Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 III 94



129 III 94

16. Auszug aus dem Urteil der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer
i.S. Verein IG gemäss Option 96/Option 2000 freigestellter Mitarbeiter
und N. (Beschwerde)

    7B.151/2002 vom 2. Dezember 2002

Regeste

    Rundschreiben des provisorischen Sachwalters der SAirGroup an die
Frühpensionierten der Swissair-Gruppe (Art. 295 und 298 SchKG).

    Frage offen gelassen, ob das Rundschreiben als mit Beschwerde
anfechtbare Verfügung des provisorischen Sachwalters zu qualifizieren ist
(E. 3.1).

    Eine Weisung des provisorischen Sachwalters, wonach die zur SAirGroup
gehörenden Gesellschaften, denen eine provisorische Nachlassstundung
gewährt worden ist, die Zahlungen an ihre Frühpensionierten einzustellen
hätten, ist weder kompetenz- noch sonst wie bundesrechtswidrig (E. 3.2).

Sachverhalt

    In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre trafen die zur SAirGroup
gehörenden Gesellschaften mit einer Reihe ihrer Angestellten als "Option
96" bzw. "Option 2000" bezeichnete Regelungen, wonach die Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen von der weiteren Verpflichtung zur Arbeitsleistung
freigestellt wurden und bis zum jeweiligen Eintritt in das ordentliche
Pensionsalter einen reduzierten Lohn ausbezahlt erhalten sollten.

    Den Gesellschaften wurde anfangs Oktober 2001 die provisorische
Nachlassstundung bewilligt. Am 24. Oktober 2001 richtete der als
provisorischer Sachwalter eingesetzte Rechtsanwalt lic. iur. Karl
Wüthrich ein Schreiben an die "Frühpensionierten gemäss Sozialplan der
Swissair-Gruppe", dem er zwei Merkblätter mit Informationen über die
Auswirkungen der provisorischen Nachlassstundung auf die Arbeitnehmer und
Frühpensionierten bzw. über die Versicherungssituation bei Ausfällen von
Salär- und Rentenzahlungen beifügte. In diesen Schriftstücken legte er den
Adressaten dar, dass ihre früheren Arbeitgeberinnen in der Nachlassstundung
bzw. in einem allfälligen späteren Konkurs nicht berechtigt seien, einzelne
Gläubiger bevorzugt zu behandeln, und die Forderungen der Frühpensionierten
unter anderem in Konkurrenz stünden mit den Ansprüchen der Lieferanten,
Kunden und Geschäftspartner der betreffenden Gesellschaften; als
Sachwalter könne er nicht zu Lasten der Nachlassmasse in die bestehenden
Sozialplanvereinbarungen eintreten; das führe zur sofortigen Einstellung
der Zahlungen, nicht aber zur Auflösung der erwähnten Vereinbarungen.

    Mit Eingabe vom 5. November 2001 erhoben der Verein "IG gemäss Option
96/Option 2000 freigestellter Mitarbeiter" (im Folgenden: IG Option
96/2000) und N. (als persönlich betroffene freigestellte Mitarbeiterin)
beim Bezirksgericht Zürich als unterer kantonaler Aufsichtsbehörde in
Schuldbetreibungs- und Konkurssachen Beschwerde. Sie beantragten, es
sei die Verfügung des provisorischen Sachwalters vom 24. Oktober 2001
(d.h. das Schreiben an die Frühpensionierten samt den beiden Merkblättern)
aufzuheben, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und der
Sachwalter anzuweisen, "die ausstehenden und inskünftig während der Dauer
des vorliegenden Verfahrens fällig werdenden Leistungen auszubezahlen,
sofern keine Dritten zahlend einspringen".

    Das Bezirksgericht (6. Abteilung) beschloss am 8. November 2001,
die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

    Die IG Option 96/2000 und N. zogen diesen Entscheid an das Obergericht
(II. Zivilkammer) des Kantons Zürich (obere Aufsichtsbehörde) weiter,
das am 18. Juli 2002 beschloss, in Abweisung des Rekurses werde auf die
Beschwerde nicht eingetreten.

    Mit ihrer am 9. August 2002 bei der Schuldbetreibungs- und
Konkurskammer des Bundesgerichts eingereichten Beschwerde verlangen die
IG Option 96/2000 und N., den obergerichtlichen Beschluss aufzuheben und
die angefochtene Verfügung des provisorischen Sachwalters für nichtig zu
erklären, allenfalls aufzuheben.

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer weist die Beschwerde ab,
soweit darauf eingetreten wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Der obergerichtliche Entscheid beruht zunächst auf der
Schlussfolgerung, dass keine mit Beschwerde anfechtbare Verfügung im
Sinne von Art. 17 Abs. 1 SchKG vorhanden sei. Das strittige Rundschreiben,
das nicht in den Bereich der dem Sachwalter eigenen Kompetenzen gehöre,
und die ihm beigelegten Merkblätter hätten keine Rechtswirkung zu
erzielen vermocht. Während der Nachlassstundung könne der Schuldner
seine Geschäftstätigkeit unter Aufsicht des Sachwalters fortsetzen;
handle er einer Weisung des Sachwalters zuwider, habe dieser die
Möglichkeit, beim Nachlassrichter den Entzug der Verfügungsbefugnis oder
den Widerruf der Stundung zu beantragen. Sodann habe das Rundschreiben
angesichts des Adressatenkreises keine Weisung an die Schuldnerin
darstellen können. Der Sachwalter habe somit keinen Entscheid über die
Zahlungen an die "Optionäre" getroffen. Unter diesen Umständen fehle
ein direktes Betroffensein der Beschwerdeführer durch das angefochtene
Rundschreiben und ein aktuelles und praktisches Interesse an dessen
Aufhebung. Selbst wenn die SAirGroup die Zahlungen an die "Optionäre"
gestützt auf das Rundschreiben eingestellt haben sollte, könnte sie nicht
durch die Aufsichtsbehörde zu deren Wiederaufnahme angehalten werden.
Die Vorinstanz bemerkt ferner, dass die faktische Nichtzahlung per Ende
Oktober 2001 schon deshalb nicht als Verfügung im Sinne von Art. 17 Abs. 1
SchKG qualifiziert werden könne, weil der Abbruch der Zahlungen nicht
vom Sachwalter ausgegangen sei. Im Übrigen hätte den Beschwerdeführern
als vollstreckungsrechtliches Mittel zur Durchsetzung ihrer Ansprüche die
Betreibung auf Pfändung nach Art. 297 Abs. 2 Ziff. 1 SchKG zur Verfügung
gestanden.

    Zusätzlich hält das Obergericht - in materieller Hinsicht - fest,
dass nicht ersichtlich sei, inwiefern der Sachwalter mit dem strittigen
Rundschreiben gesetzwidrig ins Nachlassverfahren eingegriffen haben
soll. Ziel des Nachlassvertrags sei grundsätzlich die Sanierung des
Schuldners, so dass vermögenserhaltende Massnahmen im Vordergrund
stünden. Während der Nachlassstundung sollten Schulden nur soweit bezahlt
werden, als es zur Erhaltung der Geschäftstätigkeit notwendig sei oder
im wirtschaftlichen Interesse des Schuldners liege. Da die "Optionäre"
für die SAirGroup keine Arbeitsleistungen mehr erbracht hätten, würde
eine weitere Auszahlung an sie nicht zur Erhaltung der Geschäftstätigkeit
beitragen. Die unterschiedliche Behandlung der "Optionäre" und der noch
aktiv tätigen Arbeitnehmer sei daher gerechtfertigt und der ihr zugrunde
liegende Entscheid durchaus angemessen.

    2.2  Die Beschwerdeführer bringen vor, der Sachwalter habe
materielle Verfügungen in ungekündigten rechtlichen Beziehungen
getroffen, ohne befugt gewesen zu sein, einzelne fällige Leistungen
zu verweigern. Der Sachwalter habe nur Überwachungsfunktionen. Ob in
bestehende Sozialpläne "einzutreten" sei oder nicht, müsse allenfalls
im formellen Nachlassvertrag entschieden werden. Erlasse der Sachwalter
dennoch eine individuell-konkrete Verfügung, sei seine Handlung anfechtbar,
vermutlich sogar nichtig. Die Verfügung, welche die Beschwerdeführer im
Rundschreiben vom 24. Oktober 2001 erblicken, ist nach deren Ansicht sodann
unangemessen. So greife der Sachwalter in einzelne Arbeitsverhältnisse
ein, nicht aber in andere. Unangemessen sei das Handeln des Sachwalters
vor allem aber auch deshalb, weil Arbeitsverhältnisse gar nicht ins
Nachlassverfahren gehörten. Ausserdem halten die Beschwerdeführer dafür,
dass der Entscheid darüber, ob in Dauerschuldverhältnisse wie die in
Frage stehenden einzutreten sei oder nicht, nicht zu den Befugnissen des
provisorischen Sachwalters gehöre. Vertragsverhältnisse dieser Art würden
fortbestehen, solange eine Kündigung ausbleibe. Zu einer solchen habe der
Sachwalter die Nachlassschuldnerin bezüglich der mit den Frühpensionierten
bestehenden Verträge bis anhin offenbar noch nicht angewiesen, so dass
er nicht verkünden könne, in den Sozialplan nicht einzutreten.

    2.3  Nach Auffassung des Verfassers des Rundschreibens gehört dieses
nicht in den Bereich der dem Sachwalter gemäss den Art. 299-304 SchKG
eigenen Kompetenzen. Da das Rundschreiben sich an die "Frühpensionierten"
richte, könne es auch keine Weisung an die Schuldnerin darstellen. Der
provisorische Sachwalter hält ausserdem dafür, die Beschwerdeführer würden
das Rechtsmittel der Beschwerde missbrauchen, indem sie selbst erklärten,
diese richte sich gegen die Nichtzahlung als Folge des Rundschreibens, und
von der Aufsichtsbehörde verlangten, in das Nachlassverfahren materiell
einzugreifen. Den Beschwerdeführern bleibe es unbenommen, ihre Ansprüche
allenfalls vor einem Zivilgericht geltend zu machen.

Erwägung 3

    3.  Der Nachlassrichter trifft nach Eingang des Gesuchs um
Nachlassstundung unverzüglich die zur Erhaltung des schuldnerischen
Vermögens notwendigen Anordnungen; in begründeten Fällen kann er die
Nachlassstundung für einstweilen höchstens zwei Monate provisorisch
bewilligen und einen provisorischen Sachwalter mit der Prüfung der
Vermögens-, Ertrags- oder Einkommenslage des Schuldners und der Aussicht
auf Sanierung beauftragen (Art. 293 Abs. 3 SchKG). In dem dem Stadium des
Verfahrens entsprechenden Rahmen stehen dem provisorisch eingesetzten
Sachwalter die gleichen Befugnisse zu wie dem ordentlichen Sachwalter.
Insbesondere übt schon er die Aufsicht über die Geschäftstätigkeit des
Schuldners aus (vgl. Art. 298 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 293 Abs. 4
SchKG). Auch dem provisorischen Sachwalter obliegt somit, darüber
zu wachen, dass der Schuldner keine für die Gläubiger nachteiligen
Dispositionen trifft, und er ist deshalb ermächtigt, nötigenfalls dem
Schuldner die erforderlichen Weisungen zu erteilen (vgl. Art. 298 Abs. 3
erster Satz SchKG). Auf die Amtstätigkeit des (provisorischen) Sachwalters
sind die Art. 17-19 SchKG sinngemäss anwendbar (Art. 295 Abs. 3 SchKG). Mit
andern Worten können die von diesem erlassenen Weisungen grundsätzlich mit
Beschwerde bei den betreibungsrechtlichen Aufsichtsbehörden angefochten
werden.

    3.1  Es trifft zu, dass das von den Beschwerdeführern beanstandete
Rundschreiben des provisorischen Sachwalters wie auch die damit verbundenen
Merkblätter nicht an die Schuldnerin, sondern an die "Frühpensionierten
... der Swissair-Gruppe" adressiert waren. Indessen ist an dieser Stelle
auf das in BGE 82 III 131 ff. veröffentlichte Urteil hinzuweisen: Zu einem
Brief, worin der Sachwalter einer Gläubigerin mitgeteilt hatte, infolge der
Nachlassstundung sei der Schuldner während dieser Zeit nicht berechtigt,
irgendwelche Verfügungen über Abtretungen, Begünstigungen usw. gegenüber
den Gläubigern zu treffen, hielt die erkennende Kammer dort fest, es
liege in der angeführten Erklärung nicht eine blosse Ansichtsäusserung;
vielmehr habe der Sachwalter damit kraft seines Amtes Stellung bezogen;
der Brief an die Gläubigerin habe ausgesprochen, was für den Schuldner
verbindlich sein solle; es liege auf der Hand, dass der Sachwalter dem
Schuldner eine entsprechende Weisung, und nicht bloss eine unverbindliche
Rechtsauskunft zu beliebigem Gebrauch, erteilt habe (BGE 82 III 131 E. 1
S. 134 f.). Wie die hier gegebenen Verhältnisse zu würdigen sind, braucht
aus den nachstehend darzulegenden Gründen jedoch nicht abschliessend
erörtert zu werden.

    3.2  Der Beschwerde kann auch dann kein Erfolg beschieden sein, wenn
mit ihr davon ausgegangen wird, der provisorische Sachwalter habe mit
dem strittigen Rundschreiben eine bei den Aufsichtsbehörden anfechtbare
Weisung zu den Ansprüchen der "Optionäre" der SAirGroup erlassen:

    3.2.1  Mit der Begründung, die Forderungen der gemäss "Option 96"
bzw. "Option 2000" freigestellten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen stünden
in Konkurrenz beispielsweise mit den Ansprüchen von Lieferanten und es
gehe nicht an, dass die Nachlassschuldnerin einzelne Gläubiger bevorzugt
behandle, hat der Sachwalter im Rundschreiben bekannt gegeben, dass er
als solcher nicht zu Lasten der Nachlassmasse der früheren Arbeitgeberin
in die Sozialplanvereinbarungen eintreten könne. Wie er selbst zu Recht
erklärt, ändert sein Entschluss nichts am Bestand der Vereinbarungen mit
den freigestellten Personen. Es geht vielmehr um die Erfüllung dieser
Verträge, die (einstweilen) aufgeschoben werden soll.

    3.2.2  Der angerufene Nachlassrichter hat unverzüglich die zur
Erhaltung des schuldnerischen Vermögens erforderlichen Vorkehren zu treffen
(Art. 293 Abs. 3 SchKG) und unter diesem Titel auch dafür zu sorgen, dass
weder Schuldner noch Gläubiger sich ungerechtfertigte Vorteile verschaffen
können (JAEGER/WALDER/KULL/KOTTMANN, Bundesgesetz über Schuldbetreibung
und Konkurs, 4. Aufl., N. 77 zu Art. 293 SchKG). Zur Erreichung dieser
Ziele kann er unter anderem einen provisorischen Sachwalter einsetzen
(vgl. ALEXANDER VOLLMAR, in: Kommentar zum SchKG, Basel 1998, N. 30 zu
Art. 293 SchKG). Dem Gesagten sind gleich auch die Kriterien zu entnehmen,
von denen sich der (provisorische) Sachwalter bei der Beaufsichtigung
der Geschäftstätigkeit des Schuldners leiten zu lassen hat.

    Wie die erkennende Kammer in dem oben bereits erwähnten Urteil
festgehalten hat, handelt der Sachwalter rechtmässig, wenn er dem Schuldner
aufgibt, sich Ansprüchen eines Gläubigers zu widersetzen, die nach seiner
Ansicht mit den Wirkungen der Nachlassstundung nicht vereinbar sind
(BGE 82 III 131 E. 2 S. 136). Im Lichte des Ausgeführten hätte hier
der provisorische Sachwalter mit einer Weisung an die SAirGroup, wonach
die Zahlungen aus den Vereinbarungen mit Frühpensionierten, die keine
Arbeitsleistungen mehr zu erbringen hatten, einzustellen seien, das ihm
zustehende Ermessen weder überschritten noch missbraucht (vgl. Art. 19
Abs. 1 SchKG) und auch sonst keine bundesrechtswidrige Anordnung
getroffen. Dass für das Personal, das nach wie vor zu Arbeitsleistungen
verpflichtet war, die Lohnzahlungen fortgeführt werden sollten, vermag
daran nichts zu ändern.

    In der Sache ist der Auffassung der Vorinstanz demnach auf jeden
Fall beizupflichten.