt, anhält. Dieselbe Pflicht trifft den
Motorradfahrer, wenn die Fahrzeugkolonne sich langsam und stockend
fortbewegt und ein Fahrzeuglenker innerhalb der Kolonne aus Höflichkeit
einen anderen Verkehrsteilnehmer sich einfügen lässt (Urteil C.349/1983
vom 19. Dezember 1983, publ. in: Rep 1985 S. 27 und JdT 1984 I S. 414).
Motorradfahrer dürfen eine stehende Kolonne weder links überholen noch
rechts an ihr vorbeifahren; einzig Radfahrer und Motorfahrradführer dürfen
rechts an einer Motorfahrzeugkolonne vorbeifahren (Art. 42 Abs. 3 der
Verkehrsregelnverordnung [VRV; SR 741.11]; BUSSY/RUSCONI, aaO, S. 468
N. 2.8).

    3.3   Der Beschwerdeführer macht geltend, sein Überholmanöver sei in
Anwendung von Art. 35 Abs. 2 SVG erfolgt, da der nötige Raum übersichtlich
gewesen sei und nichts habe darauf schliessen lassen, dass sich ein
überholtes Fahrzeug verkehrsregelwidrig verhalten würde. Er beruft
sich auf Art. 35 Abs. 3 SVG und führt aus, während des regelkonformen
Überholens habe er laut Vertrauensprinzip davon ausgehen können, dass
andere Verkehrsteilnehmer sein Vortrittsrecht nicht durch ein plötzliches
Ausscheren verletzen würden. Seine Geschwindigkeit hätte ihn nicht
daran gehindert, rechtzeitig zu reagieren, wenn sich ein Fahrzeuglenker
verkehrsregelgerecht verhalten und seine Absicht, nach links abzubiegen,
angezeigt hätte.

    3.3.1   Der Beschwerdeführer beruft sich weitgehend auf
einen Sachverhalt, welcher von den Feststellungen der Vorinstanz
abweicht. Insoweit sind seine Vorbringen nicht zu hören.

    3.3.2   Die Vorinstanz hält fest, dass es zwar einem Motorradfahrer
bei einer mit einer Geschwindigkeit von bis zu 20 km/h fahrenden Kolonne
faktisch immer möglich sei, sich irgendwo wieder einzufügen, dass der
Beschwerdeführer sich aber über das Wiedereinbiegen gar keine Gedanken
gemacht habe. Da verbindlich feststeht (vgl. Art. 277bis Abs. 1 BStP),
dass er das Überholmanöver einleitete, ohne die Gewissheit zu haben, über
den nötigen Raum zwischen zwei Fahrzeugen zu verfügen, um rechtzeitig
und ohne Behinderung anderer Fahrzeuge wieder einbiegen zu können,
hat der Beschwerdeführer Art. 35 Abs. 2 SVG verletzt und dies selbst,
wenn er schliesslich doch genügend Raum gehabt hätte (vgl. E. 3.2.1).

    3.3.3   Es erhellt aus den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen,
dass die Verkehrssituation unklar war, namentlich am Unfallort, weil die
Fahrzeugkolonne seitlich verschoben war, einige Fahrzeuge still standen,
andere sich langsam bewegten und der verunfallte Fahrzeuglenker sein
Blinklicht eingeschaltet hatte. Auf der Gegenfahrbahn war die Strecke
hingegen übersichtlich und verkehrsfrei. Man kann sich deshalb fragen,
ob der Beschwerdeführer in einer derartigen Verkehrssituation nicht damit
rechnen musste, dass ein Fahrzeug wenden würde, um dem Stau zu entkommen,
und sein Verhalten daher unvorsichtig war, als er die Kolonne mit hoher
Geschwindigkeit links überholte. Diese Frage kann indessen offen bleiben,
da die Verletzung von Art. 35 Abs. 3 SVG vorliegend durch die Verletzung
von Art. 47 Abs. 2 SVG konkretisiert wird:

    Gemäss den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
herrschte stockender Verkehr und hat der Beschwerdeführer mit einer
Geschwindigkeit von 60 km/h bis 80 km/h eine zum Teil stehende, zum
Teil sehr langsam fahrende Kolonne überholt. Die Vorinstanz hält weiter
fest, dass A. innerhalb der Kolonne stillstand und die Räder nach links
eingeschlagen hatte, um zu wenden. Unter diesen Umständen waren die
Voraussetzungen von Art. 47 Abs. 2 SVG erfüllt. Der Beschwerdeführer
durfte deshalb nicht überholen, sondern musste seinen Platz in der
Kolonne beibehalten.

    Indem der Beschwerdeführer Art. 47 Abs. 2 SVG verletzt hat, hat er auch
gegen die allgemeinen Regeln betreffend das Überholen verstossen. Denn wer
ein wegen seiner Gefährlichkeit verbotenes Überholmanöver ausführt, lässt
es zugleich an der für ein solches Manöver im Allgemeinen vorgeschriebenen
nötigen Vorsicht mangeln.

    Deshalb verletzt die Vorinstanz kein Bundesrecht, wenn sie annimmt,
der Beschwerdeführer habe die Art. 35 Abs. 3 SVG entsprechende besondere
Rücksicht auf die übrigen Strassenbenützern nicht wahrgenommen, als er
diese mit übersetzter Geschwindigkeit überholte und als er dieses Manöver
einleitete, ohne die Gewissheit zu haben, wieder einbiegen zu können
(Art. 35 Abs. 2 SVG).