Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 V 59



128 V 59

12. Urteil i.S. I. gegen Krankenkasse KPT und Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern

    K 106/99 vom 29. Januar 2002

Regeste

    Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG; Art. 18 lit. d KLV: Kostenübernahme bei
zahnärztlicher Behandlung zufolge einer Speicheldrüsenerkrankung.

    - Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 KLV löst -
analog zu Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 KLV - nur
bei nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems Pflichtleistungen der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung aus; dabei wird grundsätzlich
eine objektive Unvermeidbarkeit vorausgesetzt.

    - Die geforderte Unvermeidbarkeit verlangt eine nach dem jeweiligen
Wissensstand der Zahnheilkunde genügende Mundhygiene; eine versicherte
Person, die auf Grund ihrer Konstitution, durchgemachten Krankheiten
oder durchgeführten Zahnbehandlungen eine erhöhte Anfälligkeit für
Zahnerkrankungen aufweist, kann es nicht bei der allgemein üblichen
Mundhygiene bewenden lassen.

Sachverhalt

    A.- Die 1948 geborene I. ist bei der Krankenkasse KPT (nachfolgend
KPT) krankenversichert. Sie stellte der Krankenkasse verschiedene
Zahnarztrechnungen für Behandlungen bei Dr. med. dent. M. im Zeitraum
vom 12. Januar 1996 bis 7. April 1997 zu. Nach Konsultation ihres
Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. W. hielt die KPT in ihrer Verfügung vom
22. August 1997 fest, dass an die zahnärztlichen Behandlungskosten seit 1.
Januar 1996 aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nur die
Kosten der Kariesprophylaxe, der Fluorschiene und der Ernährungsberatung
vergütet werden. An ihrem Standpunkt hielt sie mit Einspracheentscheid
vom 27. Januar 1998 fest.

    B.- Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher I. sinngemäss die
Aufhebung des Einspracheentscheids, die Einholung eines medizinischen
Gutachtens und die Vergütung der Zahnarztrechnungen beantragen liess, wies
das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Urteil vom 22. April 1999 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt I. sinngemäss wiederum
die Einholung einer medizinischen Expertise und die Übernahme der Kosten
für die Zahnpflege ab Januar 1996 beantragen.

    Die KPT schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

    D.- Am 28. März 2000 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
eine Expertengruppe mit der Erstellung eines zahnmedizinischen
Grundsatzgutachtens im Zusammenhang mit der Leistungspflicht
der Krankenkassen bei zahnärztlichen Behandlungen beauftragt. Um
sicherzustellen, dass keine Widersprüche in der Rechtsprechung zu den
Leistungsbestimmungen der Verordnung über Leistungen in der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung ergehen, wurde neben anderen Beschwerdeverfahren
auch das vorliegende Verfahren mit Verfügung vom 3. April 2000
sistiert. Das Grundsatzgutachten ging am 31. Oktober 2000 beim Gericht
ein und wurde am 16. Februar 2001 mit den Experten erörtert. Am 21. April
2001 erstellten die Experten einen Ergänzungsbericht.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nachdem das Grundsatzgutachten erstellt ist, kann die Sistierung
des vorliegenden Verfahrens aufgehoben werden.

Erwägung 2

    2.- a) Die Leistungen, deren Kosten von der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung bei Krankheit zu übernehmen sind, werden
in Art. 25 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) in
allgemeiner Weise umschrieben. Im Vordergrund stehen die Leistungen
der Ärzte und Ärztinnen, dann aber auch der Chiropraktoren und
Chiropraktorinnen sowie der Personen, die im Auftrag von Ärzten und
Ärztinnen Leistungen erbringen.

    Die Leistungen der Zahnärzte und Zahnärztinnen sind in der genannten
Bestimmung nicht aufgeführt. Die Kosten dieser Leistungen sollen im
Krankheitsfalle der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nur in
eingeschränktem Masse überbunden werden, nämlich wenn die zahnärztliche
Behandlung durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems
(Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG) oder durch eine schwere Allgemeinerkrankung
oder ihre Folgen bedingt (Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG) oder zur Behandlung
einer schweren Allgemeinerkrankung oder ihrer Folgen notwendig ist
(Art. 31 Abs. 1 lit. c KVG).

    b) Gestützt auf Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in Verbindung mit Art. 33
lit. d der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) hat das
Departement in der Verordnung über Leistungen in der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung [KLV])
zu jedem der erwähnten Unterabsätze von Art. 31 Abs. 1 KVG einen eigenen
Artikel erlassen, nämlich zu lit. a den Art. 17 KLV, zu lit. b den Art. 18
KLV und zu lit. c den Art. 19 KLV. In Art. 17 KLV werden die schweren,
nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems aufgezählt, bei denen
daraus resultierende zahnärztliche Behandlungen von der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung zu übernehmen sind. In Art. 18 KLV werden
die schweren Allgemeinerkrankungen und ihre Folgen aufgelistet, die
zu zahnärztlicher Behandlung führen können und deren Kosten von der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu tragen sind. In Art. 19
KLV schliesslich hat das Departement die schweren Allgemeinerkrankungen
aufgezählt, bei denen die zahnärztliche Massnahme notwendigen Bestandteil
der Behandlung darstellt.

    c) In BGE 124 V 185 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
entschieden, dass die in Art. 17-19 KLV erwähnten Erkrankungen,
deren zahnärztliche Behandlung von der sozialen Krankenversicherung zu
übernehmen ist, abschliessend aufgezählt sind. Daran hat es in ständiger
Rechtsprechung festgehalten (BGE 127 V 328 und 339).

Erwägung 3

    3.- Unbestritten und aus den Akten ersichtlich ist, dass die
Beschwerdeführerin an den Folgen von Speicheldrüsenresektionen,
insbesondere an Xerostomie, leidet und dass daraus eine erhöhte
Kariesanfälligkeit resultiert. Einig sind sich alle Beteiligten in der
Qualifikation dieses Leidens als Speicheldrüsenerkrankung im Sinne von
Art. 18 lit. d KLV. Streitig und zu prüfen ist, ob die Kosten für die
zahnärztlichen Behandlungen in der Zeit ab 12. Januar 1996 bis 7. April
1997 von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen sind.

Erwägung 4

    4.- Gemäss Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 lit. d
KLV übernimmt die Versicherung die Kosten der zahnärztlichen Behandlungen,
die durch eine Speicheldrüsenerkrankung oder ihre Folgen bedingt und zur
Behandlung des Leidens notwendig sind.

    a) Wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat, löst Art. 31 Abs. 1
lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 KLV, obschon in diesen Bestimmungen
nicht ausdrücklich erwähnt, analog zu Art. 31 Abs. 1

lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 KLV nur bei nicht vermeidbaren
Erkrankungen des Kausystems Pflichtleistungen aus. Nochmals zu
betonen ist, dass vorliegend nicht die schwere Allgemeinerkrankung,
sondern die Kausystemerkrankung unvermeidbar gewesen sein muss. Dies
geht einerseits aus der parlamentarischen Debatte über Art. 31 KVG
hervor, bei der die Mehrheit in den Räten die Auffassung vertrat, dass
vermeidbare Erkrankungen des Kausystems, wie Karies, generell nicht zu
den Pflichtleistungen der Krankenkassen gehören (vgl. Amtl.Bull. 1992 S
1301 f.; Amtl.Bull. 1993 N 1843 f.). Andrerseits ergeben auch Sinn und
Zweck der Verordnungsbestimmung, dass der Grund für die Zuordnung zu den
Pflichtleistungen darin zu sehen ist, dass die versicherte Person für die
Kosten der zahnärztlichen Behandlung dann nicht soll aufkommen müssen, wenn
sie an einer nicht vermeidbaren Erkrankung des Kausystems leidet, die durch
eine schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt ist (vgl. GEBHARD
EUGSTER, Krankenversicherungsrechtliche Aspekte der zahnärztlichen
Behandlung nach Art. 31 Abs. 1 KVG, in: LAMal-KVG, Recueil de travaux en
l'honneur de la Société suisse de droit des assurances, Lausanne 1997,
S. 239 f.). Dieser Auslegung liegt somit der Gedanke zu Grunde, dass von
einer versicherten Person eine genügende Mundhygiene erwartet wird. Diese
verlangt Anstrengungen in Form täglicher Verrichtungen, namentlich die
Reinigung der Zähne, die Selbstkontrolle der Zähne, soweit dem Laien
möglich, des Ganges zum Zahnarzt, wenn sich Auffälligkeiten am Kausystem
zeigen, sowie periodischer Kontrollen und Behandlungen durch den Zahnarzt
(einschliesslich einer periodischen professionellen Dentalhygiene). Sie
richtet sich nach dem jeweiligen Wissensstand der Zahnheilkunde.

    b) Was die Vermeidbarkeit im Sinne der obigen Ausführungen anbelangt,
fällt darunter - wie die Vorinstanz ebenfalls zutreffend erwogen hat
- alles, was durch eine genügende Mund- und Zahnhygiene vermieden
werden könnte. Abzustellen ist dabei grundsätzlich auf eine objektive
Vermeidbarkeit der Kausystemerkrankung. Massgebend ist demzufolge,
ob beispielsweise Karies oder Parodontitis hätte vermieden werden
können, wenn die Mund- und Zahnhygiene genügend gewesen wäre, dies ohne
Rücksicht darauf, ob die versäumte Prophylaxe im Einzelfall als subjektiv
entschuldbar zu betrachten ist (vgl. EUGSTER, aaO, S. 251).

Erwägung 5

    5.- a) Die Krankenkasse hat weder in der Verfügung und im
Einspracheentscheid, noch in der Beschwerdeantwort und in der Duplik im
Vorverfahren, noch in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde

bestritten, dass die Beschwerdeführerin an Mundtrockenheit (Xerostomie)
als Folge der Speicheldrüsenerkrankung leidet und dass damit eine
erhöhte Kariesanfälligkeit besteht. Sie hat hingegen die Zahnschäden,
für welche die Versicherte Kassenleistungen verlangt, als bei guter
Mundhygiene vermeidbar bezeichnet. Ihrer Ansicht nach war die Mundhygiene
der Beschwerdeführerin ungenügend, wären doch vier jährliche Kontrollen
und Fluoridierungen angemessen und zumutbar gewesen. Aus den eingereichten
Rechnungen für die Behandlungen ab 1. Januar 1996 (recte: 12. Januar 1996)
sei jedoch ersichtlich, dass einzig am 28. März 1996 eine Fluoridierung
und am 16. April 1996 eine Schmelzätzung und Dentinvorbehandlung mit
Haftvermittler als Kariesprophylaxe durchgeführt worden seien.

    b) Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber geltend, bei den
Fällen von Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 KLV könne
Karies unvermeidbar sein. Zur sachkundigen Beantwortung der Frage der
Vermeidbarkeit sei - wie bereits im kantonalen Verfahren beantragt - eine
medizinische Expertise notwendig. Sie habe eine ordentliche Zahnpflege
betrieben und sei stets darauf bedacht gewesen, die Mundschleimhäute
nicht austrocknen zu lassen.

    c) Die Vorinstanz hat sich der Auffassung der Beschwerdegegnerin,
wonach die in Rechnung gestellten Zahnbehandlungen bei geeigneter
Prophylaxe trotz der bestehenden Xerostomie mit Sicherheit vermeidbar
gewesen wären, angeschlossen. Massgebendes Kriterium sei die objektive
Unvermeidbarkeit. Die Vermeidbarkeit von Parodontitis und Karies werde
damit in gewissem Sinne zu einer Vermutung. Zu einer geeigneten Prophylaxe
gehöre in concreto nun aber, dass sie häufiger als nur zweimal innerhalb
von 16 Monaten durchgeführt werde.

Erwägung 6

    6.- Den Darlegungen und insbesondere der Schlussfolgerung von
Krankenkasse und Vorinstanz kann nicht beigepflichtet werden.

    a) Von einer "Vermutung" der Vermeidbarkeit von Karies kann
nicht ausgegangen werden, auch nicht in "gewissem Sinne", wie das
kantonale Gericht annimmt. Vielmehr gibt es Formen vermeidbarer
und nicht vermeidbarer Karies. So hat der Verordnungsgeber mit der
Aufnahme von Art. 18 lit. d KLV offensichtlich auch die Behandlung von
Karies und andern Zahnschäden zur Pflichtleistung der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung gemacht, gerade eben in der Erkenntnis, dass
Speicheldrüsenerkrankungen und die daraus folgende Mundtrockenheit zu
nicht vermeidbaren Zahnschäden führen können.

    b) Die der Krankenkasse unterbreiteten Rechnungen weisen
Zahnbehandlungen ab 12. Januar 1996 aus. Die erste der in den Rechnungen
ausgewiesenen zahnärztlichen Verrichtungen ist das provisorische
Zementieren einer Krone. Die von der Beschwerdegegnerin behauptete
unzureichende Mundhygiene der Versicherten müsste vor diesem Zeitraum
ausgewiesen sein.

    c) Entscheidend kann sodann nicht sein, ob die Beschwerdeführerin eine
weniger gute Mundhygiene gehabt hat, als von der Beschwerdegegnerin als
nötig und zumutbar erachtet wird, sondern vielmehr, ob die Zahnbehandlungen
bei der Speicheldrüsenerkrankung und der dadurch verursachten
Mundtrockenheit mit erhöhter Kariesanfälligkeit durch eine genügende und
zumutbare Mundhygiene hätten vermieden werden können. Ersteres würde
nämlich auf eine Sanktionierung der Beschwerdeführerin hinauslaufen,
indem sie wegen ungenügender Mundhygiene der Pflichtleistung selbst dann
verlustig ginge, wenn die Zahnschäden trotz optimaler, d.h. genügender
und zumutbarer Mundhygiene nicht vermeidbar wären.

    d) Der behandelnde Zahnarzt attestiert der Versicherten eine gute
Mundhygiene. Wird - wie oben dargelegt - auf eine objektive Vermeidbarkeit
der Zahnschäden abgestellt, gehört dazu eine allgemein übliche genügende
Mund- und Zahnhygiene (Erw. 4a). Dies will indessen nicht heissen, dass
eine versicherte Person, die auf Grund ihrer Konstitution, durchgemachten
Krankheiten oder durchgeführten Zahnbehandlungen eine erhöhte Anfälligkeit
für Zahnerkrankungen hat, es mit der allgemein üblichen Mundhygiene
bewenden lassen kann. Die Mundhygiene muss aber in jedem Fall sowohl in
der täglichen Durchführung wie auch hinsichtlich des periodischen Ganges
zum Zahnarzt und der Dentalhygiene in vernünftigem und zumutbarem Rahmen
bleiben.

    e) Ob die Schäden, für welche die Versicherte Leistungen der
Krankenkasse begehrt, bei einer solchen Mundhygiene im Sinne von Erw. 6d
vermeidbar gewesen wären, kann den Akten nicht entnommen werden. Da die
Beantwortung der Frage Fachwissen erfordert, hat die Beschwerdegegnerin
darüber unter Wahrung der Parteirechte ein Gutachten einzuholen. Dabei geht
es um die Abklärung, welche direkten Zahnschäden, vor allem Karies, und
welche Folgeschäden bei einer genügenden Mundhygiene im oben dargestellten
Sinne vermeidbar gewesen wären.