Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 129 III 161



129 III 161

25. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. Markus Frei gegen
Raas AG (Berufung)

    5C.173/2002 vom 20. Dezember 2002

Regeste

    Verhältnis zwischen (kantonalem) öffentlichem Recht und privatem
Nachbarrecht (Art. 684 ZGB).

    Während früher die meisten Kantone gestützt auf den
Rechtsetzungsvorbehalt von Art. 686 ZGB kantonales Privatrecht erlassen
haben, gelangt heute fast ausschliesslich (kantonales) öffentliches
Recht zur Anwendung. Dieses darf das Bundesprivatrecht nicht vereiteln,
verfügt jedoch über expansive Kraft und bestimmt zunehmend, was nach
Lage und Ortsgebrauch an Einwirkungen auf das Nachbargrundstück zulässig
ist. Verneinen einer übermässigen Einwirkung i.S. von Art. 684 ZGB bedeutet
in aller Regel keine Vereitelung von Bundesrecht, wenn ein Bauvorhaben
den massgebenden öffentlich-rechtlichen (Bauabstands-)Normen entspricht,
die im Rahmen einer detaillierten, den Zielen und Planungsgrundsätzen des
Raumplanungsrechts entsprechenden Bau- und Zonenordnung erlassen worden
sind (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Die Raas AG plant auf den beiden Parzellen Nrn. 327 und 332 an der
Mühletobelstrasse in Frauenfeld einen Um- bzw. Neubau mit insgesamt acht
Wohneinheiten. Die Hausteile sollen die Nummern Mühletobelstrasse 10,
10A, 10B, 10C und 10D erhalten. Auf Grund von Einsprachen während der
öffentlichen Auflage des Baugesuchs wurde der geplante Neubau 10D neu
situiert (gedreht) und die entsprechende Projektänderung vom 12. Juli
bis 2. August 2000 aufgelegt.

    B.- Markus Frei ist Eigentümer der Parzelle Nr. 336 an der
Mühletobelstrasse 8 und direkter Anstösser der Bauparzellen. Mit Entscheid
vom 12. September 2000 wies der Stadtrat Frauenfeld seine Einsprache
ab. Den dagegen erhobenen Rekurs wies das Departement für Bau und Umwelt
des Kantons Thurgau am 27. Juni 2001 vollumfänglich ab.

    Mit Beschwerde vom 7. September 2001 an das Verwaltungsgericht stellte
Markus Frei die Begehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und
der Raas AG sei die Erstellung der auf dem Nachbargrundstück geplanten
Wohnhausbaute 10D unter Aufhebung der diesbezüglichen Baubewilligung zu
verbieten, eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit
Urteil vom 22. Mai 2002 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
die Beschwerde sowohl hinsichtlich ihres öffentlich- als auch des
privatrechtlichen Charakters ab.

    C.- Mit Berufung vom 19. August 2002 stellt Markus Frei die Begehren,
der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben
(Ziff. 1) und der Berufungsbeklagten sei die Erstellung der Wohnbaute
Mühletobelstrasse 10D zu verbieten, soweit nicht die Streitsache zur
ergänzenden Sachverhaltsfeststellung und Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen sei (Ziff. 2). Es sind keine Berufungsantworten eingeholt
worden.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.

    2.1  Das Verwaltungsgericht hat sich im Wesentlichen zur
öffentlich-rechtlichen Zulässigkeit des Bauvorhabens geäussert und es hat
diese bestätigt. Zum nachbarrechtlichen Aspekt hat es ausgeführt, es liege
zwar auf der Hand, dass sich der Berufungskläger mit einem Gebäudeabstand
von nur 8 m durch einen möglichen Verlust der Intimsphäre und durch die
mögliche Verschlechterung der Besonnung beeinträchtigt fühle. Indes sei
in einer Bauzone grundsätzlich beides hinzunehmen, soweit dies im Rahmen
der öffentlich-rechtlichen Vorschriften geschehe.

    2.2  Der Berufungskläger rügt die Verletzung von Art. 8 und 684
ZGB. Obwohl der öffentlich- und der privatrechtliche Rechtsschutz
voneinander unabhängig und deshalb auch eigenständig zu beurteilen seien,
habe das Verwaltungsgericht für die zivilrechtliche Seite der Streitigkeit
weder Sachverhaltsfeststellungen getroffen noch die geltend gemachten
negativen Immissionen beurteilt, und es habe sich auch nicht mit den
unterbreiteten Beweisofferten befasst.

    2.3  Es trifft zu, dass die Vorinstanz hinsichtlich des Zivilpunktes
keine (eigenständigen) Sachverhaltsfeststellungen getroffen, sondern
lediglich von einem möglichen Verlust der Intimsphäre und der möglichen
Beeinträchtigung der Besonnung durch den geplanten Neubau gesprochen
und damit einzig die subjektive Befindlichkeit des Berufungsklägers
wiedergegeben hat. Mit der anschliessenden Erwägung, solche Nachteile
seien hinzunehmen, soweit dies im Rahmen der öffentlich-rechtlichen
Vorschriften geschehe, hat die Vorinstanz die Anwendung von Art. 684
ZGB zwar nicht schlechthin, aber sinngemäss dann ausgeschlossen, wenn
der Kanton über eine einschlägige öffentlich-rechtliche Regelung verfügt
und das Bauvorhaben sich an diese Vorschriften hält. Im Folgenden ist
zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht damit Bundesrecht verletzt hat.

    2.4  Die Kantone sind befugt, die Abstände festzusetzen, die bei
Grabungen und Bauten zu beobachten sind (Art. 686 Abs. 1 ZGB). Es bleibt
ihnen vorbehalten, weitere Bauvorschriften aufzustellen (Art. 686 Abs. 2
ZGB).

    Bei Art. 686 ZGB handelt es sich um einen echten Vorbehalt
(MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 81 ff. zu Art. 685/686 ZGB; REY,
Basler Kommentar, N. 3 und 20 zu Art. 685/686 ZGB), der die Kantone - mit
Ausnahme der in Art. 685 ZGB geregelten Materie - zur Ordnung des gesamten
privaten Baurechts befugt. Ob damit eine exklusive Rechtsetzungskompetenz
der Kantone begründet wird, ist umstritten; diesbezüglich kann auf die
in BGE 126 III 452 im Zusammenhang mit dem Pflanzenrecht (Art. 688 ZGB)
dargestellte Kontroverse verwiesen werden (E. 3b S. 457 f. ).

    Während früher die meisten Kantone von der erwähnten
Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht und in ihren Einführungsgesetzen
Abstands-, aber auch weitere Bauvorschriften als kantonales Privatrecht
erlassen haben, gelangt heute fast ausschliesslich (kantonales)
öffentliches Recht zur Anwendung (BÄUMLIN, Privatrechtlicher und
öffentlich-rechtlicher Immissionsschutz, in: Berner Tage für die
Juristische Praxis 1968, S. 108 f.; RASELLI, Berührungspunkte des privaten
und öffentlichen Immissionsschutzes, in: URP 1997 S. 274 f.). Nicht
anders verhält es sich im Kanton Thurgau: Die Regelung im vormaligen
Einführungsgesetz (§ 86 ff. aEGZGB/TG; vgl. SCHÖNENBERGER, Zürcher
Kommentar, Die kantonalen Erlasse, Bd. VI, 2. Teil, Zürich 1941, S. 690)
ist durch diejenige im Planungs- und Baugesetz des Kantons Thurgau (PBG)
und den kommunalen Baureglementen ersetzt worden (vgl. § 12 Abs. 2 Ziff. 4
und 5 PBG). Dennoch bleibt die Frage bedeutsam, ob Art. 686 ZGB zu Gunsten
der Kantone eine exklusive Rechtsetzungskompetenz begründet: Diesfalls
wäre Art. 684 ZGB nämlich im Rahmen des Vorbehaltes von Art. 686 ZGB
derogiert und somit auch dann nicht anwendbar, wenn ein Kanton überhaupt
keine oder jedenfalls keine privatrechtlichen Bestimmungen erlassen
hat, so dass sich in der Konsequenz auch die Frage des Verhältnisses
des die Gebäudeabstände regelnden kantonalen öffentlichen Rechts zum
zivilrechtlichen Immissionsschutz (Art. 684 ZGB) nicht stellte.

    2.5  In BGE 126 III 452 hat das Bundesgericht entschieden, dass
grundsätzlich auch so genannte negative Immissionen wie Schattenwurf
und Lichtentzug von Art. 684 ZGB erfasst werden (E. 2c S. 455 ff.) und
dass die Rechtsetzungskompetenz, die den Kantonen gemäss Art. 688 ZGB im
Bereich des Pflanzenrechts zusteht, die Anwendung von Art. 679 und 684 ZGB
nicht ausschliesse (E. 3c S. 458 ff.). Dieser Entscheid ist in der Lehre
mehrheitlich positiv aufgenommen worden (SCHNYDER, in: Baurecht 2001,
S. 82; SCHMID-TSCHIRREN, in: recht 2001, S. 238 ff.; ablehnend hingegen
PIOTET, in: AJP 2001 S. 594 ff.). In einem obiter dictum ist allerdings
festgehalten worden, im Unterschied zum Pflanzenrecht stelle heute das
kantonale Baurecht meist ein umfassendes Regelwerk dar und dem berechtigten
Immissionsschutz der Nachbarn werde im Baubewilligungsverfahren Rechnung
getragen; es sei kaum denkbar, dass von einer rechtmässig erstellten Baute
derart schwerwiegende Emissionen ausgingen, dass sich ein bundesrechtlicher
Beseitigungsanspruch rechtfertige (E. 3c/cc S. 460). Dies bedarf freilich
der Präzisierung.

    2.6  Wie erwähnt, steht dem Bundeszivilrecht heute in den meisten
Fällen - so auch vorliegend - nicht mehr gestützt auf Art. 686 ZGB
erlassenes kantonales Privatrecht, sondern öffentliches Recht gegenüber. Es
stellt sich deshalb primär die Frage des Verhältnisses zwischen Art.
684 ZGB und dem öffentlichen Baurecht.

    Die Kantone werden in ihren öffentlich-rechtlichen Befugnissen
durch das Bundeszivilrecht nicht beschränkt (Art. 6 ZGB). Das kantonale
öffentliche Recht darf zwar nicht Sinn und Zweck des Bundeszivilrechts
widersprechen oder gar dessen Anwendung vereiteln (HUBER, Berner Kommentar,
N. 213 und 214 zu Art. 6 ZGB), es verfügt jedoch über "expansive Kraft"
(HUBER, aaO, N. 70 ff. zu Art. 6 ZGB) und bestimmt mittels Bauordnung und
Zonenplan mehr und mehr, was nach Lage und Ortsgebrauch an Einwirkungen
zulässig ist. Obwohl die öffentlichen Interessen an den Grenz- und
Gebäudeabständen primär auf den Gebieten der Feuer- und Gesundheitspolizei,
der guten Gestaltung der Siedlungen und der Ästhetik liegen, sollen diese
Vorschriften auch die mannigfaltigen Einflüsse von Bauten und ihrer
Benutzung auf die Nachbargrundstücke mildern (BGE 119 Ia 113 E. 3b S.
117).

    Freilich verhält es sich nicht so, dass Zonenordnungen und
Baureglemente die Lage der Grundstücke und den Ortsgebrauch im Sinne von
Art. 684 ZGB geradezu verbindlich festlegen würden (MEIER-HAYOZ, aaO, N.
112 zu Art. 684 ZGB). Allerdings bildet das öffentliche Baurecht einerseits
ein Indiz für den Ortsgebrauch (vgl. BGE 126 III 223 E. 3c S. 225;
MEIER-HAYOZ, aaO, N. 113; AUER, Neuere Entwicklungen im privatrechtlichen
Immissionsschutz, Diss. Zürich 1997, S. 15), und andererseits ist es bei
der Anwendung von Art. 684 ZGB insofern mitzubedenken, als die Einheit
der Rechtsordnung ein beziehungsloses Nebeneinander von privatem und
öffentlichem Recht verbietet (BGE 126 III 223 E. 3c S. 226; RASELLI, aaO,
S. 284 ff.; HÄNNI, Planungs-, Bau- und besonders Umweltschutzrecht, Bern
2002, S. 493). Art. 6 Abs. 1 ZGB stellt in diesem Sinn nicht nur einen
unechten Vorbehalt zu Gunsten der Kantone dar, sondern verpflichtet auch
zur Harmonisierung von Bundeszivil- und kantonalem öffentlichen Recht
(MARTI, Zürcher Kommentar, N. 25 und 52 ff. zu Art. 6 ZGB); darauf hat
das Bundesgericht bereits im Zusammenhang mit Lärmimmissionen hingewiesen
(BGE 126 III 223 E. 3c S. 225 ff.). Freilich ist nicht zu verkennen,
dass die Ausweitung des öffentlichen Baurechts tendenziell auf Kosten
des privatrechtlichen Immissionsschutzes gehen kann. Dies ist jedoch
insoweit sachlich gerechtfertigt und hinzunehmen, als man es mit
detaillierten Zonenordnungen und Baureglementen zu tun hat. Nur diese
vermögen der übergeordneten Zielsetzung der Raumplanung (vgl. Art. 1
RPG [SR 700]) und dabei insbesondere dem Grundsatz der rationalen,
das ganze Siedlungsgebiet umfassenden Planung (vgl. Art. 3 RPG) zu
genügen. Wird daher das Vorliegen einer übermässigen Einwirkung im Sinne
von Art. 684 ZGB mit dem Argument verneint, das Bauvorhaben entspreche den
massgebenden öffentlich-rechtlichen (Bauabstands-) Normen, und handelt
es sich dabei um Vorschriften, die im Rahmen einer detaillierten, den
Zielen und Planungsgrundsätzen des Raumplanungsrechts entsprechenden Bau-
und Zonenordnung erlassen worden sind, bedeutet das in aller Regel keine
Vereitelung von Bundesrecht (in diesem Sinn auch: MEIER-HAYOZ, aaO,
N. 311 zu Art. 684 ZGB).

    2.7  Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist zusammenfassend
festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht kein Bundesrecht verletzte,
indem es die übermässige Einwirkung im Sinne von Art. 684 ZGB mit der
Begründung verneint hat, das Bauvorhaben entspreche den massgebenden
öffentlich-rechtlichen Abstandsvorschriften. Ebenso wenig ist Art. 8 ZGB
verletzt, weil das Verwaltungsgericht bei diesem Ergebnis nicht gehalten
war, eigene Sachverhaltsfeststellungen zur privatrechtlichen Einsprache
zu treffen und die diesbezüglich beantragten Beweise abzunehmen. Die
Berufung ist abzuweisen.