Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 IV 1



129 IV 1

1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen D. und
Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg (Nichtigkeitsbeschwerde)

    6S.79/2002 vom 7. November 2002

Regeste

    Art. 122 Abs. 2 und Art. 123 Ziff. 2 StGB; schwere Körperverletzung
und qualifizierte einfache Körperverletzung.

    Ein wichtiges Organ oder Glied ist im Sinne des Gesetzes nur
unbrauchbar, wenn es in seinen Grundfunktionen erheblich gestört ist; eine
zwar dauerhafte, aber nur leichte Beeinträchtigung genügt nicht (E. 3.2).

    Der "Sklave" eines sadomasochistischen Sexspiels kann unter bestimmten
Umständen als wehrlos im Sinne von Art. 123 Ziff. 2 StGB gelten; in casu
liegt Wehrlosigkeit nicht vor (E. 3.3).

Sachverhalt

    A.- Im Jahr 1996 liess sich X. einen Piercing-Ring von 2,8 cm
Durchmesser und 3 mm Stärke in den Penis einsetzen. Als regelmässiger Kunde
suchte er am 16. September 1997 D. auf, welche in Freiburg einen Salon
für sadomasochistische Praktiken betreibt und dabei als Domina auftritt.

    Im Rahmen der an diesem Tag vollzogenen Handlungen kniete X. mit auf
dem Rücken gefesselten Händen am Boden. Vorher hatte er den Piercing-Ring
an seinem Penis mit einer Kette verbinden lassen, deren anderes Ende an
einem Bett befestigt war. Als D. ihn aufforderte aufzustehen, erhob sich
X. Weil die Kette zu kurz war, wurde der Ring dabei aus seinem Penis
ausgerissen. X. musste sich deswegen in ärztliche Behandlung begeben
und in der Folge mehrere operative Eingriffe an seinem Penis vornehmen
lassen. Der Penis konnte nicht vollständig wiederhergestellt werden:
X.s Harnstrahl ist seither gefächert und zweigeteilt.

    B.- Am 16. April 2000 erhob X. Strafanzeige gegen D. wegen schwerer
Körperverletzung und weiterer Delikte. Er stellte gleichzeitig
Strafantrag. Am 23. Mai 2000 reichte er im Strafverfahren gegen
D. adhäsionsweise eine Zivilforderung im Umfang von Fr. 5'568.75 ein.

    C.- Mit Verfügung vom 11. Mai 2001 stellte der zuständige
Untersuchungsrichter das Verfahren ein, nachdem er die Beteiligten und
zwei Zeuginnen einvernommen und einen Augenschein durchgeführt hatte. Er
auferlegte die aufgelaufenen Verfahrenskosten D. und X. je zur Hälfte.

    D.- Mit Schreiben vom 13. Juni 2001 erhob X.  Beschwerde gegen die
Einstellungsverfügung bei der Strafkammer des Kantonsgerichts Freiburg. Das
Kantonsgericht wies die Beschwerde mit Entscheid vom 16. Januar 2002 ab.

    E.- X. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
der Entscheid des Kantonsgerichts sei aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.

    3.1  Gemäss Art. 29 StGB ist ein Strafantrag vor Ablauf einer Frist von
drei Monaten nach Bekanntwerden der Tat zu stellen. Der Beschwerdeführer
liess nach seiner Verletzung mehr als zwei Jahre verstreichen, bis er
Strafantrag stellte. Soweit vorliegend Antragsdelikte in Frage kamen,
erfolgte der Strafantrag zu spät. Es kann deshalb offen bleiben, wie der
Vorfall strafrechtlich zu bewerten wäre, wenn der Strafantrag rechtzeitig
gestellt worden wäre.

    Die angezeigte Tat könnte deshalb nur noch unter dem Gesichtspunkt
eines Offizialdeliktes verfolgt werden. Eine Körperverletzung ist von
Amtes wegen zu verfolgen, wenn sie schwer ist; dabei ist unerheblich,
ob die Tat vorsätzlich, Art. 122 StGB, oder fahrlässig, Art. 125 Abs. 2
StGB, begangen wurde. Eine einfache vorsätzliche Körperverletzung ist in
Anwendung von Art. 123 Ziff. 2 StGB von Amtes wegen zu verfolgen, wenn sie
mit Gift, einer Waffe oder einem gefährlichen Gegenstand zugefügt worden
ist oder wenn das Opfer wehrlos war beziehungsweise unter der Obhut des
Täters stand.

    3.2  Der Begriff der schweren Körperverletzung stellt einen
auslegungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff dar. Steht ein Grenzfall
zur Diskussion, weicht das Bundesgericht insoweit nur mit einer gewissen
Zurückhaltung von der Auffassung der Vorinstanz ab (vgl. BGE 115 IV 17
E. 2b; Analoges gilt für die Abgrenzung von Tätlichkeit und einfacher
Körperverletzung und für die Prüfung der Frage, ob ein leichter Fall
im Sinne von Art. 123 Ziff. 1 Abs. 2 StGB vorliege, vgl. BGE 127 IV 59
E. 2a/bb).

    Die Vorinstanz qualifiziert die erlittene Verletzung als einfach
im Sinne von Art. 123 Ziff. 1 StGB. Zwar könne der Penis als wichtiges
Organ im Sinne des Gesetzes gelten, doch sei dessen Verletzung nur dann
als schwer zu taxieren, wenn er verstümmelt oder unbrauchbar gemacht
worden wäre. Davon könne jedoch nur bei dessen Verlust oder bei dauernder
Beeinträchtigung seiner Funktion gesprochen werden, eine geringfügige
Einschränkung seiner Funktion genüge den gesetzlichen Anforderungen
nicht. Zwar liege eine operativ nicht behebbare und daher bleibende
Schädigung insofern vor, als der Harnstrahl des Beschwerdeführers gefächert
und zweigeteilt sei, doch seien die urinale und die sexuelle Grundfunktion
intakt, den Beschwerdeführer werde "einzig Zeit seines Lebens jeweils
beim Wasserlassen und beim Höhepunkt der sexuellen Lust der zweite Strahl
begleiten, ohne dass ihm dadurch weitere Unannehmlichkeiten erwachsen
würden". Der Entscheid der Vorinstanz, die Verletzung des Beschwerdeführers
nicht als schwer zu qualifizieren, ist im Lichte des Gesetzes und der
Rechtsprechung zum Begriff der schweren Körperverletzung auf jeden Fall
vertretbar, auch wenn eine dauernde und nicht behebbare Beeinträchtigung
vorliegt. Objektiv wiegt die Verletzungsfolge nicht schwer.

    Für die Beurteilung der Verletzungsschwere können auch die psychische
Betroffenheit des Geschädigten und insbesondere die Schädigung seiner
geistigen Gesundheit von Bedeutung sein. Soweit der Beschwerdeführer
den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt diesbezüglich ergänzt,
kann auf seine Eingabe im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde nicht
eingetreten werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP): Die Vorinstanz stellt
weder fest, der Beschwerdeführer sei von der Verletzung subjektiv in
besonderer Weise betroffen, noch stellt sie fest, dass die Verletzung zu
einer Schädigung der geistigen Gesundheit des Beschwerdeführers geführt
hat. Auf die Beschwerde kann auch insoweit nicht eingetreten werden,
als der Beschwerdeführer den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt
in anderer Weise ergänzt.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz mit der
Qualifikation der Verletzungsschwere Bundesrecht nicht verletzt.

    3.3  Die qualifizierten Begehungsweisen einfacher Körperverletzung nach
Art. 123 Ziff. 2 StGB sind nur von Amtes wegen zu verfolgen, wenn Vorsatz
gegeben ist. Der Untersuchungsrichter hat die Vorsatzfrage eingehend
geprüft und verneint. Die Vorinstanz weist auf die entsprechenden
Erwägungen in der Einstellungsverfügung hin, äussert sich dazu selbst
jedoch nicht. Sie lässt - wie der Beschwerdeführer auch - die Frage
offen und prüft unter dem hypothetischen Gesichtspunkt, dass der Vorsatz
vorliegen würde, die Rechtsfrage nach den Tatbestandsmerkmalen von Art. 123
Ziff. 2 StGB.

    Die Vorinstanz verneint zu Recht die Tatbestandsvarianten gemäss
Art. 123 Ziff. 2 Abs. 1 StGB. Zu prüfen ist vorliegend allein die
Tatbestandsvariante der Wehrlosigkeit gemäss Art. 123 Ziff. 2 Abs. 2 StGB.

    Wehrlos im Sinne von Art. 123 Ziff. 2 StGB ist, wer nicht in der Lage
ist, sich gegen eine schädigende Einwirkung zur Wehr zu setzen ("hors
d'état de se défendre"). Nach dem Gesetz braucht die Wehrlosigkeit nicht
durch körperliche oder seelische Besonderheiten wie Alter, Körperschwäche,
Krankheit oder Gebrechlichkeit bedingt zu sein. Das Gesetz verlangt auch
nicht, dass das Opfer ausserstande sei, sich jedem beliebigen Angriff
zu entziehen, dass die Wehrlosigkeit mithin eine absolute sein müsste,
damit das qualifizierende Tatbestandsmerkmal bejaht werden könnte. Es
genügt, wenn sich das Opfer gegenüber seinem Angreifer und der Handlung,
mit der dieser es bedroht, nicht mit einiger Aussicht auf Erfolg zur Wehr
setzen kann (vgl. BGE 85 IV 125 E. 4b = Pra 48/1959 Nr. 186 S. 510).

    In einer generellen Überlegung stellt die Vorinstanz zunächst fest,
der Sklave eines sadomasochistischen Sexspiels könne nicht als wehrlos im
Sinne von Art. 123 Ziff. 2 StGB gelten, da andernfalls alle entsprechenden
Praktiken mit Verletzungsfolge als an einem Wehrlosen begangen betrachtet
und von Amtes wegen verfolgt werden müssten. Dies könne nicht die ratio
legis sein.

    Der Beschwerdeführer kritisiert diese Auffassung zu Recht.  Ob eine
bestimmte Körperverletzung strafbar ist oder nicht, kann nicht allein
davon abhängen, ob sie im Rahmen sadomasochistischer Knebelungspraktiken
zugefügt wurde. Auch wer sich freiwillig fesseln lässt, kann unter
bestimmten Umständen als wehrlos unter den strafrechtlichen Schutz
von Art. 123 Ziff. 2 StGB fallen; entscheidend ist allein, ob der
Betreffende in eine ihm vorsätzlich zugefügte einfache Körperverletzung
eingewilligt hat. Insofern geht die Vorinstanz fehl, wenn sie in
kategorischer Weise feststellt, es sei nicht ratio legis, den Sklaven
eines Sadomasochismusspiels als wehrlos dem Schutzbereich von Art. 123
Ziff. 2 StGB zuzuordnen, weil andernfalls alle sadomasochistischen
Knebelungspraktiken, welche zu einer Verletzung führen, von Amtes wegen
verfolgt werden müssten. Dagegen ist festzuhalten, dass derjenige, welcher
eine Person, die sich freiwillig fesseln liess, vorsätzlich in einfacher
Weise verletzt, ohne dass der Betroffene eingewilligt hätte, sich nach
Art. 123 Ziff. 2 StGB ohne weiteres strafbar machen kann (vgl. dazu auch
BGE 114 IV 100, wo allerdings nicht eine einfache Körperverletzung,
sondern ein Todesfall zu beurteilen war, der im Rahmen einer sexuell
motivierten freiwilligen Fesselung eintrat).

    Die Fehlerhaftigkeit der generellen vorinstanzlichen Erwägung zum
Begriff der Wehrlosigkeit ist jedoch für die vorliegend zu beurteilende
konkrete Konstellation nicht von Belang, weil die Tatsachenfeststellungen
im angefochtenen Entscheid und die Akten insgesamt gegen die Annahme
tatsächlicher Wehrlosigkeit sprechen.

    Die Vorinstanz stellt fest, dass der Beschwerdeführer auf einfache
Aufforderung der Beschwerdegegnerin hin freiwillig aufstand; die
Bewegung, mit welcher er sich seine Verletzung zuzog, war in seinem
Willens- und Herrschaftsbereich. Dass er keine andere Wahl gehabt hätte,
als der Aufforderung zu gehorchen, ist weder ersichtlich noch macht der
Beschwerdeführer dies geltend. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass er
sich aus physischen oder psychischen Gründen so verhalten musste, dass
er sich nicht anders hätte verhalten können, als er es faktisch tat. Er
hätte sich ohne weiteres widersetzen können. Der Beschwerdeführer selbst
gab in der Voruntersuchung an, im entscheidenden Moment davon ausgegangen
zu sein, dass die Kette nicht mehr mit dem Piercing-Ring verbunden war. Er
legt damit implizit dar, dass er sich anders verhalten hätte, wenn er sich
im Klaren darüber gewesen wäre, immer noch angekettet zu sein. Allein der
Umstand, dass er fälschlicherweise davon ausging, nicht mehr angekettet
zu sein, vermag seine Wehrlosigkeit im Sinne des Gesetzes jedoch nicht
zu begründen.

    3.4  Da ein gültiger Strafantrag fehlt und keine Variante einer
von Amtes wegen zu verfolgenden Körperverletzung vorliegt, hat die
Vorinstanz mit der Bestätigung der Einstellungsverfügung kein Bundesrecht
verletzt. Die Beschwerde ist demnach abzuweisen.