Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 IV 149



129 IV 149

20. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. A. und Mitb. gegen
X. (Nichtigkeitsbeschwerde)

    6S.392/2002 vom 17. Dezember 2002

Regeste

    Art. 49 OR, Art. 11 ff. OHG, Art. 271 Abs. 1 BStP; Zulässigkeit
der Nichtigkeitsbeschwerde im Zivilpunkt, Genugtuungsansprüche von
Sexualopfern.

    Die Nichtigkeitsbeschwerde ist gegen letztinstanzliche kantonale
Entscheide betreffend Entschädigung und Genugtuung gemäss Art. 11 ff. OHG
nicht zulässig (E. 1).

    Folgte der kantonalen Berufung der Zivilkläger, mit der einzig der
Zivilpunkt angefochten wurde, die Anschlussberufung des Angeklagten im
Strafpunkt, so ist die auf die Zivilansprüche beschränkte eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde der Zivilkläger zulässig (E. 2.1).

    Die Genugtuung an Sexualopfer ist zu verzinsen. Wenn das Opfer über
einen längeren Zeitraum Eingriffe in seiner sexuellen Integrität erlitten
hat, beginnt der Zinsenlauf in der Regel ab einem mittleren Zeitpunkt
(E. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 14. November 2001 verurteilte das Bezirksgericht Frauenfeld
den Angeklagten X. wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern
und mehrfacher Schändung zu einer Zuchthausstrafe von 42 Monaten. Das
Gericht verpflichtete den Angeklagten, A. Fr. 10'000.-, B. Fr. 8'000.-,
C. Fr. 8'000.-, F. Fr. 6'000.-, D. Fr. 6'000.-, E. Fr. 4'000.-,
H. Fr. 5'000.- und G. Fr. 5'000.- zu bezahlen; zur Bezahlung dieser
Genugtuungen wurde der Staat Thurgau nach OHG (SR 312.5) verpflichtet;
in diesem Umfang wurde ihm der Rückgriff auf den Angeklagten eingeräumt.

    B.- Das Obergericht des Kantons Thurgau befand mit Urteil vom
12. März 2002 die Berufungen der Opfer als teilweise begründet,
die Anschlussberufung des Angeklagten als unbegründet, erkannte
den Angeklagten der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, der
mehrfachen Vergewaltigung und der mehrfachen Schändung, begangen im Zustand
mittelgradig verminderter Zurechnungsfähigkeit, schuldig und verurteilte
ihn zu 42 Monaten Zuchthaus. Die den Opfern erstinstanzlich zugesprochenen
Genugtuungen erhöhte das Obergericht je auf den doppelten Betrag. Das
Obergericht hielt dafür, die Zusprechung des beantragten Schadenszinses ab
jeweiligem Beginn der Persönlichkeitsverletzung komme nicht in Betracht, da
es bezüglich der Bemessungssätze auf den Zeitpunkt seines Urteils abstelle.

    C.- Mit Nichtigkeitsbeschwerde vom 3. Oktober 2002 stellen die Opfer
die Anträge, der Angeklagte sei in Abänderung von Ziffer 5b des Urteils
des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 12. März 2002 zu verpflichten,
jedem Opfer eine Genugtuung von je Fr. 20'000.- zu bezahlen, zuzüglich
5% Zins ab dem Tag, wo die sexuellen Übergriffe je begonnen haben;
dementsprechend sei der Staat Thurgau in Ziffer 6 des Dispositivs für
den Fall der Uneinbringlichkeit der Ansprüche zu verpflichten, den Opfern
die Genugtuungsbeträge von je Fr. 20'000.- nebst Zins zu bezahlen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.  Die Beschwerdeführer verlangen die Aufhebung der
Dispositiv-Ziffer 6 des angefochtenen Urteils, in welcher ihnen ein
direkter Genugtuungsanspruch gegenüber dem Kanton Thurgau eingeräumt
und dem Kanton Rückgriff auf den Beschwerdegegner im Umfang der
zugesprochenen Genugtuung gewährt wird. Das Obergericht stützt sich
dabei - unter Hinweis auf die Ausführungen des Bezirksgerichts -
auf Art. 11 ff. des Opferhilfegesetzes. Entschädigung und Genugtuung
gemäss Art. 11 ff. OHG sind dem Bundesverwaltungsrecht zuzuordnen;
diesbezügliche Entscheide bilden Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwVG,
welche mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anzufechten sind (BGE 126 II
237 E. 1a S. 239; 125 II 169 E. 1 S. 171; 122 II 211 E. 1 S. 212).
Demnach ist die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde in diesem Punkt
unzulässig; sie ist nur gegeben für Zivilansprüche, die zusammen mit
der Strafklage beurteilt wurden (Art. 271 Abs. 1 Satz 1 BStP; MARTIN
SCHUBARTH, Nichtigkeitsbeschwerde 2001, Bern 2001, N. 249 f.). Auf den
Antrag der Beschwerdeführer, Ziffer 6 des Dispositivs des angefochtenen
Urteils aufzuheben, kann somit nicht eingetreten werden.

Erwägung 2

    2.  (...)

    2.1  Nach der Rechtsprechung ist die Berufung und nicht die
Nichtigkeitsbeschwerde gegeben, wenn vor der letzten kantonalen Instanz
einzig die im Strafverfahren adhäsionsweise geltend gemachte Zivilforderung
strittig war, so dass die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde im
Strafpunkt nicht ergriffen werden konnte (BGE 118 II 410 E. 1 S. 412
mit Hinweisen; SCHUBARTH, aaO, N. 251). Im vorliegenden Fall haben
zwar zunächst nur die Opfer kantonale Berufung beim Obergericht
des Kanons Thurgau eingereicht und Anträge zu den Genugtuungssummen
gestellt. Der Angeklagte hat jedoch kantonale Anschlussberufung erhoben
und darin auch Anträge zum Strafpunkt gestellt, die das Obergericht im
angefochtenen Entscheid beurteilt hat. Damit sind die Voraussetzungen
von Art. 271 Abs. 1 BStP hier erfüllt; die Nichtigkeitsbeschwerde ist
grundsätzlich zulässig und die Opfer sind als Geschädigte in Bezug auf
den Zivilanspruch, den ihre Anträge betreffend die Höhe und Verzinsung
der Genugtuungsforderung allein betreffen, zur Nichtigkeitsbeschwerde
legitimiert.

    (...)

Erwägung 4

    4.  Die Beschwerdeführer rügen sodann als Bundesrechtsverletzung,
dass ihnen kein Schadenszins zugesprochen wurde.

    4.1  Zum Schaden gehört nach konstanter Rechtsprechung der Zins
vom Zeitpunkt an, in welchem das schädigende Ereignis sich finanziell
ausgewirkt hat. Der Schadenszins läuft bis zur Zahlung des Schadenersatzes
und bezweckt, den Anspruchsberechtigten so zu stellen, wie wenn er für
seine Forderung am Tage der unerlaubten Handlung bzw. im Zeitpunkt deren
wirtschaftlichen Auswirkungen befriedigt worden wäre (BGE 122 III 53
E. 4a S. 54 mit Hinweisen). Die Genugtuung wird in der Rechtsprechung
weitgehend gleich behandelt wie der Schadenersatz, indem etwa Umstände,
die auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt haben,
und insbesondere ein Selbstverschulden des Geschädigten bei der Bemessung
durch einen entsprechenden Abzug berücksichtigt werden (BGE 123 III 306
E. 9b S. 315; 117 II 50 E. 4b S. 62; vgl. auch BGE 128 II 49 E. 4.2 S.
54) und indem namentlich die Genugtuungen ab dem massgebenden Tag des
schädigenden Ereignisses verzinst werden (vgl. BGE 118 II 404 E. 3b/bb
S. 408; 117 II 50 E. 4b S. 63; 112 II 131 E. 4d S. 138; vgl. auch BGE 125
III 269 E. 2d S. 276, wo dem Opfer entsprechend dem Antrag vor erster
Instanz ein Schadenszins von 5% ab dem Datum zugesprochen worden war,
für den es ihn beantragt hatte).

    4.2  Der Zins auf der Genugtuung ab dem Zeitpunkt des schädigenden
Ereignisses bezweckt wie der Schadenszins, den Gläubiger so zu stellen, als
wäre ihm der Geldbetrag bereits im Zeitpunkt der Persönlichkeitsverletzung
bzw. der Entstehung der seelischen Unbill zugeflossen (vgl. BGE 122
III 53 E. 4a S. 54). Der Zins bildet Teil der Genugtuung, denn diese
soll der geschädigten Person unabhängig von der Länge des Verfahrens
bis zur endgültigen Festlegung der Genugtuungssumme bzw. bis zur
Zahlung in vollem Betrag zur Verfügung stehen; der Zins soll die
vorenthaltene Nutzung des Kapitals für die Zeit zwischen dem Delikt
bzw. dessen Auswirkung auf die Persönlichkeit des Opfers und der Zahlung
ausgleichen. In der Literatur wird denn auch die Verzinsung nicht nur
des Schadenersatzes, sondern auch der Genugtuung allgemein befürwortet
(vgl. KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, Bern 1998, S. 130 f.;
BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl., N. 95 zu Art. 49 OR; OFTINGER/STARK,
Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, Zürich 1995, § 6 N. 23-25 S. 256
f.; GAUCH/SCHLUEP/REY, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner
Teil, 7. Aufl., Bd. II, N. 2791; GUHL/MERZ/KOLLER, Das Schweizerische
Obligationenrecht, Zürich 2000, § 10 N. 58 S. 79). Dem kann auch nicht mit
dem Argument begegnet werden, dass die Grössenordnung der Genugtuung nach
den im Zeitpunkt des Urteils üblichen Ansätzen bemessen wird. Zwar hat das
Bundesgericht den Vorschlag in Betracht gezogen, entweder zusätzlich zu der
nach den Ansätzen am Verletzungstag bemessenen Summe einen Zinsanspruch
zuzusprechen oder eine Genugtuung nach den Ansätzen am Urteilstag ohne
Zins festzulegen (BGE 116 II 295 E. 5b S. 299 f.). Ob diese Alternative
überhaupt richtig sei, erscheint zweifelhaft, da angesichts des weiten
Ermessens bei der Festlegung der Genugtuungssummen fragwürdig erscheint,
von "Ansätzen" zu sprechen und bei einer generellen Veränderung in der
Grössenordnung der zugesprochenen Summen nach allgemeinen Grundsätzen
sämtliche noch nicht rechtskräftig entschiedenen Fälle gemäss der neuen
Praxis zu entscheiden sind (Urteil 4C.379/1994 vom 21. August 1995,
E. 7 mit Hinweis auf BGE 119 Ib 103 E. 1b S. 107; vgl. auch KELLER,
aaO). Im vorliegenden Fall steht dieser Ansicht aber schon der Umstand
entgegen, dass die Grössenordnung der zugesprochenen Genugtuungen im
hier massgebenden Zeitraum seit 1994 keine grundlegende Änderung erfahren
hat. Die im angefochtenen Urteil zugesprochenen Summen halten sich denn
auch durchaus in diesem Rahmen und liegen jedenfalls nicht derart an der
oberen Grenze, dass der Zins als enthalten gelten könnte (vgl. BGE 125
III 269 E. 2 S. 273/274).

    4.3  Die Rüge der Beschwerdeführer ist insofern begründet; es steht
ihnen auf den zugesprochenen Genugtuungssummen ein Zins von 5% (Art. 73
OR) seit dem sie schädigenden bzw. Unbill verursachenden Delikt zu. Als
Zeitpunkt der Persönlichkeitsverletzung kann indes entgegen ihrer Ansicht
nicht die erste deliktische Handlung gelten. Dem widerspricht die Bemessung
der Genugtuung nach der Gesamtheit der persönlichkeitsverletzenden
Eingriffe in die sexuelle Integrität der Beschwerdeführer, in deren
Rahmen sowohl allfällige verschiedene Verletzungen wie insbesondere
auch der Zeitraum, während dessen die Eingriffe stattgefunden haben,
ebenso zu berücksichtigen sind, wie schliesslich die Auswirkungen
der gesamten Verletzungen auf ihre Persönlichkeit. Die Entstehung der
seelischen Unbill ist mit der ersten Persönlichkeitsverletzung nicht
abgeschlossen, wenn darauf weitere - allenfalls schwerer wiegende und
schon wegen der Wiederholung meist nachhaltiger beeinträchtigende
- Persönlichkeitsverletzungen folgen. Anderseits kann auch nicht
allgemein davon ausgegangen werden, dass die schliesslich entscheidende
Beeinträchtigung der Persönlichkeit erst mit der letzten begangenen
Verletzung abgeschlossen und eingetreten sei. In der Regel ist daher bei
mehreren Verletzungen über einen längeren Zeitraum ein mittlerer Zeitpunkt
für die gesamte Verletzung als massgebend anzusehen. Der Zeitpunkt der
Entstehung der seelischen Unbill ist somit mangels besonderer Umstände
auf die Mitte des Zeitraums festzulegen, während dessen der Täter
die Beschwerdeführer zu verschiedenen Zeitpunkten und auf teilweise
unterschiedliche Weise missbraucht hat.

    4.4  Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil hat der
Beschwerdegegner die persönlichkeitsverletzenden Handlungen gegenüber
den Opfern in folgenden Zeiträumen begangen: Gegen A. ab Frühling/Sommer
1994 bis Juli/August 1995, gegen B. von Sommer bis Ende Dezember 1994,
gegen C. von 1996 bis anfangs 2000, gegen F. ab Herbst 1995 bis Frühling
2000, gegen D. ab 1996 bis Oktober 2000, gegen E. ab 1999 bis Oktober
2000, gegen H. ab Winter 1994 bis Mai 1995 und gegen G. von Ende 1994
bis Januar 2001. Dies ergibt folgende für den Beginn des Zinsenlaufs
massgebende mittlere Zeitpunkte:

    A.:     01.03.1994 bis 01.09.1995: 01.11.1994;

    B.:     01.06.1994 bis 31.12.1994: 01.09.1994;

    C.:     01.01.1996 bis 01.01.2000: 01.01.1998;

    F.:     01.09.1995 bis 01.03.2000: 01.06.1998;

    D.:     01.01.1996 bis 01.10.2000: 01.05.1998;

    E.:     01.01.1999 bis 01.10.2000: 01.12.1999;

    H.:     01.09.1994 bis 01.05.1995: 01.01.1995;

    G.:     01.12.1994 bis 01.02.2001: 01.01.1998.

    4.5  Die Nichtigkeitsbeschwerde ist in Bezug auf die Zinsen teilweise
gutzuheissen. Dementsprechend ist das angefochtene Urteil in Ziffer 5b
aufzuheben und den Opfern sind folgende Genugtuungssummen zuzusprechen:

    A.     Fr. 20'000.- nebst 5% Zins seit 01.11.1994;

    B.     Fr. 16'000.- nebst 5% Zins seit 01.09.1994;

    C.     Fr. 16'000.- nebst 5% Zins seit 01.01.1998;

    F.     Fr. 12'000.- nebst 5% Zins seit 01.06.1998;

    D.     Fr. 12'000.- nebst 5% Zins seit 01.05.1998;

    E.     Fr.  8'000.- nebst 5% Zins seit 01.12.1999;

    H.     Fr. 10'000.- nebst 5% Zins seit 01.01.1995;

    G.     Fr. 10'000.- nebst 5% Zins seit 01.01.1998.