Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 III 171



129 III 171

27. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. D. gegen Verein
X. (Berufung)

    4C.342/2002 vom 8. Januar 2003

Regeste

    Arbeitsvertrag; Überstundenentschädigung; Anspruchsverwirkung
(Art. 321c OR).

    Anspruch leitender Angestellter auf Überstundenentschädigung (E. 2.1).

    Anzeigeobliegenheit des Arbeitnehmers in Bezug auf geleistete
Überstunden und Anspruchsverwirkung wegen zu langen Zuwartens (E.
2.2-2.4).

Sachverhalt

    A.- D. (Kläger) arbeitete vom 1. Januar 1998 bis zum 30. April 1998
als Verkehrsdirektor für den Verein X. (Beklagter). Dann wurde das
Arbeitsverhältnis einvernehmlich aufgelöst.

    Am 8. Dezember 2000 machte der Arbeitnehmer gegen seinen früheren
Arbeitgeber eine Klage hängig, die er am 19. Februar 2001 nach erfolglosem
Sühneversuch beim Bezirksgericht Inn prosequierte. Er verlangte,
der Beklagte sei zu verpflichten, ihm Fr. 19'900.- zu bezahlen und ihm
ein detailliertes und wohlwollendes Arbeitszeugnis auszustellen. Zur
Begründung seiner Forderung machte er insbesondere geltend, er habe
bereits im Dezember 1997 für den Beklagten gearbeitet und ausserdem
während seiner Anstellung zahlreiche Überstunden geleistet, wofür er
zu entschädigen sei. Ausserdem behauptete er, das Arbeitsverhältnis sei
nicht einvernehmlich aufgelöst, sondern er sei ungerechtfertigt fristlos
entlassen worden.

    B.- Das Bezirksgericht Inn hiess die Klage mit Entscheid vom
19. Februar 2002 teilweise gut und verpflichtete den Beklagten, dem Kläger
Fr. 14'937.65 zu bezahlen sowie ihm ein vollständiges und den betriebs-
und branchenüblichen Massstäben entsprechendes und nach pflichtgemässem
Ermessen abgefasstes, wohlwollendes Arbeitszeugnis zu erstellen. Das
Bezirksgericht kam namentlich zum Schluss, der Kläger habe während seiner
Anstellung in der Saison Überstunden geleistet, welche der Beklagte zu
entschädigen habe. Im Übrigen hielt es die Forderung für unbegründet.

    C.- Das Kantonsgericht von Graubünden hiess mit Urteil vom 11. Juni
2002 die Berufung des Beklagten gegen den Entscheid des Bezirksgerichts
Inn vom 19. Februar 2002 teilweise gut und hob die Ziffern 1 und 4
des angefochtenen Urteils auf (Dispositivziffer 1). Die Klage über
Lohnentschädigungen wurde abgewiesen (Dispositivziffer 2). Das Gericht
erwog, die vom Kläger geforderte Überstundenentschädigung sei zu spät
geltend gemacht worden, so dass sie aufgrund der Umstände verwirkt sei. Die
Forderung auf Ausstellung eines verbesserten Arbeitszeugnisses schützte
das Kantonsgericht mit der ersten Instanz.

    D.- Mit Berufung vom 28. Oktober 2002 stellt der Kläger die
Rechtsbegehren, das Urteil des Kantonsgerichts Graubünden vom 11. Juni
2002 sei in den Ziffern 1, 2 und 4 (Parteientschädigung) aufzuheben
und die Rechtssache sei im Sinne von Art. 64 OG an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Er rügt die Verletzung von Art. 2 ZGB sowie von Art. 321c
OR und macht geltend, die Vorinstanz habe mit der Annahme der Verwirkung
Tatsachen berücksichtigt, welche keine Rolle hätten spielen dürfen und
umgekehrt Tatsachen ausser Acht gelassen, die sich für den Entscheid
aufgedrängt hätten.

    Der Beklagte schliesst in der Antwort auf Abweisung der Berufung.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung gut, hebt den angefochtenen
Entscheid auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Nach Art. 321c Abs. 1 OR ist der Arbeitnehmer zur Leistung
von Überstunden verpflichtet, wenn Überstundenarbeit gegenüber dem
zeitlichen Umfang der Arbeit, der verabredet oder üblich oder durch
Normalarbeitsvertrag oder Gesamtarbeitsvertrag bestimmt ist, notwendig
ist, soweit er sie zu leisten vermag und sie ihm nach Treu und Glauben
zugemutet werden kann. Überstundenarbeit ist gemäss Art. 321c Abs. 3
OR zu entgelten, wenn sie nicht durch Freizeit ausgeglichen wird und
nichts anderes schriftlich verabredet oder durch Normalarbeitsvertrag
oder Gesamtarbeitsvertrag bestimmt ist.

    2.1  Der Kläger war als Tourismus-Direktor leitender Angestellter
(vgl. BGE 126 III 337 E. 5 mit Hinweisen). Die Vorinstanz hat zutreffend
dargelegt, dass der in einem Betrieb übliche zeitliche Umfang der
Arbeit für leitende Angestellte grundsätzlich nicht gilt, sondern dass
von leitenden Angestellten erwartet wird, dass sie etwas mehr leisten
als nur das übliche Pensum. Wegleitend ist die Überlegung, dass mit der
Übernahme einer leitenden Funktion der Umfang und das Gewicht der vom
Arbeitnehmer zu erfüllenden Aufgaben die Gegenleistung des Arbeitgebers
in bedeutenderem Masse bestimmen als die wöchentliche Arbeitszeit und
leitende Angestellte ihrer verantwortungsvollen und selbständigen Stellung
entsprechend die Arbeitszeit weitgehend frei einteilen können. Leitende
Angestellte haben ohne ausdrückliche Regelung der Arbeitszeit deshalb
nur dann einen Anspruch auf Überstundenentschädigung, wenn ihnen
zusätzliche Aufgaben über die vertraglich vereinbarten Pflichten hinaus
übertragen werden oder wenn die ganze Belegschaft während längerer Zeit
in wesentlichem Umfang Überstunden leistet (Urteil des Bundesgerichts
4C.320/1996 vom 6. Februar 1997, E. 5a mit Hinweisen, publ. in: Jahrbuch
des schweizerischen Arbeitsrechts [JAR] 1998 S. 145 f.). Die gesetzliche
Regelung von Art. 321c OR gilt jedoch auch für leitende Angestellte,
soweit der zeitliche Umfang vertraglich ausdrücklich verabredet ist. Dies
trifft hier nach den Feststellungen der Vorinstanz zu, betrug doch die
wöchentliche Arbeitszeit nach Ziffer 3 des Arbeitsvertrages 42,5 Stunden,
welche in Absprache mit dem Arbeitgeber zu leisten waren. Ausnahmsweise
angeordnete Mehrarbeit sollte vom Arbeitnehmer soweit zumutbar geleistet
und die entsprechenden Überstunden über das ganze Jahr hin kompensiert
werden. Die Vorinstanz hat unter diesen Umständen zutreffend und insoweit
von den Parteien auch unbestritten erkannt, dass tatsächlich geleistete
und notwendige Überstunden nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vom
Beklagten gemäss Art. 321c Abs. 3 OR zu entschädigen sind, soweit sie
nicht durch Freizeit ausgeglichen worden sind. Sie hat indessen angenommen,
die Ansprüche des Klägers seien verwirkt.

    2.2  Für die Abgeltung von Überstunden ist unerheblich, ob sie
vom Arbeitgeber ausdrücklich angeordnet oder auf eigene Initiative
des Arbeitnehmers geleistet wurden; entscheidend ist, dass sie für den
Arbeitgeber objektiv notwendig waren (BGE 116 II 69 E. 4b S. 71; 86 II 155
E. 2 S. 157). Immerhin hat der Arbeitnehmer Überstunden, die ohne Wissen
des Arbeitgebers geleistet werden, innert nützlicher Frist anzuzeigen,
so dass der Arbeitgeber organisatorische Massnahmen zur Verhinderung
künftiger Mehrarbeit vorkehren oder die Überstunden genehmigen kann
(BGE 86 II 155 E. 2 S. 157; STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 10 und
14 zu Art. 321c OR; REHBINDER, Berner Kommentar, N. 3 zu Art. 321c
OR; STREIFF/VON KAENEL, Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, 5. Aufl.,
N. 10 zu Art. 321c OR; BRÜHWILER, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag,
2. Aufl., N. 12 zu Art. 321c OR; WYLER, Droit du travail, Bern 2002, S.
83 und 89). Innerhalb welchen Zeitraums die Anzeige zu erfolgen hat, ist
umstritten. In der kantonalen Rechtsprechung und der Lehre wird teilweise
angenommen, nicht angeordnete Überstunden, von denen der Arbeitgeber auch
nicht sonst wie Kenntnis habe, habe der Arbeitnehmer vor der Auszahlung
des nächsten Lohnes zu melden, andernfalls der Anspruch auf Vergütung
wenigstens in der Regel verwirke (STAEHELIN, aaO, N. 14 zu Art. 321c
OR; BRÜHWILER, aaO, N. 12 zu Art. 321c OR; Urteil des Obergerichts des
Kantons Aargau vom 2. November 1990, E. 3a, publ. in: JAR 1992 S. 113
ff.). Ein anderer Teil der Lehre und der kantonalen Praxis will die Frist,
während der die Anzeige zu erfolgen hat, grosszügiger bemessen und nach
den Umständen des Einzelfalles bestimmen oder auf die Verwirkung - bei
Erhöhung der Beweisanforderungen - überhaupt verzichten (STREIFF/VON
KAENEL, aaO, N. 10 zu Art. 321c OR mit Zitaten).

    2.3  An die Verwirkung von Ansprüchen sind strenge Anforderungen
zu stellen. Obschon die Regelung der Überstunden gemäss Art. 321c OR
dispositiv ist, ist doch zu beachten, dass der Lohn als Hauptleistung des
Arbeitgebers beim Zeitlohn nach der für die übertragene Arbeitsleistung
aufgewendeten Zeit bemessen wird (Art. 319 und 322 OR). Es ist daher
nicht leichthin anzunehmen, dass Arbeit über den vereinbarten zeitlichen
Umfang hinaus ohne entsprechende Gegenleistung erbracht wird, wenn sie
nicht durch Freizeit ausgeglichen werden kann. Zwar ist das Interesse
des Arbeitgebers unverkennbar, über die Notwendigkeit von Mehrarbeit im
Verhältnis zum vereinbarten zeitlichen Mass unterrichtet zu werden, um
allenfalls die erforderlichen Dispositionen in der Arbeitsorganisation
treffen zu können, was auch dem Arbeitnehmer bewusst sein muss. Wenn
daher der Arbeitgeber keinerlei Kenntnis über notwendige Mehrarbeit hat
und nach den Umständen auch nicht haben muss, spricht einiges dafür,
die vorbehaltlose Entgegennahme des üblichen Lohnes sinngemäss als
Verzicht auf Entschädigung für allfällig geleistete Überstunden zu
verstehen. Ein entsprechendes Interesse des Arbeitgebers an sofortiger
Information ist jedoch nicht erkennbar, wenn er aufgrund der Umstände
hinreichende Anhaltspunkte dafür hat, dass die vereinbarte Arbeitszeit
zur Erledigung der dem Arbeitnehmer übertragenen Aufgaben grundsätzlich
nicht ausreicht. Falls der Arbeitgeber nach den Umständen mindestens
im Grundsatz erkennen muss, dass Überstunden im Sinne von Art. 321c OR
erforderlich sind, so kann er entsprechende organisatorische Vorkehren
treffen und ist ihm - sofern er den genauen Umfang der geleisteten
Überstunden kennen will - zuzumuten, sich zu erkundigen. Wenn daher der
Arbeitnehmer von der Kenntnis des Arbeitgebers über die grundsätzliche
Notwendigkeit von Überstunden ausgehen darf, braucht er nicht bereits
in der ersten Lohnperiode deren konkreten Umfang zu benennen. Vielmehr
darf er bei dieser Sachlage mit der Angabe des Umfangs der Mehrarbeit
zuwarten, bis eine Aussage darüber möglich ist, ob und in welchem Umfang
längerfristig ein zusätzlicher Zeitbedarf für die Bewältigung der ihm
übertragenen Aufgaben besteht. Dies gilt insbesondere dann, wenn die
Möglichkeit eines zeitlichen Ausgleichs für die geleisteten Überstunden
besteht oder ein Ausgleich durch Freizeit vertraglich vereinbart ist.

    2.4  Im vorliegenden Fall steht nach den Erwägungen im angefochtenen
Urteil fest, dass beide Parteien grundsätzlich mit der Leistung von
Überstunden während der Saison rechneten, welche in der Zwischensaison
hätten kompensiert werden sollen. Nach den Feststellungen der Vorinstanz
hatte es sich mit dem Vorgänger des Klägers so verhalten. Der Beklagte
musste daher aufgrund seiner Erfahrung grundsätzlich mit Überstunden
während der Saison rechnen. Dass er tatsächlich über die geltend
gemachten Überstunden während der viermonatigen Anstellungsdauer
des Klägers nicht informiert wurde und davon nach den tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz erst ein halbes Jahr nach Beendigung
des Arbeitsverhältnisses Kenntnis erhielt, führt daher nicht wegen
verspäteter Anzeige zur Verwirkung der Ansprüche. Der Kläger war nicht
verpflichtet, den konkreten Umfang seiner Mehrarbeit während der Saison
anzuzeigen, sondern durfte jedenfalls vor der einvernehmlichen Auflösung
des Arbeitsverhältnisses am 20. April 1998 davon ausgehen, dass er die
Überstunden entsprechend der Abmachung mit dem Beklagten während der
Zwischensaison werde durch Freizeit ausgleichen können. Dem Beklagten
anderseits wäre zuzumuten gewesen, den Kläger zur konkreten Abrechnung
seiner Überstunden aufzufordern, wenn er an deren Kenntnis interessiert
gewesen wäre. Wenn die Vorinstanz annimmt, der Anspruch auf Entschädigung
von Überstunden könne wegen verspäteter Mitteilung insbesondere nach
Beendigung des Arbeitsverhältnisses verwirken, verkennt sie den Grund
für die Anzeigeobliegenheit des Arbeitnehmers. Die Anzeige soll dem
Arbeitgeber ermöglichen, in Kenntnis des für die Erledigung der anfallenden
Arbeit zusätzlich notwendigen zeitlichen Aufwandes allfällig erwünschte
Dispositionen zu treffen. Sie dient dagegen nicht der Überprüfung der
geltend gemachten Überstunden. Die Beweislast dafür, dass Überstunden
tatsächlich geleistet wurden und zur Erledigung der anfallenden Arbeit im
Interesse des Arbeitgebers notwendig waren, liegt vielmehr ohnehin beim
Arbeitnehmer (STAEHELIN, aaO, N. 16 zu Art. 321c OR; STREIFF/VON KAENEL,
aaO, N. 10 zu Art. 321c OR). Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses
besteht regelmässig kein zeitlich dringendes Interesse des Arbeitgebers,
über geleistete Überstunden informiert zu werden. Vielmehr ist die
Geltendmachung der entsprechenden Forderung während der Verjährungsfrist
unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs jederzeit möglich. Rechtsmissbrauch
wegen verspäteter Geltendmachung ist dabei nur unter ausserordentlichen
Umständen anzunehmen, zumal der erworbene Anspruch auf Abgeltung bereits
geleisteter Überstunden im Sinne von Art. 341 Abs. 1 OR unverzichtbar
ist (BGE 126 III 337 E. 7b; 124 III 469 E. 3a). Die Vorinstanz hat die
Ansprüche des Klägers zu Unrecht wegen verspäteter Mitteilung des Umfangs
der angeblich geleisteten Überstunden als verwirkt erachtet.