Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 III 380



129 III 380

62. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. A. gegen X. AG
(Berufung)

    4C.67/2003 vom 5. Mai 2003

Regeste

    Art. 337 OR; wichtiger Grund für eine fristlose Auflösung des
Arbeitsverhältnisses.

    Eine sofortige Vertragsauflösung kann sich auch wegen eines Vorfalls
rechtfertigen, in dem keine Vertragsverletzung liegt, sofern damit bei
Vertragsbegründung nicht zu rechnen war und dadurch eine untragbare
Situation entstanden ist, bei der dem Arbeitgeber eine Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses bis zum nächsten Kündigungstermin nach den konkreten
Umständen objektiv nicht mehr zumutbar erscheint (E. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Bei der X. AG (Beklagte) handelt es sich um eine Ein-Frau-AG,
die ein Treuhandbüro betreibt. Einzige Aktionärin und Verwaltungsrätin
ist B., die auch die Geschäfte führt. A. (Klägerin) war seit dem
1. November 1999 bei der Beklagten in Teilzeit angestellt. Sie kündigte
das Arbeitsverhältnis auf den 30. Juni 2001. Am 25. Mai 2001 wurde sie von
der Beklagten fristlos entlassen. Zur Begründung führte die Beklagte an,
eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei nicht zumutbar, weil die
Klägerin ein Verhältnis mit dem Ehemann von B. unterhalte.

    B.- Am 19. November 2001 belangte die Klägerin die Beklagte beim
Einzelrichter im ordentlichen Verfahren des Bezirks Winterthur unter
anderem auf Bezahlung von Fr. 17'309.05. Der Einzelrichter hiess die
Klage am 9. August 2002 teilweise gut und verpflichtete die Beklagte,
der Klägerin insgesamt Fr. 7'789.65 brutto als Lohnersatz, Überstunden-
und Ferienentschädigung sowie Fr. 4'760.- netto als Entschädigung im
Sinne von Art. 337c Abs. 3 OR nebst Zins zu bezahlen. Im Übrigen wies er
die Klage ab.

    Auf kantonalrechtliche Berufung der Beklagten hin reduzierte das
Obergericht des Kantons Zürich den zugesprochenen Betrag mit Beschluss
vom 10. Januar 2003 auf Fr. 6'906.20 brutto zuzüglich Zins. Es verneinte
einen Anspruch auf Ferienentschädigung und auf Entschädigung nach Art. 337c
Abs. 3 OR.

    C.- Die Klägerin führt gegen diesen Entscheid eidgenössische Berufung
mit dem Antrag, ihr seien Fr. 12'549.65 zuzusprechen. Die Beklagte
schliesst auf Abweisung des Rechtsmittels.

    Das Bundesgericht beurteilt die fristlose Entlassung als
ungerechtfertigt und heisst die Berufung teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Nach Art. 337 OR kann der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer
das Arbeitsverhältnis aus wichtigen Gründen jederzeit fristlos
auflösen (Abs. 1). Als wichtiger Grund gilt jeder Umstand, bei dessen
Vorhandensein dem Kündigenden nach Treu und Glauben die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden darf (Abs. 2). Über das
Vorhandensein solcher Umstände entscheidet das Gericht nach seinem Ermessen
(Art. 337 Abs. 3 OR). Ermessensentscheide überprüft das Bundesgericht im
Berufungsverfahren grundsätzlich frei. Es übt dabei aber Zurückhaltung
und schreitet nur ein, wenn die Vorinstanz grundlos von in Lehre und
Rechtsprechung anerkannten Grundsätzen abgewichen ist, wenn sie Tatsachen
berücksichtigt hat, die für den Entscheid im Einzelfall keine Rolle
hätten spielen dürfen, oder wenn sie umgekehrt Umstände ausser Betracht
gelassen hat, die zwingend hätten beachtet werden müssen. Ausserdem
greift das Bundesgericht in Ermessensentscheide ein, falls sich diese
als offensichtlich unbillig, als in stossender Weise ungerecht erweisen
(BGE 127 III 153 E. 1a S. 155, 351 E. 4a S. 354; 122 III 262 E. 2a/bb).

    2.1  Eine fristlose Entlassung ist nur bei besonders schweren
Verfehlungen des Arbeitnehmers gerechtfertigt. Ihre Zulässigkeit darf
nur mit grosser Zurückhaltung angenommen werden. Die dafür geltend
gemachten Vorkommnisse müssen einerseits objektiv geeignet sein, die
für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zu zerstören
oder zumindest so tief greifend zu erschüttern, dass dem Arbeitgeber die
Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zuzumuten ist. Anderseits müssen sie
auch tatsächlich zu einer derartigen Zerstörung oder Erschütterung des
gegenseitigen Vertrauens geführt haben. Sind die Verfehlungen weniger
schwerwiegend, so müssen sie trotz Verwarnung wiederholt vorgekommen sein
(BGE 127 III 153 E. 1a, 310 E. 3, 351 E. 4a S. 353 f.; 117 II 560 E. 3b
S. 562; 116 II 145 E. 6a S. 150, je mit Hinweisen).

    2.2  In aller Regel liegt der wichtige Grund in einer
Vertragsverletzung der gekündigten Partei. Lehre (STAEHELIN,
Zürcher Kommentar, N. 24 zu Art. 337 OR; BRÜHWILER, Kommentar zum
Einzelarbeitsvertrag, Bern 1996, N. 7b zu Art. 337 OR; ALEXANDRE
BERENSTEIN/PASCAL MAHON, Labour Law in Switzerland, Bern 2001, Rz. 393) und
Rechtsprechung (BGE 114 II 279 E. 2d/cc S. 284) sind sich aber weitgehend
einig, dass auch objektive Gründe eine fristlose Kündigung rechtfertigen
können. Vereinzelte Stimmen in der Lehre scheinen dies immerhin abzulehnen,
weil sie befürchten, dass so das Betriebsrisiko auf den Arbeitnehmer
übertragen werde (STREIFF/VON KAENEL, Arbeitsvertrag, 5. Aufl., Zürich
1992, N. 6 zu Art. 337 OR). Sie verkennen indessen, dass Art. 337 Abs. 2
OR den wichtigen Grund umschreibt, ohne eine Vertragsverletzung oder gar
ein Verschulden einer Partei vorauszusetzen. Würde für eine fristlose
Vertragsauflösung eine Vertragsverletzung vorausgesetzt, wäre zudem die
Bestimmung von Art. 337b Abs. 2 OR, welche die vermögensrechtlichen Folgen
der gerechtfertigten fristlosen Vertragsauflösung aus anderen Gründen als
einer Vertragsverletzung regelt, sinnlos. Auch von den Parteien nicht
zu verantwortende und nicht erwartete Ereignisse oder Umstände können
ausnahmsweise eine ausserordentliche Vertragsbeendigung rechtfertigen,
wenn sie die wesentlichen Grundlagen der vertraglichen Bindung derart
erschüttern, dass eine Fortsetzung der vertraglichen Beziehung subjektiv
und objektiv als nicht zumutbar erscheint. Die ausserordentliche
Vertragsauflösung nach Art. 337 OR konkretisiert damit die clausula rebus
sic stantibus (BERENSTEIN/MAHON, aaO, Rz. 392 mit Hinweis auf BGE 101 Ia
545 E. 2c S. 548 f.). Objektiver Grund für eine fristlose Entlassung kann
deshalb ein Ereignis sein, mit dem die Parteien bei Vertragsbegründung
weder rechnen konnten noch rechnen mussten (vgl. BGE 127 III 300 E. 5b
mit Hinweisen). Insofern fallen der schlechte Geschäftsgang und weitere
Umstände, deren Eintritt zu den jedem wirtschaftlichen Unternehmen
inhärenten Risiken gehört, ausser Betracht. Überdies ist auch bei
den objektiven Gründen grosse Zurückhaltung zu üben. Mit dem Begriff
der Zumutbarkeit in Art. 337 OR verweist das Gesetz auf ein wertendes
Kriterium. Es genügt nicht, dass die Fortsetzung des Vertrages bloss der
kündigenden Partei unerträglich ist. Vielmehr muss diese Einschätzung
auch von einem objektiven Standpunkt aus als angemessen erscheinen.

Erwägung 3

    3.

    3.1  Die Vorinstanz ist richtigerweise davon ausgegangen, dass ein
Arbeitnehmer keine Vertragsverletzung begeht, indem er eine Liebesbeziehung
zum Lebenspartner seiner Arbeitgeberin aufnimmt. Ein solches Verhalten
verstösst insbesondere nicht gegen die arbeitsvertragliche Treuepflicht.
Trotzdem kann es unter Umständen einen wichtigen Grund für eine
ausserordentliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses darstellen,
namentlich wenn die Betriebsstätte sich in der Wohnung der Arbeitgeberin
befindet. Es liegt auf der Hand, dass ein entsprechender Vorfall nicht
unter das Betriebsrisiko fällt, das grundsätzlich ausschliesslich vom
Arbeitgeber zu tragen ist.

    Zweck einer fristlosen Entlassung ist es allerdings nicht,
ein bestimmtes Verhalten zu sanktionieren und der Arbeitgeberin
eine Satisfaktion zu verschaffen. Insbesondere wenn wie hier im zur
Vertragsauflösung führenden Vorfall keine Vertragsverletzung liegt,
kann sie nur den Zweck verfolgen, eine objektiv nicht mehr tragbare
Situation zu beenden. Ob eine solche vorliegt und eine Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses bis zum nächsten Kündigungstermin nicht mehr als
zumutbar erscheint, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls
ab. Der Vorfall allein genügt unabhängig von den konkreten Gegebenheiten
regelmässig nicht, um eine fristlose Entlassung als ultima ratio
zu rechtfertigen. Vielmehr muss eine Situation vorliegen, die auch
objektiv unhaltbar geworden ist. Mit Blick auf den Ausnahmecharakter
der ausserordentlichen Vertragsauflösung muss im konkreten Einzelfall
nachgewiesen sein, dass der Vorfall subjektiv das Vertrauensverhältnis
tatsächlich schwer gestört hat und objektiv so schwer wiegt, dass die
Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses als nicht zumutbar erscheint. Soweit
sich ein Verhalten nicht direkt auf die Arbeitsleistung auswirkt, ist die
geforderte objektive Schwere nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen,
genügt doch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dafür nicht einmal
jedes strafbare Verhalten am Arbeitsplatz (Urteil 4C.112/2002 vom 8.
Oktober 2002, E. 5, mit Hinweisen auf BGE 127 III 351 E. 4b/dd; 124 III
25 E. 3a und b; 121 III 467 E. 5b; 116 II 145 E. 6b; Urteil 4C.103/1999
vom 9. August 1999, E. 1, publ. in: Pra 89/2000 Nr. 11 S. 56 ff.).

    3.2  Vorliegend hat sich kein Vorfall ereignet, der die geforderte
Schwere aufweist. Bei der Arbeitgeberin handelt es sich hier um eine
juristische Person. Insofern liegt denn auch kein Verhältnis mit dem
Ehemann der Arbeitgeberin vor. Dieses betrifft vielmehr den Ehemann
ihrer Geschäftsführerin und einzigen Verwaltungsrätin, die gleichzeitig
auch die an der Arbeitgeberin wirtschaftlich berechtigte ist. Selbst
wenn es sich bei der Arbeitgeberin um eine Ein-Frau-Aktiengesellschaft
handelt, muss sie sich ihre rechtliche Selbständigkeit grundsätzlich
entgegenhalten lassen. Der Fall ist nicht gleich zu werten, wie wenn die
Beziehung den Ehemann der Arbeitgeberin selber beträfe. Immerhin lässt
sich nicht ausschliessen, dass auch ein Verhältnis mit dem Ehemann der
Geschäftsführerin das Arbeitsverhältnis derart vergiften kann, dass sich
eine ausserordentliche Vertragsauflösung rechtfertigt.

    Davon kann hier indessen nicht ausgegangen werden. Nach den
tatsächlichen Feststellungen im kantonalen Verfahren war die Ehe
zwischen der Geschäftsführerin und ihrem Ehemann schon vor der Aufnahme
der Liebesbeziehung zwischen der Klägerin und dem Ehemann zerrüttet
und lebten die Ehegatten schon vorher getrennt. Im Weiteren hätte das
Arbeitsverhältnis im Zeitpunkt der fristlosen Entlassung ohnehin nur
noch einen Monat fortgedauert. Unter diesen Umständen kann der Ansicht
der Vorinstanz nicht gefolgt werden, dass im Verhältnis zwischen der
Klägerin und dem Ehemann der Geschäftsführerin ein wichtiger Grund für
eine sofortige Vertragsauflösung liegt, selbst wenn der Arbeitsplatz der
Klägerin sich im Wohnhaus der Geschäftsführerin befand. Die Vorinstanz
hat die fristlose Entlassung der Klägerin daher zu Unrecht als rechtmässig
beurteilt.