Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 III 49



129 III 49

8. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. Der Bund Verlag AG
gegen Kessler sowie Obergericht des Kantons Thurgau (Berufung)

    5C.155/2002 vom 13. November 2002

Regeste

    Persönlichkeitsverletzung durch Presseäusserung (Art. 28 Abs.  1 ZGB).

    Der Durchschnittsleser verbindet mit dem Begriffspaar bzw.
Sammelbegriff "Neonazi- und Revisionistenszene" in erster Linie
deren gemeinsames Gedankengut. Wenn die Revisionisten auch keinen
(gewaltsam) nach dem Führerprinzip organisierten Staat anstreben,
fussen beide Ideologien auf der gleichen Gesinnung. Wer heute die
nationalsozialistischen Verbrechen und insbesondere den an den Juden
verübten Mord verharmlost oder gar leugnet, darf deshalb als Neonazi
bezeichnet werden (E. 2).

Sachverhalt

    A.- In der Zeitung "Der Bund" vom 21. Juni 2001 wurde unter dem Titel
"Schächtverbot und Antisemitismus" sowie dem Untertitel "Geschichte / Eine
Dissertation zu historischen und aktuellen Fragen des Schächtverbotes"
die von Pascal Krauthammer verfasste Dissertation "Das Schächtverbot in
der Schweiz" rezensiert. Der Artikel enthielt u.a. folgenden Text:

      "Die weiterhin grassierende Antischächtlüge stilisiert zwar in ihrer

    populistischen Propaganda das Schächtverbot zu einer Humanitäts- und

    Zivilisationsaufgabe hoch, kann aber trotzdem die erschreckend

    antisemitische und neuerdings auch antiislamische Komponente nicht
unter

    dem Deckmantel des Tierschutzes verstecken. Das war schon zur Zeit der

    Nazis und Fröntler in den Dreissiger- und Vierzigerjahren der Fall. Und

    auch in der gegenwärtigen Antischächtbewegung dominiert, wie der

    Verfasser nachweist, die antisemitische Komponente: "In der Person des

    radikalen Tierschützers Erwin Kessler fand diese Tradition ihre

    Fortsetzung. Über die Instrumentalisierung der Schächtfrage versuchte

    er, eine neue 'Judenfrage' zu konstruieren." Nachweislich unterhielt

    Kessler Kontakte zur Neonazi- und Revisionistenszene. Das Zürcher

    Obergericht verurteilte Kessler denn auch aufgrund seiner rassistischen

    und antisemitischen Äusserungen im Zusammenhang mit dem Schächten wegen

    Verletzung der Antirassismus-Strafnorm, und das Bundesgericht wies
seine

    staatsrechtliche Beschwerde gegen dieses Urteil ab."

    B.- Mit Klage vom 11. Juli 2001 verlangte Erwin Kessler die
Feststellung, dass die Behauptung, er habe nachweislich Kontakte zu
Neonazis gehabt, unwahr sei. Mit Urteil vom 27. November 2001 wies die
bezirksgerichtliche Kommission Münchwilen die Klage ab. Demgegenüber
stellte das Obergericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 11. April
2002 fest, die Behauptung, der Kläger habe nachweislich Kontakte zur
Neonaziszene unterhalten, sei unwahr.

    C.- Das Bundesgericht heisst die dagegen erhobene staatsrechtliche
Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Der Bund Verlag AG wirft dem Obergericht vor, sie nicht zum
Beweis zugelassen und damit gegen Art. 8 ZGB verstossen zu haben. Bereits
auf Grund des festgestellten Sachverhaltes sei jedoch auch Art. 28 ZGB
verletzt worden. Die von der Vorinstanz getroffene strikte Unterscheidung
zwischen Neonazismus und Revisionismus sei nämlich unzulässig und stehe in
Widerspruch zur gesamten Auffassung in der Politik und Lehre, aber auch zur
bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Wer wie die Revisionisten den Holocaust
leugne, dürfe als Sympathisant der Neonazis bezeichnet werden. Gemäss
den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen seien Kontakte zum
Revisionisten und Holocaustleugner Ernst Indlekofer zugestanden. Was
den Revisionisten und Holocaustleugner Michael Lüthi betreffe, habe das
Obergericht die Bedeutung des Begriffes "Kontakt unterhalten" verkannt.

    Demgegenüber macht der Kläger in seiner Berufungsantwort geltend,
die Beklagte habe ihm keinen einzigen Kontakt zur Neonaziszene nachweisen
können und mangels tauglicher Beweisanträge habe das Obergericht zu Recht
kein Beweisverfahren durchgeführt. Er habe denn auch nie Sympathien für
die Neonazis gehabt, deren Welt im Übrigen eine völlig andere sei als
diejenige der Revisionisten. Die Unterschiede zwischen Neonazis und
Revisionisten seien auch dem Durchschnittsleser und insbesondere dem
intellektuellen Teil der Leserschaft klar, an den sich der inkriminierte,
eine rechtsgeschichtliche Dissertation betreffende Artikel wende.

    2.2  Art. 28 Abs. 1 ZGB gewährt dem in seiner Persönlichkeit
widerrechtlich Verletzten Rechtsschutz. Eine Verletzung der Persönlichkeit
liegt namentlich vor, wenn die Ehre einer Person beeinträchtigt wird,
indem ihr berufliches oder gesellschaftliches Ansehen geschmälert wird. Ob
eine Äusserung geeignet ist, dieses Ansehen herabzumindern, beurteilt sich
objektiviert nach Massgabe eines Durchschnittslesers, wobei dies unter
Würdigung der konkreten Umstände wie etwa des Rahmens der Presseäusserung
zu erfolgen hat (BGE 127 III 481 E. 2b/aa S. 487 mit weiteren Hinweisen).

    Die Presse kann sowohl durch die Mitteilung von Tatsachen als auch
durch deren Würdigung in die Persönlichkeit eingreifen. Die Verbreitung
wahrer Tatsachen ist grundsätzlich durch den Informationsauftrag
der Presse gedeckt, es sei denn, es handle sich um solche aus
dem Geheim- oder Privatbereich oder die betroffene Person werde in
unzulässiger Weise herabgesetzt, weil die Form der Darstellung unnötig
verletzt. Die Veröffentlichung unwahrer Tatsachen ist demgegenüber an
sich widerrechtlich; an der Verbreitung von Unwahrheiten kann nur in
seltenen, speziell gelagerten Ausnahmefällen ein hinreichendes Interesse
bestehen. Indessen lässt noch nicht jede journalistische Unkorrektheit,
Ungenauigkeit, Verallgemeinerung oder Verkürzung eine Berichterstattung
insgesamt als unwahr erscheinen. Nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung erscheint eine in diesem Sinn unzutreffende Presseäusserung
nur dann als insgesamt unwahr und persönlichkeitsverletzend, wenn sie in
wesentlichen Punkten nicht zutrifft und die betroffene Person dergestalt
in einem falschen Licht zeigt bzw. ein spürbar verfälschtes Bild von
ihr zeichnet, das sie im Ansehen der Mitmenschen empfindlich herabsetzt
(BGE 126 III 305 E. 4 b/aa S. 306 ff. mit weiteren Hinweisen).

    2.3  Das Obergericht hat in einem ersten Schritt erwogen, dass
zwischen Neonazismus und Revisionismus zu differenzieren sei. Während sich
Neonazis offen zur Ideologie und Weltanschauung des Nationalsozialismus
bekennen und einen nach dem Führerprinzip organisierten totalitären Staat
sowie eine "rassenreine Volksgemeinschaft" anstreben würden, werde als
Revisionismus der politisch motivierte Versuch bezeichnet, die unter
der nationalsozialistischen Herrschaft begangenen Verbrechen, namentlich
den millionenfachen Mord an Juden, zu relativieren oder zu leugnen. Der
Durchschnittsleser des "Bund", einer angesehenen und traditionsreichen
Zeitung, die mit dem Slogan "unterschätze nie einen Bund-Leser" werbe,
vermöge zwischen den beiden Begriffen sehr wohl mehr als nur ansatzweise
einen Unterschied zu erkennen und ordne diese nicht ohne jegliche Nuance
einfach dem Rechtsextremismus zu. Der Kläger sei deshalb in seiner
Persönlichkeit verletzt, wenn ihm nicht nur Kontakte zu Revisionisten,
sondern auch solche zu Neonazis nachgesagt würden.

    Im vorliegend interessierenden Zusammenhang kann dieser Ansicht
nicht gefolgt werden. Das Obergericht geht selbst davon aus, dass die
Neonazis die vom nationalsozialistischen Regime begangenen Verbrechen
verharmlosten, leugneten oder gar verherrlichten und die Revisionisten
den Holocaust bestritten oder unter Berufung auf pseudowissenschaftliche
Gutachten zumindest die Opferzahl zu verkleinern suchten. Es hält denn auch
fest, dass beide Ideologien auf der gleichen Gesinnung fussen und ihre
Anhänger weitgehend das gleiche Gedankengut vertreten, will aber einen
entscheidenden Unterschied darin sehen, dass die Neonazis (mit Gewalt)
einen nach dem Führerprinzip organisierten Staat anstrebten.

    Zum einen geht diese Differenzierung, der in einem anderen Kontext
die Berechtigung keineswegs abgesprochen werden soll, im vorliegend
zu beurteilenden Fall am Wesentlichen vorbei: Wer - wider alle bessere
Erkenntnis - die nationalsozialistischen Verbrechen und insbesondere den an
den Juden verübten Mord verharmlost oder gar leugnet, solidarisiert sich
mit dem nationalsozialistischen Gedankengut. Wer heute solches tut, kann
daher ohne weiteres als Neonazi bezeichnet werden. Ob er dann persönlich
auch noch zu Gewalttaten neigt oder gar aktiv eine gewaltsame Änderung
der politischen Verhältnisse anstrebt, ist im hier interessierenden
Kontext nicht von Bedeutung. Aus diesem Grund erübrigt es sich auch,
die Unterschiede zwischen Neonazismus und Revisionismus im Detail oder
gar abschliessend zu erörtern.

    Zum anderen verkennt die Vorinstanz, dass der Durchschnittsleser mit
dem Begriffspaar bzw. dem Sammelbegriff der Neonazi- und Revisionistenszene
in erster Linie deren gemeinsames Gedankengut, insbesondere deren
gemeinsame Beurteilung des nationalsozialistischen Regimes und dessen
Verbrechen assoziiert. Die Aussage, der Kläger unterhalte Kontakte zur
betreffenden Szene, ist denn auch in ihrem (unbestrittenen) Kontext zu
würdigen, dass der Kläger über die Instrumentalisierung der Schächtfrage
versuche, eine neue "Judenfrage" zu konstruieren, und auf Grund
seiner rassistischen und antisemitischen Äusserungen verurteilt worden
sei. Dem Durchschnittsleser ist geläufig, dass Neonazis wie Revisionisten
rassistisches und insbesondere antisemitisches Gedankengut vertreten. Es
ist nicht nachvollziehbar, inwiefern dem Kläger, der gegen die ihm
zugeschriebenen Kontakte zur Revisionistenszene nichts einzuwenden hatte,
in ein falsches Licht gestellt wird, wenn die Beklagte von Kontakten zur
Neonazi- und Revisionistenszene schreibt. Zu Recht ist im Übrigen die erste
Instanz explizit und die zweite stillschweigend davon ausgegangen, dass aus
dem Kontext heraus beim Durchschnittsleser nicht der Eindruck entsteht,
der Kläger sei ein eigentlicher Neonazi oder Revisionist, sondern dass
er dessen Kontakte zur Szene im Zusammenhang mit dem vom Kläger militant
betriebenen Tierschutz und dabei insbesondere der Schächtfrage liest.

    2.4  Beim vorstehenden Ergebnis wird die vom Obergericht in
einem zweiten Schritt diskutierte und schliesslich verneinte Frage,
ob der Kläger zu Neonazis im engeren Sinn Kontakte unterhalten habe,
gegenstandslos. Es bleibt einzig zu prüfen, ob nachweislich Kontakte zu
Revisionisten bestanden haben.

    Der von der ersten Instanz angeführte persönliche Kontakt zum
Revisionisten und Holocaustleugner Ernst Indlekofer ist vom Kläger
zugestanden. Zu Recht ist die erste Instanz davon ausgegangen, der Kläger
habe auch zum Revisionisten und Holocaustleugner Jürgen Graf Kontakt
unterhalten, indem er jenem auf der Homepage des von ihm präsidierten
Vereins gegen Tierfabriken (VgT) eine Plattform geboten habe; so sei
dort über den gegen Graf geführten Prozess wegen Verstosses gegen das
Antirassismusgesetz berichtet worden und der Kläger habe in den VgT-News
auch einen Brief von Graf publiziert und kommentiert, mit welchem die
Leserschaft aufgefordert worden sei, den aufrichtigen Idealisten und
Patrioten Indlekofer nicht im Stich zu lassen. Das Obergericht verkennt
in diesem Zusammenhang den Begriff der Kontaktpflege, wenn es sinngemäss
davon ausgeht, diese sei nur durch persönliche Kontakte im Sinne physischer
Treffen möglich.

    Schliesslich ist (bereits) auf Grund der vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen davon auszugehen, dass der Kläger auch Kontakt
zum Skinhead und Webmaster der Homepage "Hugin und Munin" Michael Lüthi
hatte, von welchem anfangs 2001 im Forum der vom Kläger präsidierten
Vereinigung "Internet ohne Zensur" drei Einträge erschienen. Diese lassen
sich nicht gewissermassen mit ungebeten in den Briefkasten gelegter Post
vergleichen, wenn sie auf der Homepage platziert und über längere Zeit
dort stehen gelassen wurden. Im Übrigen hat der Kläger als Reaktion
auf den Eintrag vom 21. Januar 2001, in welchem sich Lüthi darüber
beklagte, dass ihm und seiner Familie auf Grund seiner von den Medien als
rechtsradikal beurteilten Homepage die der Gemeinde Langendorf gehörende
Wohnung gekündigt worden sei, beim Gemeindepräsidenten interveniert und
sich für Lüthi eingesetzt. Das Obergericht verkennt auch hier den im
Kontext mit dem inkriminierten Zeitungsartikel zu würdigenden Begriff
des Kontakthabens, wenn es davon ausgeht, der Kontakt müsse persönlich
sein. Es spielt grundsätzlich keine Rolle, welchen Mediums sich die
beteiligten Personen für ihre Kontaktpflege bedienen; etwas anderes würde
sich einzig dann ergeben, wenn im vorliegenden Zeitungsartikel ausdrücklich
von persönlichen Kontakten die Rede gewesen wäre.

    2.5  Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass dem Kläger auf
Grund seiner nachweislichen Kontakte zu Revisionisten und Holocaustleugnern
im konkreten Zusammenhang mit der antisemitisch motivierten Polemik um das
Schächtverbot ohne Verletzung seiner Persönlichkeit Kontakte zur Neonazi-
und Revisionistenszene nachgesagt werden durften. Entsprechend ist die
Berufung gutzuheissen, soweit auf sie einzutreten ist.

    2.6  Bei diesem Ergebnis kann offen gelassen werden, ob das Obergericht
Art. 8 ZGB verletzte, indem es seinen eigenen Ausführungen zufolge weitere
Beweisanträge der Beklagten für den Nachweis von Kontakten des Klägers
zur betreffenden Szene in antizipierter Beweiswürdigung abgewiesen hat.