Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 V 5



128 V 5

2. Urteil i.S. Ausgleichskasse des Kantonalen Gewerbeverbandes Baselland
gegen H. und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft H 174/00
vom 4. März 2002

Regeste

    Art. 24a und 35bis AHVG: Anspruch auf Verwitwetenzuschlag (Auslegung
des Begriffs "verwitwete Bezügerinnen und Bezüger von Altersrenten"). Der
20%ige Zuschlag zur Altersrente nach Art. 35bis AHVG steht nur Verwitweten
im eigentlichen Sinne dieses Zivilstandes zu (d.h. Rentenberechtigten,
deren Ehe durch Tod aufgelöst wurde und die sich nicht mehr verheiratet
haben), weshalb geschiedene Altersrentenbezügerinnen und -bezüger,
deren früherer Ehegatte verstorben ist, trotz der unter bestimmten
Voraussetzungen vorgeschriebenen Gleichstellung von geschiedenen mit
verwitweten Personen gemäss Art. 24a AHVG nicht in den Genuss des
Verwitwetenzuschlags gelangen.

Sachverhalt

    A.- Die am 28. Juni 1917 geborene H. verheiratete sich am 17.  Oktober
1940 mit B. (Jahrgang 1912). Die Ehe, welcher drei Kinder entsprossen,
wurde am 22. Oktober 1953 geschieden. Mit Verfügung vom 2. Juli
bzw. 3. Dezember 1979 sprach die Ausgleichskasse des Gewerbeverbandes
Baselland (AGEBAL) H. ab 1. Juli 1979 eine ordentliche einfache
Altersrente zu. Diese wurde im Rahmen des vorgezogenen ersten Teils der
10. AHV-Revision mit Wirkung ab 1. Januar 1994 unter Mitberücksichtigung
(ungeteilter) Erziehungsgutschriften neu berechnet (Kassenverfügung

vom 22. Dezember 1993). Nachdem ihr früherer Ehemann am 18. Mai 1997
verstorben war, ersuchte H. um Ausrichtung einer höheren Rente. Die
Ausgleichskasse sprach ihr mit Verfügung vom 21. Juli 1997 anstelle der
bisher bezogenen (tieferen) Altersrente in der Höhe von zuletzt Fr. 1512.-
pro Monat ab 1. Juni 1997 eine Witwenrente von monatlich Fr. 1592.- zu.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft hiess
die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher H. die Zusprechung der
höchstmöglichen Altersrente von (dannzumal) Fr. 1990.- pro Monat beantragt
hatte, mit Entscheid vom 21. Januar 2000 in dem Sinne teilweise gut, als
es die der Versicherten zustehende Altersrente unter Anrechnung des sog.
Verwitwetenzuschlags von 20% auf monatlich Fr. 1815.- (Wert für 1997/98)
festsetzte und die Sache an die Verwaltung zurückwies, damit diese über
die intertemporalrechtliche Frage befinde, ob die genannte Rentenerhöhung
bereits auf den 1. Juni 1997 oder aber erst auf den 1. Januar 2001
vorzunehmen sei (Dispositiv-Ziffer 1 mit Verweisung auf die Erwägungen).

    C.- Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.

    Während H. auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) deren Gutheissung.

Auszug aus den Erwägungen:

        Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Ziff. 1 lit. c Abs. 1 der Übergangsbestimmungen der 10.
AHV-Revision vom 7. Oktober 1994 (ÜbBest. AHV 10) gelten die neuen
Bestimmungen für alle Renten, auf die der Anspruch nach dem 31. Dezember
1996 entsteht; sie gelten auch für laufende einfache Altersrenten von
Personen, deren Ehegatte nach dem 31. Dezember 1996 einen Anspruch auf
eine Altersrente erwirbt oder deren Ehe nach diesem Zeitpunkt geschieden
wird. Laut dem am 1. Januar 1997 in Kraft getretenen Art. 24a Abs. 1
AHVG ist eine geschiedene Person einer verwitweten gleichgestellt (und hat
somit nach dem Tod des früheren Ehegatten Anspruch auf eine Witwen- oder
Witwerrente im Sinne der Art. 23 f. AHVG), wenn sie eines oder mehrere
Kinder hat und die geschiedene Ehe mindestens zehn Jahre gedauert hat
(lit. a) oder die geschiedene Ehe mindestens zehn Jahre gedauert hat und
die Scheidung nach Vollendung des 45. Altersjahres erfolgte (lit. b)
oder das jüngste Kind sein 18. Altersjahr vollendet hat, nachdem die
geschiedene Person ihr 45. Altersjahr zurückgelegt hat (lit. c). Erfüllt
eine Person gleichzeitig

die Voraussetzungen für eine Witwen- oder Witwerrente und für eine
Altersrente oder für eine Rente gemäss dem IVG, so wird nur die höhere
Rente ausbezahlt (Art. 24b AHVG). Nach Art. 35bis AHVG (in der seit
1. Januar 1997 geltenden Fassung) haben verwitwete Bezügerinnen und
Bezüger von Altersrenten Anspruch auf einen Zuschlag von 20% zu ihrer
Rente, wobei Rente und Zuschlag den Höchstbetrag der Altersrente nicht
übersteigen dürfen.

Erwägung 2

    2.- Unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten ist zu Recht unbestritten,
dass die geschiedene Beschwerdegegnerin, welche ab 1. Juli 1979 eine
einfache Altersrente bezog, nach dem am 18. Mai 1997 erfolgten Tod ihres
früheren Ehemannes seit dem 1. Juni 1997 (vgl. Art. 23 Abs. 3 AHVG)
zusätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für eine Witwenrente erfüllt
(Art. 24a Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 AHVG). Da
gemäss angeführtem Art. 24b AHVG von den beiden der Versicherten an
sich zustehenden Renten nur die höhere ausgerichtet wird, gilt es im
Folgenden diese zu eruieren. Dabei liegt letztinstanzlich weder der von
der Ausgleichskasse verfügte Betrag der (neurechtlichen) Witwenrente
von Fr. 1592.- pro Monat noch der Umstand im Streite, dass die damit
zu vergleichende Altersrente grundsätzlich nach den vor Inkrafttreten
der 10. AHV-Revision (am 1. Januar 1997) gültigen Vorschriften zu
ermitteln ist. Streitig ist hingegen, ob die ausschliesslich auf
Grund ihrer eigenen Einkommen (altArt. 31 Abs. 3 und 4 AHVG) und unter
Berücksichtigung (ungeteilter) Erziehungsgutschriften (Art. 2 Abs. 1
des Bundesbeschlusses vom 19. Juni 1992 über Leistungsverbesserungen in
der AHV und der IV sowie ihre Finanzierung) berechnete Altersrente der
Beschwerdegegnerin von - im Zeitpunkt der streitigen Kassenverfügung -
monatlich Fr. 1512.- (Ziff. 1 lit. c Abs. 1 und 9 [jeweils e contrario]
sowie lit. g Abs. 1 ÜbBest. AHV 10; Urteil F. vom 5. Juli 2000, H 302/98)
um den 20%igen Verwitwetenzuschlag gemäss Art. 35bis AHVG zu erhöhen ist
(auf diesen Standpunkt stellen sich kantonales Gericht und Versicherte)
oder ob ein solcher Zuschlag nicht gewährt werden kann (wie Beschwerde
führende Ausgleichskasse und BSV geltend machen).

Erwägung 3

    3.- a) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen.
Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung
aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der
dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn,
der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und
unmissverständlichen

Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich,
wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren
Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der
Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder
aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 127 IV 194
Erw. 5b/aa, 127 V 5 Erw. 4a, 92 Erw. 1d, 198 Erw. 2c, je mit Hinweisen).

    b) Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat sich bereits in BGE 126
V 60 Erw. 6 mit der Auslegung des vorliegend streitigen Art. 35bis AHVG
und namentlich des darin verwendeten Begriffs "verwitwete Bezügerinnen
und Bezüger von Altersrenten" ("les veuves et veufs au bénéfice d'une
rente de vieillesse", "le vedove e i vedovi beneficiari di una rendita
di vecchiaia") befasst und festgestellt, dass nach dem Rechtssinn
dieser Bestimmung, wie er sich eindeutig aus der in den Materialien
dokumentierten Regelungsabsicht des Gesetzgebers ableiten lasse,
der sog. Verwitwetenzuschlag den entsprechenden aktuellen Zivilstand
der rentenberechtigten Person voraussetze und deshalb früher verwitweten,
nunmehr erneut verheirateten Altersrentenbezügerinnen und -bezügern nicht
gewährt werden kann.

    Im hier zu beurteilenden Fall stellt sich die weitere Frage,
ob der angeführte Ausdruck ("verwitwete Bezügerinnen und Bezüger von
Altersrenten") dahin gehend auszulegen ist, dass der 20%ige Zuschlag
zur Altersrente auf Verwitwete im eigentlichen Sinne dieses Zivilstandes
beschränkt bleibt (d.h. auf Rentenberechtigte, deren Ehe durch Tod des
Ehegatten aufgelöst wurde und die sich nicht mehr verheiratet haben)
oder aber ob nach dem Rechtsinn von Art. 35bis AHVG - im Hinblick auf
die von Art. 24a AHVG unter bestimmten Voraussetzungen vorgeschriebene
Gleichstellung von geschiedenen mit verwitweten Personen - auch geschiedene
Altersrentenbezügerinnen und -bezüger, deren früherer Ehegatte verstorben
ist, in den Genuss des Verwitwetenzuschlags kommen sollen.

    c) Der (auch in dieser Beziehung) unklare Wortlaut von Art. 35bis
AHVG lässt beide Interpretationen zu. Was die übrigen normunmittelbaren
Auslegungskriterien anbelangt, ist zunächst auf Grund der systematischen
Betrachtungsweise eher davon auszugehen, dass geschiedenen
Altersrentenberechtigten im Falle des Todes ihres früheren Ehegatten
kein Verwitwetenzuschlag anzurechnen ist. Denn im Gegensatz zu Art. 24a
steht Art. 35bis AHVG nicht unter dem Titel "Der Anspruch auf Witwen-
und Witwerrente", sondern unter den Überschriften "Die Vollrenten" und
"Berechnung und

Höhe der Vollrenten", weshalb sich die in der erstgenannten Bestimmung
statuierte Gleichstellung von geschiedenen mit verwitweten Personen
wohl auf den Bereich der spezifischen Anspruchsvoraussetzungen für
eine Witwen- oder Witwerrente beschränkt und nicht auf denjenigen der
Rentenberechnungsvorschriften für Altersrenten erstreckt. Demgegenüber
spricht die teleologische Sichtweise eher für eine Gewährung des
Verwitwetenzuschlags auch an geschiedene Altersrentenbezügerinnen und
-bezüger, deren früherer Ehegatte verstorben ist. Wenn nämlich der 20%ige
Zuschlag dem Ausgleich splittingbedingter Nachteile dient (Amtl.Bull. 1994
S. 552 f. und 562), böte sich diesem Normzweck im Hinblick auf die
Altersrenten an Geschiedene ein ebenso weites Anwendungsfeld wie
im Zusammenhang mit den Altersrenten an Witwen und Witwer. Wie sich
auf Grund der nachfolgenden Erwägungen ergibt, liefert indessen die
entstehungsgeschichtliche Betrachtungsweise hinsichtlich der hier zu
beantwortenden Auslegungsfrage eine klare Antwort. Der darin zum Ausdruck
gelangende, anhand der Materialien eindeutig eruierbare Wille des mit der
jüngsten AHV-Revision befassten Gesetzgebers darf rechtsprechungsgemäss
nicht übergangen werden (BGE 126 V 439 Erw. 3b, 124 II 200 Erw. 5c,
124 III 129 Erw. 1b/aa, 124 V 189 Erw. 3a, je mit Hinweisen).

    d) Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen der 10. AHV-Revision
wollte der Nationalrat zunächst unerwünschte Verschlechterungen (namentlich
bei verwitweten Alters- oder Invalidenrentnerinnen und -rentnern mit
Kindern) auf Grund des für die Ehejahre vorzunehmenden Einkommenssplittings
mit einer (weiteren) Änderung der Rentenformel korrigieren, wobei die
für die Rentenberechtigten (noch) günstigere Formel grundsätzlich nur
für Neurentnerinnen und -rentner vorgesehen war (Amtl.Bull. 1993 N 258,
264, 295 und 297 f.). Im Verlaufe der weiteren Beratungen setzte sich
jedoch die ständerätliche Auffassung durch, dass sowohl für Alt- wie auch
für Neurentnerinnen und -rentner an der mit Art. 1 des Bundesbeschlusses
vom 19. Juni 1992 über Leistungsverbesserungen in der AHV und der IV sowie
ihre Finanzierung auf den 1. Januar 1993 bereits angepassten Rentenformel
definitiv festzuhalten sei und die splittingbedingten Nachteile bei
verwitweten Alters- oder Invalidenrentnerinnen und -rentnern gezielt
mit einem 20%igen Rentenzuschlag gemäss revidiertem Art. 35bis AHVG
auszugleichen seien (Amtl.Bull. 1994 S 552 f., 562, 598-600 und 606,
N 1357-1359).

    Die Arbeiten der vorberatenden ständerätlichen Kommission zeigen mit
aller Deutlichkeit, dass Geschiedene, deren früherer Ehegatte

verstorben ist, nicht in den Genuss des streitigen Zuschlags kommen
sollten (vgl. Amtl.Bull. 1994 S 547 f. und 557). Dieser Standpunkt fand in
beiden Räten insofern Zustimmung, als die Ausdehnung des Personenkreises,
welcher von einem Rentenzuschlag profitieren sollte, über den eigentlichen
Zivilstand der Verwitwung hinaus abgelehnt wurde. Im Zusammenhang mit
dem Rentenanspruch der Ledigen, welche mit der Rentenformel gemäss
erwähntem Bundesbeschluss und heutigem Gesetz schlechter fahren als mit
der vom Nationalrat ursprünglich vorgeschlagenen Formel, entspann sich im
Ständerat eine Debatte über die AHV-rechtliche Stellung der Angehörigen
der verschiedenen Zivilstände, in deren Verlauf vermerkt wurde, dass
die Frage der Einführung eines Rentenzuschlags für alle Kategorien von
Alleinstehenden einer späteren Gesetzesrevision vorbehalten werden müsse
(Amtl.Bull. 1994 S 599 f.). Ein entsprechender Antrag einer Minderheit
der vorberatenden nationalrätlichen Kommission, der den 20%igen Zuschlag
nicht nur verwitweten, sondern auch geschiedenen, getrennt lebenden und
ledigen Rentenbezügerinnen und -bezügern gewähren wollte, wurde - wie auch
ein in dieselbe Richtung zielender Eventualantrag - im Rat zurückgezogen
(Amtl.Bull. 1994 N 1357-1359). Nach der mithin klaren, den Rechtssinn
von Art. 35bis AHVG bestimmenden (vgl. Erw. 3c hievor) Regelungsabsicht
des Gesetzgebers haben geschiedene Altersrentenbezügerinnen und -bezüger,
deren früherer Ehegatte verstorben ist, keinen Anspruch auf den 20%igen
Zuschlag zu ihrer Rente.

Erwägung 4

    4.- Fällt somit der geltend gemachte, vorinstanzlich grundsätzlich
anerkannte Verwitwetenzuschlag zur monatlich Fr. 1512.- betragenden
Altersrente der Beschwerdegegnerin ausser Betracht, hat die Ausgleichskasse
zu Recht die mit Fr. 1592.- pro Monat höhere Witwenrente verfügt.