Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 III 417



129 III 417

70. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. R. gegen S. sowie
Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)

    5P.470/2002 vom 22.  Mai 2003

Regeste

    Art. 9 BV, Art. 176 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB; Eheschutz, Unterhaltsbeitrag
des Ehegatten; Willkür durch Verletzung des Verbotes der reformatio in
peius; Frist zur Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nach der Geburt
des ausserehelichen Kindes.

    Der einem Ehegatten für einen bestimmten Zeitraum zugesprochene
Unterhaltsbeitrag darf im Rechtsmittelverfahren nicht zu Lasten des andern
Ehegatten, der ihn allein angefochten hat, abgeändert werden (E. 2.1).

    Es ist nicht willkürlich, der Ehefrau nach der Geburt ihres
ausserehelichen Kindes eine angemessene Frist zur Wiederaufnahme der
Erwerbstätigkeit einzuräumen (E. 2.2).

Sachverhalt

    A.- R. (nachfolgend: Ehemann) und S.  (nachfolgend: Ehefrau oder
Mutter) heirateten am 16. Januar 1998. Die Ehe blieb kinderlos. Am
16. Oktober 2001 gelangte die Ehefrau mit einem Eheschutzbegehren an
das Gerichtspräsidium von Baden. Am 29. März 2002 gebar sie das Kind E.,
als dessen biologischen Vater sie ihren neuen Lebenspartner bezeichnete,
mit dem sie seit 1. Oktober 2001 zusammenlebt. Der Gerichtspräsident 4
von Baden stellte mit Entscheid vom 17. Mai 2002 fest, die Ehegatten seien
berechtigt, auf unbestimmte Zeit getrennt zu leben; er wies die Obhut über
das Kind der Mutter zu und verpflichtete den Ehemann, an den Unterhalt
des Kindes im April 2002 Fr. 100.- und ab Mai 2002 monatlich Fr. 300.-
zuzüglich Kinderzulagen zu bezahlen (Dispositiv-Ziff. 4). Ferner wurde
er dazu verhalten, seiner Ehefrau an deren persönlichen Unterhalt von
Oktober 2001 bis März 2002 monatlich Fr. 400.-, im April 2002 Fr. 200.-
und ab Mai 2002 Fr. 1'660.- zu entrichten (Dispositiv-Ziff. 5). Die
Gesuche der Parteien um unentgeltliche Rechtspflege wurden abgewiesen
(Dispositiv-Ziff. 7a: Gesuch der Ehefrau; 7b: Gesuch des Ehemannes).

    B.- Gegen diesen Entscheid gelangte der Ehemann mit Beschwerde an
das Obergericht des Kantons Aargau und verlangte, die Ziffern 4, 5 und
7a (recte: 7b) des erstinstanzlichen Urteils aufzuheben. Die Ehefrau
erhob Anschlussbeschwerde mit dem Antrag, die Ziffern 4, 5 und 7b des
erstinstanzlichen Urteils zu bestätigen, dagegen Ziffer 7a aufzuheben
und ihr schon für das erstinstanzliche Verfahren die unentgeltliche
Rechtspflege zu bewilligen.

    Am 21. Oktober 2002 beschloss das Obergericht, auf die
Anschlussbeschwerde nicht einzutreten, soweit damit um unentgeltliche
Rechtspflege für das erstinstanzliche Verfahren ersucht wurde. Mit Urteil
vom gleichen Tag hob es in teilweiser Gutheissung der Beschwerde die
Dispositiv-Ziffern 4 und 5 des erstinstanzlichen Urteils auf. Zum einen
strich es die Kinderrente ersatzlos, da die Mutter vor Gericht anerkannt
habe, dass das Kind nicht vom Ehemann gezeugt worden sei; den Ehemann
treffe voraussichtlich keine Unterhaltspflicht, auch wenn die Vaterschaft
noch nicht beurteilt worden sei. Zum andern verpflichtete es den Ehemann,
der Ehefrau an deren persönlichen Unterhalt monatlich vorschüssig
von Oktober 2001 bis März 2002 Fr. 400.-, im April 2002 Fr. 170.-,
von Mai 2002 bis Februar 2003 Fr. 1'806.- und ab März 2003 Fr. 1'356.-
zu entrichten. Die Anschlussbeschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf
einzutreten war.

    C.- Der Ehemann führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 9 BV; er beantragt dem Bundesgericht, das Urteil des Obergerichts
des Kantons Aargau vom 21. Oktober 2002 aufzuheben, der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zu erteilen und ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

    Die Ehefrau schliesst auf Abweisung der Beschwerde sowie des Gesuches
um aufschiebende Wirkung und verlangt ihrerseits die unentgeltliche
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. Das Obergericht hat
auf Vernehmlassung verzichtet.

    Mit Präsidialverfügung vom 18. Dezember 2002 ist der staatsrechtlichen
Beschwerde aufschiebende Wirkung für die vom Beschwerdeführer bis und
mit November 2002 geschuldeten Unterhaltsbeiträge zuerkannt worden. Das
Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde teilweise gut und
hebt das angefochtene Urteil teilweise auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Unter dem Gesichtspunkt der Willkür rügt der Beschwerdeführer
eine Verletzung des Verbotes der reformatio in peius. Der erstinstanzliche
Richter habe den persönlichen Unterhaltsbeitrag für die Beschwerdegegnerin
ab Mai 2002 auf Fr. 1'660.- festgesetzt. Im angefochtenen Urteil sei dieser
Beitrag auf Fr. 1'806.- erhöht worden, obwohl die Beschwerdegegnerin in
der Anschlussbeschwerde die Bestätigung der erstinstanzlich festgelegten
Unterhaltsbeiträge beantragt habe. Dabei betrachte das Obergericht die
Mutter und Kind zugesprochenen Unterhaltsbeiträge wie schon die erste
Instanz als Einheit.

    2.1.1  Beim Verbot der reformatio in peius handelt es sich um einen
klaren und unumstrittenen Rechtsgrundsatz, dessen Missachtung gegen
das Willkürverbot (Art. 4 aBV; nunmehr Art. 9 BV) verstösst (BGE 110
II 113 E. 3c). Das Verschlechterungsverbot besagt namentlich, dass
die Beschwerdeinstanz das angefochtene Urteil nicht zu Ungunsten der
beschwerdeführenden Partei abändern darf, es sei denn, die Gegenpartei
habe ihrerseits Anschlussbeschwerde ergriffen (vgl. BGE 110 II 113
E. 3a). Gründeten die Mutter und Kind zugesprochenen Geldleistungen
auf einem einheitlichen Unterhaltsanspruch, stellte sich die Frage des
Verschlechterungsverbots nicht, unterliegt doch der Kinderunterhalt der
Offizialmaxime und kommt das Verschlechterungsverbot diesfalls nicht
zum Tragen (vgl. BGE 119 II 201 E. 1; 122 III 404 E. 3d). Nun verfügen
aber Ehegatte und Kinder über selbstständige Ansprüche mit je eigenem
rechtlichem Schicksal: Auch das unmündige Kind ist kraft eigenen Rechts
unterhaltsberechtigt (Art. 289 Abs. 1 ZGB). Das gilt namentlich auch
im Eheschutzverfahren, wenn die Leistung an den Vertreter erfolgt und
dem Kind keine Parteistellung zukommt (vgl. BGE 129 III 55 E. 3). Im
Übrigen unterscheidet die Regelung über das Getrenntleben der Ehegatten
(Art. 176 ZGB) ausdrücklich zwischen dem andern Ehegatten (Art. 176 Abs. 1
Ziff. 1 ZGB) und den Kindern (Art. 176 Abs. 3 i.V.m. Art. 276 Abs. 2 ZGB)
geschuldeten Geldleistungen. Da der Unterhaltsanspruch des Ehegatten nicht
von der Offizialmaxime beherrscht wird (BGE 128 III 411 E. 3.2.2 S. 414),
unterliegt er dem Verschlechterungsverbot.

    2.1.2  Daran vermag auch das Zusammentreffen von Kinder-
und Ehegattenrente nichts zu ändern. Sind Unterhaltsansprüche
bei wirtschaftlich engen Verhältnissen von vornherein durch die
beschränkte Leistungsfähigkeit der Parteien begrenzt, kann zwar die
Höhe der Ehegattenrente nicht losgelöst von jener der Kinderrente
bestimmt werden. Auf eine Interdependenz der Renten wurde - wenn
auch in anderem Zusammenhang - in BGE 128 III 411 E. 3.2.2 S. 414
hingewiesen. Doch rechtfertigt dies keine Abweichung vom Grundsatz, dass
der Unterhaltsanspruch des Ehegatten der Dispositionsmaxime unterliegt,
zumal einen Ehegatten nichts daran hindern kann, vom andern nebst dem
Kinderunterhalt den für sich als angemessen erachteten persönlichen
Unterhalt zu fordern. Die von der ersten Instanz zugesprochenen
Unterhaltsbeiträge sind nur vom Beschwerdeführer angefochten worden. Das
Obergericht hat demnach das Verbot der reformatio in peius und damit Art. 9
BV verletzt, indem es der Beschwerdegegnerin für die Zeit von Mai 2002
bis Februar 2003 einen höheren Unterhaltsbeitrag als die erste Instanz
zugesprochen hat. Insoweit erweist sich die staatsrechtliche Beschwerde
als begründet.

    2.2  In zweiter Linie rügt der Beschwerdeführer, das Obergericht
habe in willkürlicher Weise der Beschwerdegegnerin eine mehrmonatige
Übergangsfrist für die Wiederaufnahme ihrer Erwerbstätigkeit nach
der Geburt des Kindes zugebilligt, womit er im Ergebnis während
dieser Übergangsfrist für ein nicht von ihm stammendes Kind zu 100%
unterhaltspflichtig werde. Hier gerate das Obergericht mit seinen eigenen
Erwägungen in Widerspruch. Im angefochtenen Entscheid habe es festgehalten,
dass die fehlende Erwerbstätigkeit der Mutter wegen der Geburt eines
ausserehelichen Kindes nicht zu Lasten des Ehemannes berücksichtigt
werden dürfe. Hätte das Obergericht diesen Grundsatz konsequent befolgt,
so hätte es der Beschwerdegegnerin schon ab Mai 2002 ein Einkommen in
Höhe von 50% ihres vor der Geburt erzielten Verdienstes anrechnen müssen,
zumal die Betreuung des Kindes durch dessen biologischen Vater oder eine
Drittperson leicht zu organisieren gewesen wäre. Der Beschwerdegegnerin
wäre allenfalls eine Übergangszeit von wenigen Wochen, nicht aber eine
übertriebene Schonzeit von rund 10 Monaten einzuräumen gewesen.

    Das Obergericht hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass bei
einer Ehefrau, die ein Kind von einem andern Mann empfangen hat,
die dadurch verminderte Leistungsfähigkeit im Verhältnis zwischen den
Ehegatten grundsätzlich nicht zu berücksichtigen sei; vielmehr habe der
untreue Ehegatte die zusätzliche Belastung selber auszugleichen oder
hinzunehmen. Allerdings sei es gerechtfertigt, vorliegend der Ehefrau für
die Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit eine angemessene Übergangsfrist
einzuräumen. Es hat sich dabei namentlich auf BGE 114 II 17 berufen. Mit
einer rund 4-monatigen Frist ab Zustellung des obergerichtlichen Urteils
werde der Ehefrau bis Ende Februar 2003 Zeit gegeben, sich auf die
veränderten Verhältnisse einzustellen.

    Dem Unterhaltspflichtigen ist eine angemessene Frist zur Umstellung
einzuräumen, wenn die Pflicht zur Aufnahme oder Ausweitung der
Erwerbstätigkeit grundsätzlich bejaht wird; er muss hinreichend Zeit
dafür haben, die rechtlichen Vorgaben in die Wirklichkeit umzusetzen
(BGE 114 II 13 E. 5 S. 17). Diese Überlegung gilt auch für Fälle wie den
vorliegenden, wo es um die Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit durch
die Ehefrau nach der Geburt eines nicht vom Ehemann stammenden Kindes
geht. Die Einräumung einer Übergangsfrist stellt keinen Widerspruch zum
Grundsatz dar, dass der Ehegatte dem untreuen Ehepartner nicht direkt in
der Erfüllung seiner elterlichen Unterhaltspflicht beistehen muss. Denn
bei der eigentlichen Unterhaltspflicht geht es um eine sich regelmässig
über Jahre oder gar Jahrzehnte erstreckende Verpflichtung, wogegen
eine Übergangsfrist naturgemäss eine vergleichsweise kurze Zeitspanne
umfasst. Abgesehen davon besteht für den Stiefelternteil eine indirekte
Beistandspflicht gegenüber dem untreuen Ehegatten (Art. 159 Abs. 3 ZGB;
BGE 127 III 68 E. 3 S. 72). Im Lichte dieser Rechtsprechung erscheint
die obergerichtliche Lösung nicht willkürlich. Die Übergangsfrist für
die Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit soll denn auch den Aufbau der
Beziehungen zwischen Mutter und Kind erleichtern und die körperliche
sowie seelische Gesundheit der Mutter schützen.

    Die Übergangsfrist muss ihrem Zweck und den Umständen angemessen
sein (BGE 114 II 13 E. 5 S. 17). Das obergerichtliche Urteil ist den
Parteien am 4. November 2002 zugestellt worden. Die Beschwerdegegnerin
hätte also frühestens auf Anfang Dezember 2002 eine Arbeitsstelle
antreten können, falls sie innert so kurzer Zeit überhaupt eine solche
gefunden hätte. Angesichts dessen durfte das Obergericht ohne Willkür die
Übergangsfrist von der Zustellung seines Urteils an berechnen. Die Frist
selbst hat es auf 4 Monate festgelegt, womit es das ihm in dieser Sache
naturgemäss zustehende Ermessen weder überschritten noch missbraucht
hat (BGE 109 Ia 107 E. 2). Der Willkürvorwurf erweist sich insoweit
als unbegründet.