Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 II 49



129 II 49

4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Kanton Zürich und Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

    1A.59/2002 vom 7. Oktober 2002

Regeste

    Art. 45 Abs. 3 OR, Art. 11 ff. OHG; Tötung des Vaters,
Versorgerschaden, Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz.

    An die Substantiierung eines Gesuchs um opferhilferechtliche
Entschädigung dürfen keine strengen Anforderungen gestellt werden (E. 4.1).

    Die Entschädigung beschränkt sich nicht auf den in den ersten Monaten
nach der Straftat entstandenen Schaden (E. 4.2).

    Die Alimentenbevorschussung durch das Gemeinwesen ist bei
der Ermittlung des Versorgerschadens zu berücksichtigen. Ist die
Halbwaisenrente geringer als der Unterhaltsbeitrag, der dem Kind ohne die
Tötung aufgrund der Alimentenbevorschussung zugekommen wäre, erleidet es
einen Versorgerschaden (E. 4.3).

Sachverhalt

    X., geboren 1992, ist der Sohn von Y.  Dieser wurde am 22. Januar
1997 ermordet.

    Am 8. Januar 1999 ersuchte X. die Direktion der Justiz und des
Innern des Kantons Zürich, Kantonale Opferhilfestelle, um Entschädigung
und Genugtuung.

    Mit Verfügung vom 14. Juni 2001 hiess die Kantonale Opferhilfestelle
das Gesuch um Genugtuung im Umfang von Fr. 30'000.- gut. Das Gesuch um
Entschädigung wies sie ab.

    Gegen die Abweisung des Gesuchs um Entschädigung erhob X.  Beschwerde
beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Dieses wies die
Beschwerde mit Urteil vom 30. Januar 2002 ab.

    X. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Sozialversicherungsgerichtes und die Verfügung der
Kantonalen Opferhilfestelle im Entschädigungspunkt seien aufzuheben;
der Beschwerdegegner sei zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine
Entschädigung von Fr. 54'540.- nebst Zins zu 5% seit dem 22. Januar 1997
zu bezahlen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde, soweit es darauf eintritt,
teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Hilfe nach dem Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an
Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) erhält jede Person,
die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen
Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), unabhängig davon,
ob der Täter ermittelt worden ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat
(Art. 2 Abs. 1 OHG). Die Kinder des Opfers werden diesem gleichgestellt
unter anderem bei der Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung nach
Art. 11-17 OHG, soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen
(Art. 2 Abs. 2 lit. c OHG).

    Gemäss Art. 45 Abs. 3 OR haben Personen, die durch die Tötung ihren
Versorger verloren haben, Anspruch auf Schadenersatz. Ziel dieser
Bestimmung ist es, die Einkommensverhältnisse, wie sie sich ohne den
Tod des Versorgers gestaltet hätten, annähernd zu erhalten, damit die
anspruchsberechtigten Hinterlassenen ihre Lebensführung nicht wesentlich zu
ändern brauchen (BGE 112 II 87 E. 2b; 108 II 434 E. 2a und 102 II 90 E. 2b,
je mit Hinweisen). Es ist die hypothetische Vermögenslage einer Person
ohne den vorzeitigen Tod ihres Versorgers festzustellen und mit jener
nach dem schädigenden Ereignis zu vergleichen (BGE 101 II 257 E. 1a).

    Der Versorgerschaden fällt unter den Schadensbegriff von Art. 12
Abs. 1 und Art. 13 OHG (BGE 126 II 237; Urteil des Bundesgerichts
1A.163/2000 vom 8. November 2000, E. 2d; GOMM/STEIN/ZEHNTNER, Kommentar
zum Opferhilfegesetz, Bern 1995, Art. 13 OHG N. 4).

Erwägung 3

    3.

    3.1  Die Ehe der Eltern des Beschwerdeführers wurde mit Urteil
des Bezirksgerichts Zürich vom 23. November 1995 für die Dauer von
zwei Jahren getrennt. Der Beschwerdeführer wurde unter die Obhut der
Mutter gestellt. Der Vater wurde verpflichtet, für den Beschwerdeführer
monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 450.- zu bezahlen, rückwirkend ab
1. Oktober 1995.

    Die Vorinstanz nimmt an, der Beschwerdeführer habe den über die
zweijährige Trennungszeit hinausgehenden Versorgerschaden ungenügend
substantiiert. Soweit die geforderte Entschädigung die Zeit nach November
1997 betreffe, sei die Beschwerde deshalb abzuweisen.

    Die Vorinstanz fügt dem bei, der Beschwerdeführer hätte auch bei
genügender Substantiierung nicht in jedem Fall Anspruch auf vollständigen
Ersatz durch die Opferhilfe gehabt. Denn die Entschädigung nach dem
Opferhilfegesetz sei mit der nach dem Obligationenrecht nur gleichzusetzen,
soweit damit die in den Monaten nach der Straftat entstandenen und
mit dieser in adäquatem Kausalzusammenhang stehenden Schwierigkeiten
abgedeckt würden.

    Die Vorinstanz legt sodann dar, der Vater sei der Unterhaltspflicht
nur teilweise nachgekommen. Die Alimentenzahlungen von Fr. 450.- hätten vom
Gemeinwesen bevorschusst werden müssen. Vom Vater habe auf dem Regressweg
lediglich ein Betrag von gut Fr. 100.- pro Monat erhältlich gemacht werden
können. Für den Versorgerschaden sei dieser letztere Betrag massgebend,
nicht die Alimentenbevorschussung von Fr. 450.- pro Monat. Da die dem
Beschwerdeführer seit dem Tod des Vaters zukommende Halbwaisenrente von
Fr. 295.- pro Monat über dem Betrag von gut Fr. 100.- liege, sei dem
Beschwerdeführer kein Versorgerschaden entstanden.

    3.2  Der Beschwerdeführer macht geltend, sämtliche diese Erwägungen
verletzten Bundesrecht.

Erwägung 4

    4.

    4.1  Gemäss Art. 16 OHG, der sich im Abschnitt des Opferhilfegesetzes
über die Entschädigung und Genugtuung befindet, sehen die Kantone ein
einfaches, rasches und kostenloses Verfahren vor (Abs. 1). Die Behörde
stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest (Abs. 2).

    Art. 16 Abs. 1 und 2 OHG sollen es dem Opfer ermöglichen, rasch
und auf unbürokratische Weise einen Entschädigungsentscheid zu erwirken
(Botschaft zum Opferhilfegesetz vom 25. April 1990, BBl 1990 II 993). Nach
der Rechtsprechung können an die Substantiierung eines Gesuchs nach Art. 11
ff. OHG keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden (BGE 126 II
97 E. 2c S. 101). Das Opfer trifft keine Beweislast im zivilrechtlichen
Sinne (GOMM/STEIN/ZEHNTNER, aaO, Art. 16 OHG N. 13).

    Der Beschwerdeführer hat im Entschädigungsgesuch vom 8.  Januar
1999 und in der Beschwerde vom 15. August 2001 an die Vorinstanz den
Versorgerschaden aus seiner Sicht im Einzelnen berechnet. Damit hat er
seiner Substantiierungspflicht Genüge getan. Wenn die Vorinstanz der
Auffassung gewesen wäre, dass ihr einzelne Elemente zur Berechnung des
Schadens für die Zeit nach November 1997 fehlten, wäre es ihre Sache
gewesen, diese Elemente von Amtes wegen zu erheben. Gegebenenfalls hätte
sie den Beschwerdeführer insoweit zur Mitwirkung auffordern können, wozu er
verpflichtet gewesen wäre (BGE 126 II 97 E. 2e). Was insbesondere die Höhe
der mutmasslichen Unterhaltsbeiträge des Vaters für die Zeit nach November
1997 angeht, hätte die Vorinstanz - wenn sie der Ansicht gewesen wäre, dass
der Berechnung des Beschwerdeführers insoweit nicht gefolgt werden könne -
unter Berücksichtigung der Umstände selber einen Betrag festsetzen müssen.

    Die Beschwerde ist in diesem Punkt begründet.

    4.2  Das angefochtene Urteil verletzt ebenso Bundesrecht, soweit die
Vorinstanz annimmt, Entschädigung nach dem Opferhilferecht sei nur zu
leisten, soweit damit der in den Monaten nach der Straftat entstandene
Schaden gedeckt werde. Bei der Entschädigung nach Art. 11 ff. OHG geht
es nicht um Soforthilfe, welche bezweckt, die Schwierigkeiten des Opfers
in der ersten Zeit nach der Straftat zu bewältigen. Die Entschädigung
geht darüber hinaus. Sie soll vermeiden, dass das Opfer seinen Schaden
alleine trägt, wenn der Straftäter unbekannt, flüchtig, zahlungs- oder
urteilsunfähig ist (BGE 125 II 169 E. 2b/aa). Dabei ist der gesamte
Schaden ins Blickfeld zu nehmen. Eine Begrenzung der opferhilferechtlichen
Entschädigung ist nur zulässig, soweit das Gesetz dies vorsieht. Das
Opferhilfegesetz und die Verordnung vom 18. November 1992 über die Hilfe
an Opfer von Straftaten (Opferhilfeverordnung, OHV; SR 312.51) begrenzen
die Entschädigung erstens durch Berücksichtigung der Einnahmen des Opfers
(Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 OHG), zweitens durch die Subsidiarität
der staatlichen Leistung (Art. 14 OHG), drittens durch Festlegung des
Höchstbetrages von Fr. 100'000.- (Art. 4 Abs. 1 OHV). Eine zeitliche
Begrenzung der Schadensdeckung sehen Gesetz und Verordnung nicht vor. Hätte
der Gesetzgeber insoweit eine Schranke setzen wollen, hätte er dies im
Gesetz oder der Verordnung zum Ausdruck bringen müssen.

    Die vorinstanzliche Rechtsauffassung hat das Bundesgericht im Übrigen
implizit bereits abgelehnt in BGE 126 II 237, wo es um die Berechnung
des Versorgerschadens ging. Eine zeitliche Begrenzung der Schadensdeckung
auf die ersten Monate nach der Straftat wird dort nicht vorgenommen.

    Die Beschwerde ist auch insoweit begründet.

    4.3

    4.3.1  Die Vorinstanz ist, wie dargelegt, der Ansicht, die
Alimentenbevorschussung durch das Gemeinwesen sei bei der Ermittlung des
Versorgerschadens nicht zu berücksichtigen.

    Das Bundesgericht hatte bisher zu dieser Frage nicht Stellung zu
nehmen. Im Schrifttum hat sich, soweit ersichtlich, einzig ALFRED KELLER
dazu geäussert. Er legt dar, es sei erforderlich, dass die Versorgung
wirklich, d.h. mit genügender Wahrscheinlichkeit geleistet worden wäre,
dass also der Verstorbene die Möglichkeit und den Willen dazu besessen
hätte. Selbst ein Scheidungs- oder Vaterschaftsurteil gebe noch keine
Gewähr, dass die festgesetzten Beträge bezahlt worden wären. Immerhin sei
daran zu denken, dass bei Nichtbezahlung der Alimente möglicherweise das
Gemeinwesen in die Bresche gesprungen wäre (Haftpflicht im Privatrecht,
Bd. II, 2. Aufl., Bern 1998, S. 80). KELLER ist damit offenbar der
Auffassung, dass vom Gemeinwesen geleistete Alimentenbevorschussungen
bei der Berechnung des Versorgerschadens zu berücksichtigen sind.

    4.3.2  Der Begriff des Schadens ist im Opferhilferecht der gleiche
wie im Haftpflichtrecht (EVA WEISHAUPT, Finanzielle Ansprüche nach
Opferhilfegesetz, in: SJZ 98/2002 S. 327 mit Hinweisen). Schaden im
Rechtssinne ist die Differenz zwischen dem gegenwärtigen, nach dem
schädigenden Ereignis festgestellten Vermögensstand und dem Stand, den das
Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte, bzw. die Differenz zwischen
den Einkünften, die nach dem schädigenden Ereignis tatsächlich erzielt
worden sind und denjenigen, die ohne dieses Ereignis zugeflossen wären
(BGE 127 III 403 E. 4a mit Hinweisen). Für den vorliegenden Fall bedeutet
dies Folgendes: Der Beschwerdeführer erhielt seit der Tötung des Vaters
eine Halbwaisenrente von Fr. 295.-. Ohne die Tötung hätte er aufgrund
der staatlichen Alimentenbevorschussung den vollen Unterhaltsbeitrag von
Fr. 450.- erhalten. Dem Beschwerdeführer ist damit ein Schaden entstanden,
der ihm nach Art. 45 Abs. 3 OR zu ersetzen ist.

    Der Umstand, dass der überwiegende Teil des dem Beschwerdeführer
zugekommenen Unterhalts aufgrund der Alimentenbevorschussung durch das
Gemeinwesen finanziert wurde und voraussichtlich auch in Zukunft finanziert
worden wäre, ändert daran nichts. Bei der Alimentenbevorschussung,
die zur öffentlichen Fürsorge gehört, richtet das Gemeinwesen anstelle
und auf Rechnung der säumigen Eltern die Leistungen aus, deren das Kind
für seinen Unterhalt bedarf (CYRIL HEGNAUER, Berner Kommentar, 1997,
Art. 293 ZGB N. 22 f. und 27). Das Gemeinwesen erfüllt also die Schuld des
Unterhaltspflichtigen. Dafür geht der Unterhaltsanspruch des Kindes auf
das Gemeinwesen über (HEGNAUER, aaO, N. 22). Woher die Unterhaltszahlung
stammt, braucht den Unterhaltsberechtigten nicht zu kümmern. So erwog
das Bundesgericht bereits in BGE 74 II 202 für die Frage, ob eine Tochter
als Versorgerin ihrer Mutter zu gelten habe, sei es unerheblich, ob die
Tochter die betreffenden Mittel zunächst vom Ehemann erhalten und dann
an die Mutter weitergegeben habe, oder ob der Ehemann die Zuwendung
an die Schwiegermutter unmittelbar vorgenommen habe (E. 7). Unter
Hinweis auf diesen Entscheid bemerkt KELLER (aaO, S. 81), dass es
unerheblich sei, woher das dem Versorgten zugegangene Geld komme. Für den
Unterhaltsberechtigten ist unter schadensrechtlichen Gesichtspunkten in
der Tat entscheidend, dass die Unterhaltsleistung - von wem auch immer
- erbracht wurde und in Zukunft ohne den Tod des Unterhaltspflichtigen
weiterhin erbracht worden wäre. Ob der Unterhaltspflichtige die Zahlung
selbst geleistet oder ob das an seiner Stelle das Gemeinwesen oder sonst
jemand - z.B. eine den Beteiligten nahe stehende Person - getan hätte,
ist insoweit belanglos.

    Folgendes kommt hinzu: Art. 45 Abs. 3 OR bezweckt, wie gesagt (E. 2),
die Einkommensverhältnisse, wie sie sich ohne den Tod des Versorgers
gestaltet hätten, annähernd zu erhalten, damit der anspruchsberechtigte
Hinterlassene seine Lebensführung nicht wesentlich zu ändern braucht. Der
Beschwerdeführer kann seine bisherige Lebensführung nur dann ohne
wesentliche Änderung beibehalten, wenn ihm die Differenz zwischen der
Halbwaisenrente und dem Unterhaltsbeitrag von Fr. 450.- erstattet wird.

    Zu berücksichtigen ist im vorliegenden Zusammenhang auch das
Europäische Übereinkommen vom 24. November 1983 über die Entschädigung für
Opfer von Gewalttaten (SR 0.312.5), das für die Schweiz am 1. Januar 1993
in Kraft getreten ist. Nach Art. 4 des Übereinkommens muss die staatliche
Entschädigung je nach Lage des Falles unter anderem zumindest decken:
bei Unterhaltsberechtigten den Ausfall von Unterhalt. Diese Bestimmung
spricht ebenfalls dafür, dass es auf die Sicht des Versorgten ankommt. Ist
die Halbwaisenrente geringer als der Unterhaltsbeitrag, der ihm ohne
die Straftat zugegangen wäre, erleidet er einen Ausfall von Unterhalt,
der nach Art. 4 des Übereinkommens zu ersetzen ist.

    Die Beschwerde ist in diesem Punkt ebenfalls begründet.

Erwägung 5

    5.

    5.1  Das vorinstanzliche Urteil ist aufzuheben.

    Die Berechnung des Versorgerschadens im vorliegenden Fall ist
nicht spruchreif. Das gilt schon deshalb, weil unklar ist, wieweit der
Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse der
Mutter auch nach Ablauf der zweijährigen Trennungszeit noch Anspruch
auf Alimentenbevorschussung gehabt hätte. Die Zusprechung der geltend
gemachten Fr. 54'540.- nebst Zins durch das Bundesgericht fällt deshalb
ausser Betracht. Insoweit ist die Beschwerde abzuweisen.

    Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 114 Abs. 2
OG). Diese wird unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze
den Versorgerschaden zu ermitteln haben.