Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 III 529



129 III 529

84. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. Tamedia AG und
Hasler gegen Kraska (Berufung)

    5C.104/2003 vom 8. August 2003

Regeste

    Art. 28 ZGB; Persönlichkeitsverletzung durch Gerichtsberichterstattung.

    Die Gerichtsberichterstattung dient der mittelbaren
Gerichtsöffentlichkeit. Sie liegt für Urteile aller Instanzen im
öffentlichen Interesse. Dem Informationsinteresse der Allgemeinheit
steht das Schutzinteresse der Prozessbeteiligten gegenüber. Namentlich
im Strafprozess erfolgt die Berichterstattung deshalb normalerweise in
anonymisierter Form (E. 3.2). Vorliegend war die unter Namensnennung und
in eigener Sache erfolgte Berichterstattung des Tages-Anzeigers über den
Ausgang eines erstinstanzlichen Verfahrens wegen Persönlichkeitsverletzung
zulässig (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Im Tages-Anzeiger vom 18. August 1995 erschien unter dem Titel
"Die seltsamen Methoden des Doktor Martin Kraska" ein gross aufgemachter
Artikel, der Martin Kraska zu einer Klage wegen Persönlichkeitsverletzung
veranlasste. Mit Urteil vom 19. Dezember 1997 wies das Bezirksgericht
Zürich, 3. Abteilung, die Klage ab. Das Obergericht des Kantons Zürich,
II. Zivilkammer, hob dieses Urteil am 7. September 1998 auf und wies die
Sache zur Durchführung eines Beweisverfahrens an die Vorinstanz zurück.
Diese wies die Klage mit Urteil vom 21. Juni 2002 erneut ab. Die dagegen
von Martin Kraska erhobene Berufung ist vor dem Obergericht des Kantons
Zürich hängig.

    Während des seit 30. Januar 1998 pendenten ersten Berufungsverfahrens
erschien im Tages-Anzeiger vom 20. März 1998 unter dem Titel "Klage
gegen den TA abgewiesen" eine kleine, von Thomas Hasler verfasste Notiz,
umfassend 27 Zeilen bei einer Breite von einer Spalte, mit folgendem
Wortlaut:

      Die 3. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich hat eine Klage des

      Zürcher

    Arztes Martin Kraska gegen die TA-Media AG und eine TA-Journalistin

    wegen Persönlichkeitsverletzung vollumfänglich abgewiesen. Im August

    1995 hatte der "Tages-Anzeiger" unter dem Titel "Die seltsamen Methoden

    des Dr. Martin Kraska" über die von Kraska geführten Prozesse, seinen

    Privatkonkurs und den Versuch, sich der Zwangsvollstreckung zu

    entziehen, aber auch über seine unsaubere Rechnungsstellung, sein
hartes

    Vorgehen bei der Eintreibung der entsprechenden Beträge und seinen

    Umgang mit Patienten berichtet. Laut Gericht sind die beanstandeten

    Behauptungen "wahrheitsgetreu"; allfällige Ungenauigkeiten oder

    Wertungen liessen den Kläger nicht in einem falschen Licht erscheinen.

    Die Berichterstattung sei auch verhältnis- und rechtmässig, weil das

    Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit "deutlich grösser" sei als ein

    allfälliges Schutzbedürfnis des Klägers. Kraska akzeptiert das Urteil

    nicht und hat Berufung erklärt.

    B.- Diese Notiz nahm Martin Kraska zum Anlass, erneut Klage auf
Feststellung einer Persönlichkeitsverletzung zu erheben. Des Weiteren
verlangte er die Urteilspublikation, eine Genugtuung sowie die Unterlassung
weiterer Berichterstattung. In teilweiser Gutheissung dieser Begehren
stellte das Bezirksgericht Zürich, 3. Abteilung, in seinem Urteil vom
13. Oktober 2000 fest, dass der Kläger durch die Notiz im Tages-Anzeiger in
seiner Persönlichkeit insoweit widerrechtlich verletzt sei, als er darin
namentlich erwähnt worden sei. Des Weiteren sprach es ihm eine Genugtuung
von Fr. 1'000.- zu und verbot den Beklagten, das Urteil des Bezirksgerichts
vom 19. Dezember 1997 vor rechtskräftiger Erledigung der Sache so zu
kommentieren, dass der Kläger als Beteiligter identifizierbar ist. Mit
Ausnahme der Genugtuung bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich,
II. Zivilkammer, diese Anordnungen in seinem Urteil vom 21. März 2003.

    C.- Gegen das Urteil des Obergerichts haben die Beklagten
Berufung erhoben, im Wesentlichen mit dem Begehren um Aufhebung des
angefochtenen Urteils und um Klageabweisung. Mit seiner Berufungsantwort
und Anschlussberufung vom 2. Juli 2003 verlangt der Kläger die Abweisung
der Berufung und eine Genugtuung von Fr. 1'000.-.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.

    3.1  Die Presse kann sowohl durch die Mitteilung von Tatsachen als auch
durch deren Würdigung in die Persönlichkeit eingreifen. Die Verbreitung
wahrer Tatsachen ist grundsätzlich durch den Informationsauftrag
der Presse gedeckt, es sei denn, es handle sich um solche aus
dem Geheim- oder Privatbereich oder die betroffene Person werde in
unzulässiger Weise herabgesetzt, weil die Form der Darstellung unnötig
verletzt. Die Veröffentlichung unwahrer Tatsachen ist demgegenüber an
sich widerrechtlich; an der Verbreitung von Unwahrheiten kann nur in
seltenen, speziell gelagerten Ausnahmefällen ein hinreichendes Interesse
bestehen. Indessen lässt noch nicht jede journalistische Unkorrektheit,
Ungenauigkeit, Verallgemeinerung oder Verkürzung eine Berichterstattung
insgesamt als unwahr erscheinen. Nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung erscheint eine in diesem Sinn unzutreffende Presseäusserung
nur dann als insgesamt unwahr und persönlichkeitsverletzend, wenn sie in
wesentlichen Punkten nicht zutrifft und die betroffene Person dergestalt
in einem falschen Licht zeigt bzw. ein spürbar verfälschtes Bild von
ihr zeichnet, das sie im Ansehen der Mitmenschen empfindlich herabsetzt
(BGE 126 III 305 E. 4 b/aa S. 306 ff.; 129 III 49 E. 2.2 S. 51).

    In jedem Fall ist aber das Interesse des Individuums auf Unversehrtheit
seiner Person sorgfältig gegen dasjenige der Presse auf Information der
Öffentlichkeit abzuwägen. Bei diesem Vorgang steht dem Richter ein Ermessen
zu (Art. 4 ZGB; BGE 122 III 449 E. 3b und 3c S. 456 f.; 126 III 209
E. 3a S. 212). Dabei kann die Rechtfertigung stets nur so weit reichen,
als ein Informationsbedürfnis besteht. Soweit ein solches zu verneinen ist,
bleibt es bei der Widerrechtlichkeit der Persönlichkeitsverletzung. Daher
ist der Informationsauftrag der Presse kein absoluter Rechtfertigungsgrund,
und eine Interessenabwägung ist unentbehrlich; die Presse muss für den
Eingriff in die Persönlichkeit einen triftigen Grund haben (BGE 95 II
481 E. 7 S. 494; 109 II 353 E. 4c S. 362; 126 III 209 E. 3a S. 212).

    3.2  Für die Gerichtsberichterstattung gelten indes im Zusammenhang
mit dem Persönlichkeitsschutz besondere, teilweise von den oben angeführten
allgemeinen Grundsätzen abweichende Regeln:

    In der schweizerischen Tradition sind die Gerichtsverhandlungen im
Grundsatz öffentlich. Dabei erstreckt sich die Publikumsöffentlichkeit
regelmässig auf die mündlichen Verhandlungen sowie die Urteilsverkündung
und -begründung, vor Bundesgericht und in einigen Kantonen teilweise
auch auf die Urteilsberatung; Garantien für die Öffentlichkeit der
Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung sind in Art. 4 Abs. 1 aBV
bzw. Art. 30 Abs. 3 BV und in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthalten. Für den
Bürger soll ersichtlich sein, wie der Richter die ihm vom jeweiligen
Wahlkörper übertragene Verantwortung wahrnimmt, und der Grundsatz
der publikumsöffentlichen Verhandlung dient ganz allgemein einer
transparenten Justiztätigkeit und Rechtsfindung. Da nicht jedermann
jederzeit an beliebigen Gerichtsverhandlungen teilnehmen kann, übernehmen
die Medien mit ihrer Gerichtsberichterstattung insofern eine wichtige
Brückenfunktion, als sie die richterliche Tätigkeit einem grösseren
Publikum zugänglich machen. Die Gerichtsberichterstattung dient damit
einer verlängerten bzw. mittelbaren Gerichtsöffentlichkeit (GUIGNARD,
Die Gerichtsberichterstattung, in: 50 Jahre aargauischer Juristenverein,
Aarau 1986, S. 60), und in diesem Sinn besteht an ihr ein erhebliches
öffentliches Interesse. Entgegen den sinngemässen Ausführungen der
Vorinstanzen beschränkt sich dieses keineswegs auf letztinstanzliche
Urteile, da die richterliche Tätigkeit überwiegend von unterinstanzlichen
Gerichten wahrgenommen wird und auch diese der Kontrolle durch die
Öffentlichkeit unterliegen.

    Bei der Gerichtsberichterstattung stehen sich demnach das sich
aus der Gerichtsöffentlichkeit ergebende Informationsinteresse der
Allgemeinheit und das Schutzinteresse der Prozessbeteiligten gegenüber
(GUIGNARD, aaO, S. 67). Namentlich im Strafprozess kann die detaillierte
Ausbreitung der persönlichen Verhältnisse in die Privat- oder gar
Geheimsphäre des Angeschuldigten eingreifen, und sie ist im Übrigen
auch geeignet, die Unschuldsvermutung zu verletzen. Deshalb erfolgt die
Gerichtsberichterstattung hier normalerweise in anonymisierter Form, zumal
die Namensnennung im Bereich des Strafrechts in den meisten Fällen auch
entbehrlich ist. Indes kann eine Berichterstattung mit Namensnennung in
Zusammenhang mit dem Verdacht, es sei eine Straftat begangen worden, bei
Personen der Zeitgeschichte je nach der Interessenlage gerechtfertigt sein,
wobei dieser Personenkategorie auch relativ prominente Personen zuzurechnen
sind (BGE 126 III 305 E. 4b/aa S. 307; 127 III 481 E. 2c/aa S. 489).

Erwägung 4

    4.

    4.1  Die fragliche Notiz im Tages-Anzeiger enthält keine Würdigung
des erstinstanzlichen Gerichtsurteils, sondern ausschliesslich eine
Tatsachenmitteilung. Dabei stellen die Beklagten keine eigenständigen
Tatsachenbehauptungen zum Prozessgegenstand auf, d.h. sie richten
nicht (erneut) Vorwürfe an den Kläger. Vielmehr geben sie in ihrer
Berichterstattung allein die Tatsache wieder, dass ein Gericht
ein Urteil gefällt hat, und verbreiten in diesem Zusammenhang die
Auffassung des Gerichtes bzw. die richterlichen Erwägungen; dies legen
sie mit der Wendung "Laut Gericht" für den Leser auch offen. Dass
der erstinstanzliche Prozess für den Kläger einen negativen Ausgang
genommen und das Gericht entsprechende Erwägungen formuliert hat,
wird nicht bestritten; insofern geht es um die Verbreitung wahrer
Tatsachen. Dass dabei der Verfahrensgegenstand - und damit indirekt auch
die seinerzeitigen Vorwürfe an den Kläger - kurz zusammenzufassen waren,
liegt in der Natur der Sache und folgt bereits aus der Definition
der Gerichtsberichterstattung, die über die blosse Wiedergabe des
Urteilsdispositivs hinausgeht. Wie die Vorinstanz selbst ausführt,
ist die in Frage stehende Zeitungsnotiz jedoch ausgesprochen klein, ja
unscheinbar. Sie war auch nicht prominent platziert, erschien sie doch
gemäss den kantonalen Sachverhaltsfeststellungen im Lokalteil auf S. 19
unter der Rubrik "In Kürze". Die Beklagten haben also das erstinstanzliche
Urteil nicht zum Anlass genommen, die ursprüngliche Geschichte nochmals in
voller Länge aufzurollen oder neue Vorwürfe an den Kläger zu richten. Unter
diesem Gesichtspunkt ist die Berichterstattung nicht zu beanstanden.

    4.2  Im vorliegenden Fall ist die besondere Konstellation gegeben,
dass der Tages-Anzeiger Partei des Verfahrens ist, über das er Bericht
erstattet hat. Damit hat er gleichsam in eigener Sache berichtet, was
heikel sein kann. Die Vorinstanzen weisen jedenfalls zu Recht darauf hin,
dass der Tages-Anzeiger im Ergebnis einen Etappensieg bekannt gegeben
hat, und es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass der Fall nicht
als spektakulär bezeichnet werden kann. Den Medien muss jedoch ein
weiter Spielraum bei der Auswahl, aber auch zur inhaltlichen Gestaltung
der Berichterstattung eingeräumt werden. Dass der Tages-Anzeiger hier
gleichzeitig in eigener Sache berichtet hat, ist insofern als notwendige
Begleiterscheinung der Gerichtsberichterstattung hinzunehmen, umso mehr
als es schwer vorstellbar ist, einem Medienunternehmen, das für die Art
seiner Berichterstattung ins Recht gefasst worden ist, ein schutzwürdiges
Interesse an der Berichterstattung über den Ausgang dieses Verfahrens
(auch in den verschiedenen Instanzen) abzusprechen.

    4.3  Damit bleibt noch zu erörtern, ob die Gerichtsberichterstattung
in anonymisierter Form hätte erfolgen müssen.

    Die vorliegend zu beurteilende Berichterstattung trug nicht über ein
abstraktes Rechtsproblem, sondern es ging um die Frage, ob ein bestimmter
Zeitungsartikel, in dem klar definierte Vorwürfe an eine namentlich
genannte Einzelperson erhoben worden sind, deren Persönlichkeit verletzt
hat. Diese Frage ist vom konkreten Sachverhalt nicht zu lösen und insofern
ist eine für den Durchschnittsleser nachvollziehbare Berichterstattung
ohne Namensnennung nur schwer denkbar. Dazu kommt, dass es sich beim
Kläger um eine relativ prominente Person handelt und er deshalb eine
Berichterstattung mit Nennung seines Namens eher in Kauf nehmen muss
(BGE 126 III 305 E. 4b/aa S. 307; 127 III 481 E. 2c/aa S. 489). So hat
denn auch das Bundesgericht im bereits mehrmals zitierten BGE 126 III
209, in dem es um seinerzeit vom Sonntagsblick erhobene, ebenfalls die
Geschäftspraktiken des Klägers betreffende Vorwürfe ging, von einer
Anonymisierung des Entscheides abgesehen und den Kläger im amtlich
publizierten Urteil mit vollem Namen genannt.

    4.4  Bei dieser Sachlage ist mit Bundesrecht vereinbar, wenn die
Beklagten mit einer kurz gefassten und unauffällig platzierten Notiz unter
voller Namensnennung über den Ausgang des erstinstanzlichen Verfahrens
berichtet haben.