Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 V 70



128 V 70

14. Auszug aus dem Urteil i.S. Helsana Versicherungen AG gegen G. und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich K 139/99 vom 27. Februar 2002

Regeste

    Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG; Art. 18 lit. c Ziff. 7 KLV: Gebisssanierung
nach einer schweren psychischen Krankheit. Eine Leistungspflicht für
eine Beeinträchtigung der Kaufunktion bei schwer psychisch Kranken
zufolge Unterbleibens genügender Mundhygiene kann nur bejaht werden,
wenn die genügende Mundhygiene aus Gründen der psychischen Krankheit
verunmöglicht war.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Gemäss Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 lit.
c Ziff. 7 KLV übernimmt die Versicherung die Kosten der zahnärztlichen
Behandlungen, die durch eine schwere psychische Erkrankung mit konsekutiver
schwerer Beeinträchtigung der Kaufunktion oder ihre Folge bedingt und
zur Behandlung des Leidens notwendig sind.

    a) Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 KLV löst,
obschon in diesen Bestimmungen nicht ausdrücklich erwähnt, analog
zu Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 KLV nur bei
nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems Pflichtleistungen
aus. Zu betonen ist dabei, dass nicht die schwere Allgemeinerkrankung,
sondern die Kausystemerkrankung unvermeidbar gewesen sein muss. Dies
geht einerseits aus der parlamentarischen Debatte über Art. 31 KVG
hervor, bei der die Mehrheit in den Räten die Auffassung vertrat, dass
vermeidbare Erkrankungen des Kausystems, wie Karies, generell nicht zu
den Pflichtleistungen der Krankenkassen gehören (vgl. Amtl.Bull. 1992 S
1301 f.; Amtl.Bull. 1993 N 1843 f.). Andererseits ergeben auch Sinn und
Zweck der Verordnungsbestimmung, dass der Grund für die Zuordnung zu den
Pflichtleistungen darin zu sehen ist, dass die versicherte Person für
die Kosten der zahnärztlichen Behandlung dann nicht voll aufkommen muss,
wenn sie an einer nicht vermeidbaren Erkrankung des Kausystems leidet,
die durch eine schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt
ist (vgl. GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherungsrechtliche Aspekte der
zahnärztlichen Behandlung nach Art. 31 Abs. 1 KVG, in: LAMal-KVG, Recueil
de travaux en l'honneur de la Société suisse de droit des assurances,
Lausanne 1997, S. 239 f.). Dieser Auslegung liegt somit der Gedanke zu

Grunde, dass von einer versicherten Person eine genügende Mundhygiene
erwartet wird. Diese verlangt Anstrengungen in Form täglicher
Verrichtungen, namentlich die Reinigung der Zähne, die Selbstkontrolle
der Zähne, soweit dem Laien möglich, des Ganges zum Zahnarzt, wenn sich
Auffälligkeiten am Kausystem zeigen, sowie periodischer Kontrollen und
Behandlungen durch den Zahnarzt (einschliesslich einer periodischen
professionellen Dentalhygiene). Sie richtet sich nach dem jeweiligen
Wissensstand der Zahnheilkunde (vgl. BGE 128 V 62 Erw. 4a).

    b) Unter vermeidbar im Sinne der obigen Ausführungen fällt alles, was
durch eine genügende Mundhygiene vermieden werden könnte. Abzustellen
ist dabei grundsätzlich auf eine objektive Vermeidbarkeit der
Kausystemerkrankung. Massgebend ist demzufolge, ob beispielsweise Karies
oder Parodontitis hätte vermieden werden können, wenn die Mundhygiene
genügend gewesen wäre, dies ohne Rücksicht darauf, ob die versäumte
Prophylaxe im Einzelfall als subjektiv entschuldbar zu betrachten ist
(vgl. EUGSTER, aaO, S. 251; BGE 128 V 63 Erw. 4b).

Erwägung 5

    5.- a) Der Beschwerdegegner, unterstützt durch den ihn behandelnden
Zahnarzt Dr. med. dent. F., führt die Notwendigkeit der Gebisssanierung auf
die wegen seiner schweren Depression unterbliebene Mundhygiene zurück. Ohne
näher darauf einzugehen, ob vorliegend die Voraussetzungen einer schweren
psychischen Erkrankung und einer konsekutiven schweren Beeinträchtigung
der Kaufunktion erfüllt sind, ist klarzustellen, dass massgebend für eine
allfällige Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
die Gründe für das Unterbleiben der genügenden Mundhygiene sind. Ist
einem schwer psychisch Kranken die Durchführung einer genügenden
Mundhygiene lediglich erschwert, rechtfertigt sich eine Leistungspflicht
für eine daraus hervorgegangene schwere Beeinträchtigung der Kaufunktion
nicht. Auch andern schwer Kranken sowie Alten und Gebrechlichen ist nämlich
die Aufrechterhaltung der Mundhygiene erschwert, ohne dass sie sich bei
deren Vernachlässigung auf eine Leistungspflicht für daraus entstandene
Gebissschäden berufen könnten. Eine Pflichtleistung der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung für eine Beeinträchtigung der Kaufunktion
zufolge Unterbleibens genügender Mundhygiene kann somit unter dem
Gesichtswinkel rechtsgleicher Behandlung nur bei solchen Versicherten mit
schweren psychischen Erkrankungen bejaht werden, bei denen eine genügende
Mundhygiene aus Gründen dieser Krankheit verunmöglicht ist. In diesem

Sinne äussert sich denn auch der von der Schweizerischen
Zahnärzte-Gesellschaft SSO herausgegebene Atlas der Erkrankungen mit
Auswirkungen auf das Kausystem (SSO-Atlas, Definition, S. 145). Die
Aufrechterhaltung genügender Mundhygiene kann verunmöglicht sein, wenn
sich eine schwer psychisch kranke Person wegen ihres Unvermögens, die
Notwendigkeit einer genügenden Mundhygiene zu erkennen, einer solchen
widersetzt oder wenn die Durchführung einer genügenden Mundhygiene aus
Gründen wie etwa der ernsthaften Verschlimmerung des psychischen Leidens
während geraumer Zeit zu unterbleiben hat. Dabei ist bei schwer psychisch
Kranken wie bei andern Kranken davon auszugehen, dass ihnen, soweit sich
nicht Angehörige oder Bekannte um sie kümmern, die sozialen Hilfen (z.B.
private oder öffentliche Fürsorge, unter Umständen vormundschaftliche
Massnahmen) zur Verfügung stehen.

    b) Dem Beschwerdegegner war es nicht im oben dargelegten Sinne
verunmöglicht, eine genügende Mundhygiene aufrechtzuerhalten. In den Akten
finden sich keine Anhaltspunkte, wonach der Versicherte der Einsicht
in die Notwendigkeit der Mundhygiene nicht fähig gewesen wäre und sich
ihr widersetzt hätte. Abgesehen davon, dass nach dem Gesagten das vom
Versicherten geltend gemachte Unvermögen, den Zahnarzt aufzusuchen,
eine Leistungspflicht nicht zu begründen vermöchte, ist ein solches auch
gar nicht ausgewiesen. Weshalb er nicht in der Lage gewesen sein soll,
die nötige Mundhygiene aufrechtzuerhalten und die Zähne pflegen und
kontrollieren zu lassen, legt der behandelnde Zahnarzt in seinem Schreiben
an den Krankenversicherer vom 20. September 1996 nicht dar. Soweit er dem
Beschwerdegegner am 19. Juni 1997 bestätigt hat, dass er nicht mehr in der
Lage gewesen sei, das Haus zu verlassen, um ihn, den Zahnarzt, aufzusuchen,
kontrastiert dies mit dem Umstand, dass der Versicherte gemäss eigenen
Ausführungen einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb mit Tierhaltung führte.
Auch für kranke und ältere Menschen ist es regelmässig beschwerlich,
den Zahnarzt aufzusuchen, was indessen für den Gesetzgeber keinen Grund
darstellt, bei Vernachlässigung der Mundhygiene deswegen Pflichtleistungen
der Krankenkasse vorzusehen. Im Übrigen hat auch der Psychiater Dr. med. J.
in seinem Schreiben an die Krankenversicherung vom 16. November 1996 damit
argumentiert, der Beschwerdegegner sei nicht mehr in der Lage gewesen,
ihn, den Psychiater, und den Zahnarzt aufzusuchen, wohingegen er in seinem
Schreiben an die Vorinstanz vom 13. August 1997 ausgeführt

hat, die psychiatrische Behandlung sei seit Mai 1989 (Zeitpunkt des
Erhalts der Invalidenrente) eingestellt worden, nachdem das Leiden des
Versicherten einigermassen stabil geworden und eine weitere Besserung
nicht mehr zu erreichen gewesen sei. Dies entspricht denn auch den
Angaben des Beschwerdegegners im vorinstanzlichen Verfahren, wonach er
die Behandlung beim Psychiater abgebrochen habe, als er keine Fortschritte
mehr gemacht habe.

Erwägung 6

    6.- a) Nach Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG übernimmt die obligatorische
Krankenpflegeversicherung die Kosten der zahnärztlichen Behandlung, die
durch eine schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt ist. In
Übereinstimmung damit setzt Art. 18 KLV diesbezüglich die Folgen einer
schweren Allgemeinerkrankung der Erkrankung gleich. Ursache für die
zahnärztliche Behandlung kann demnach die schwere Allgemeinerkrankung
oder aber ihre Folge sein. Indem Gesetz und Verordnung ausdrücklich als
Ursache der zahnärztlichen Behandlung auch die Folgen einer schweren
Allgemeinerkrankung nennen, drängt sich der Schluss auf, dass auch
die Behandlung einer schweren Erkrankung als Folge derselben zu einer
leistungspflichtigen zahnärztlichen Behandlung führen kann. Ist demzufolge
die zahnärztliche Behandlung des Versicherten durch die medikamentöse
Behandlung als Folge seiner schweren psychischen Erkrankung bedingt,
fällt sie in den Pflichtleistungsbereich des Krankenversicherers.

    b) Der behandelnde Zahnarzt hat am 20. September 1996 der
Beschwerdeführerin auf deren Anfrage hin mitgeteilt, es entziehe sich
seiner Kenntnis, ob allenfalls Nebenwirkungen einer medikamentösen
Behandlung der psychischen Erkrankung des Versicherten bei der Schädigung
des Gebisses eine Rolle gespielt haben könnten. Diesbezüglich sei
der behandelnde Arzt zu befragen. In den Akten finden sich keine
Hinweise darauf, dass dies getan worden ist. Da bejahendenfalls
eine Leistungspflicht gegeben wäre, sofern und soweit aus einer
medizinischen Behandlung einer schweren psychischen Erkrankung eine schwere
Beeinträchtigung der Kaufunktion der versicherten Person hervorgegangen
wäre, ist die Sache an die Beschwerdeführerin zurückzuweisen, damit sie
diese Abklärungen vornehme und über ihre Leistungspflicht neu verfüge.