Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 V 89



128 V 89

17.Auszug aus dem Urteil i.S. 1. G. und 2. E. gegen Kantonale
Ausgleichskasse Glarus und Verwaltungsgericht des Kantons Glarus H 200/00
vom 3. Juni 2002

Regeste

    Art. 52 AHVG; Art. 81 AHVV; Art. 80 SchKG. Bei verspätetem Einspruch
nach Art. 81 Abs. 2 AHVV stehen der Ausgleichskasse zur Feststellung der
Rechtskraft (Rechtsbeständigkeit) ihrer Schadenersatzverfügung sowohl
der Betreibungsweg als auch die Klage nach Art. 81 Abs. 3 AHVV (mit dem
Antrag auf Feststellung der Rechtsbeständigkeit und dem Eventualantrag
auf Leistung der Schadenersatzforderung) offen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach ständiger Rechtsprechung prüft das Eidgenössische
Versicherungsgericht von Amtes wegen die formellen Gültigkeitserfordernisse
des Verfahrens, insbesondere auch die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht auf
die Beschwerde oder Klage eingetreten ist. Hat die Vorinstanz übersehen,
dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlte, und hat sie materiell
entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu
berücksichtigen mit der Folge, dass der angefochtene Entscheid aufzuheben
ist (BGE 125 V 405 Erw. 4a, 122 V 322 Erw. 1, 119 V 312 Erw. 1b, 116 V 258
Erw. 1, 115 V 130 Erw. 1; AHI 1995 S. 188 Erw. 2; SVR 1994 IV Nr. 26 S. 65
Erw. 1; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 73).

    Hier ist deshalb zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht des
Kantons Glarus zu Recht auf die von der Ausgleichskasse erhobene
Feststellungsklage, die Schadenersatzverfügungen vom 15. Oktober 1998
seien in Rechtskraft erwachsen, eingetreten ist.

    b) Für das Schadenersatzverfahren gemäss Art. 52 AHVG gelten nach
Art. 81 AHVV, welcher von der Rechtsprechung seit je als gesetzmässig
betrachtet wurde (BGE 109 V 101 Erw. 3b mit Hinweis auf BGE 108 V
195 Erw. 3), insofern besondere verfahrensrechtliche Regeln, als die
Ausgleichskasse den Ersatz eines vom Arbeitgeber (oder vom subsidiär
haftbaren Organ) verschuldeten Schadens zunächst mittels Verfügung
geltend zu machen hat (Abs. 1), gegen welche die betroffene Person innert
30 Tagen seit Zustellung der Verfügung Einspruch bei der verfügenden
Ausgleichskasse erheben kann (Abs. 2). Besteht die Ausgleichskasse auf
der Schadenersatzforderung, so hat sie bei Verwirkungsfolge innert 30
Tagen seit Kenntnis des Einspruches bei der Rekursbehörde des Kantons, in
welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat, schriftlich Klage zu erheben
(Abs. 3 Satz 1); dabei regeln die Kantone das Verfahren im Rahmen der
Bestimmungen, die sie gemäss Art. 85 AHVG zu erlassen haben (Abs. 3 Satz
2). Aus dieser Regelung folgt, dass Schadenersatzverfügungen in Rechtskraft
erwachsen, wenn die betroffene Person innert 30 Tagen nicht Einspruch
erhebt. Nach Art. 97 Abs. 4 AHVG gilt die in Rechtskraft erwachsene
Verfügung als Rechtsöffnungstitel im Sinne von Art. 80 SchKG (BGE 116 V
287 Erw. 3d; vgl. auch THOMAS NUSSBAUMER, Die Ausgleichskasse als Partei
im Schadenersatzprozess nach Art. 52 AHVG, in: ZAK 1991 S. 387 f.).

    Gemäss Art. 96 AHVG gelten auf dem Gebiete der AHV in Bezug auf die
Berechnung, Einhaltung und Erstreckung der Fristen sowie die Säumnisfolgen
und die Wiederherstellung einer Frist ausschliesslich die Vorschriften
der Art. 20-24 VwVG (BGE 110 V 37 Erw. 2 mit Hinweisen). Schriftliche
Eingaben müssen laut Art. 21 Abs. 1 VwVG spätestens am letzten Tag der
Frist der Behörde eingereicht oder zu deren Handen der schweizerischen
Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen
Vertretung übergeben werden. Bei Versäumnis einer gemäss Art. 22 Abs. 1
VwVG nicht erstreckbaren gesetzlichen Frist tritt - unter Vorbehalt der
Wiederherstellung (Art. 24 VwVG) - Verwirkungsfolge ein (BGE 107 V 188 Erw.
1; GYGI, aaO, S. 60).

    c) Art. 81 AHVV regelt somit - ausdrücklich - nur den Fall, in welchem
ein Einspruch innert der 30tägigen Frist erfolgt. Dagegen schweigt sich
die Verordnungsregelung über die Rechtsfolgen aus, welche eintreten,
wenn kein Einspruch oder ein verspäteter Einspruch erfolgt.

    Die Frage ist nach den Prinzipien zu beantworten, wie sie für das
nicht streitige Verwaltungsverfahren Geltung haben. Danach steht die
Geltungskraft einer Verfügung unter dem Vorbehalt, dass sie nicht innert
der gesetzlichen Rechtsmittelfrist angefochten wird. Ob diese Anfechtung
auf dem klassischen Weg der nachträglichen Verwaltungsrechtspflege
(Beschwerde), durch eine Einsprache (die zu einem beschwerdeweise
anfechtbaren Einspracheentscheid führt) oder, wie nach Art. 81 Abs. 2
AHVV im Bereich der Arbeitgeber(organ)haftung der Fall, mittels eines
Einspruchs erfolgt, macht diesbezüglich keinen Unterschied: Beschwerde,
Einsprache oder Einspruch verhindern den Eintritt der formellen Rechtskraft
(und die daran anknüpfende materielle Rechtskraft, welche im Bereich
der Verwaltungsverfügungen, der Lehre GYGIS [aaO, S. 72 f.] folgend,
überwiegend als Rechtsbeständigkeit bezeichnet wird).

Erwägung 3

    3.- a) Somit stellt sich die Frage, in welchem Verfahren der
unterbliebene oder verspätete Einspruch festgestellt wird. Dabei bietet
sich zum einen der Weg über das Rechtsöffnungsgericht an, da eine nicht
oder nicht fristgemäss angefochtene und daher formell rechtskräftig
gewordene Verfügung als definitiver Rechtsöffnungstitel im Sinne von
Art. 80 SchKG gilt (vgl. Erw. 2b). Zum andern ist denkbar, dass die
Ausgleichskasse nicht sogleich den Betreibungsweg einschlägt, sondern
vielmehr zunächst die Rechtsbeständigkeit ihrer Schadenersatzverfügung
kraft eines fehlenden oder aber verspätet eingereichten Einspruchs
richterlich bestätigt haben will, wozu sich die Klage nach Art. 81 Abs. 3
AHVV anbietet.

    b) aa) Der Schadenersatzprozess zeichnet sich durch die Besonderheit
aus, dass die Verwaltung den Schadenersatzanspruch zwar durch
Verfügung geltend macht, diese aber nicht den Beschwerdeweg eröffnet,
sondern einem Einspruch unterliegt. Erfolgt ein Einspruch, der keiner
Begründung bedarf (BGE 117 V 134 Erw. 5), so fällt die Verfügung ohne
weiteres dahin, wodurch das Verfahren in ein Klageverfahren im Sinne der
ursprünglichen Verwaltungsrechtspflege wechselt. Die Ausgleichskasse hat
bei Verwirkungsfolge (rechtzeitig) Klage zu erheben, ansonsten sie ihren
Schadenersatzanspruch verliert. Damit nimmt der Schadenersatzprozess
nach Art. 81 AHVV eine Mittelstellung zwischen der ursprünglichen und
der nachträglichen Verwaltungsrechtspflege ein (NUSSBAUMER, aaO, S. 387).

    Nun geht es im Verfahren nach Art. 52 AHVG in Verbindung mit
Art. 81 AHVV primär um die Rechtsverfolgung, d.h. um die anbegehrte
richterliche Zusprechung des eingeforderten Schadenersatzes, während auf
dem Weg der Schuldbetreibung Zwangsvollstreckungen durchgeführt werden,
welche auf eine Geldzahlung oder eine Sicherstellung gerichtet sind
(Art. 38 Abs. 1 SchKG). Die Klage gemäss Art. 81 Abs. 3 AHVV hat aber
nicht nur den Charakter einer verwaltungsrechtlichen Leistungsklage
auf Zahlung von Schadenersatz nach Art. 52 AHVG, sondern es kommt ihr
auch eine vollstreckungsähnliche Funktion zu, vergleichbar am ehesten
mit derjenigen eines Rechtsöffnungsbegehrens im Sinne von Art. 80 SchKG
(vgl. BGE 122 V 68 Erw. 4c, 117 V 135 Erw. 5, 112 V 263 Erw. 2c). Denn
schon dem Einspruch nach Art. 81 Abs. 2 AHVV eignet eine ähnliche Funktion
wie dem Rechtsvorschlag gemäss Art. 74 ff. SchKG, da er den Weitergang
des Verfahrens mindestens vorläufig - bis zur Einreichung der Klage -
hindert (BGE 122 V 68 Erw. 4c).

    bb) Im Hinblick auf diese doppelte Funktion des Verfahrens sind bei
einem verspäteten Einspruch nach Art. 81 Abs. 2 AHVV beide prozessualen
Wege, der Betreibungsweg und das Klageverfahren, zuzulassen. Direkt
auf dem Betreibungsweg vorzugehen hat die Ausgleichskasse nur, wenn
unbestrittenerweise überhaupt kein Einspruch erfolgt ist, da diesfalls
die Rechtskraft der (ordnungsgemäss und nachweislich zugestellten)
Schadenersatzverfügung klar feststeht. Wählt die Ausgleichskasse den
Klageweg, ist für den Fall, dass dem Begehren auf Feststellung der
Rechtskraft der Schadenersatzverfügung nicht entsprochen wird, das
Feststellungsbegehren mit einem Begehren auf Leistung zu verbinden.
Entscheidet sich die Ausgleichskasse andererseits für den Weg über die
Betreibung, muss ihr für den Fall, dass die definitive Rechtsöffnung nicht
gewährt wird (weil sich der Einspruch als rechtzeitig herausstellt),
das Klagerecht gewahrt bleiben. Diesfalls beginnt die 30-tägige
Frist gemäss Art. 81 Abs. 3 AHVV ab Eintritt der Rechtskraft des
Rechtsöffnungserkenntnisses zu laufen.