Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 V 311



128 V 311

46. Auszug aus dem Urteil i.S. Y. gegen Amt für Wirtschaft und
Arbeit, Frauenfeld, und Rekurskommission des Kantons Thurgau für die
Arbeitslosenversicherung

    C 313/01 vom 7. August 2002

Regeste

    Art. 16 Abs. 2 lit. i, Art. 85 Abs. 1 lit. c AVIG. Für den Entscheid,
eine Arbeit mit Zustimmung der tripartiten Kommission für zumutbar im
Sinne von Art. 16 Abs. 2 lit. i AVIG zu erklären, ist die kantonale
Amtsstelle zuständig.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Versicherte macht weiter geltend, gemäss Art. 16 Abs. 2 lit.
i AVIG sei das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (nachfolgend: RAV)
zuständig, nach Zustimmung der tripartiten Kommission in Ausnahmefällen
eine Arbeit für zumutbar zu erklären, deren Entlöhnung weniger als 70%
des versicherten Verdienstes betrage. Da die entsprechende Verfügung
vom Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau (nachfolgend: AWA)
und somit von einer unzuständigen Behörde erlassen worden sei, sei sie
als nichtig zu betrachten.

    a) Gemäss Art. 16 Abs. 1 AVIG muss die versicherte Person zur
Schadensminderung grundsätzlich jede Arbeit unverzüglich annehmen. Die
von der Annahmepflicht ausgenommenen Arbeiten sind in einem Katalog
in Art. 16 Abs. 2 AVIG aufgezählt. Arbeiten sind etwa unzumutbar,
wenn sie der versicherten Person einen Lohn einbringen, der geringer
als 70% des versicherten Verdienstes ist, es sei denn, sie erhalte
Kompensationsleistungen nach Art. 24 AVIG (Zwischenverdienst); mit
Zustimmung der tripartiten Kommission kann das RAV in Ausnahmefällen
auch eine Arbeit für zumutbar erklären, deren Entlöhnung weniger als 70%
des versicherten Verdienstes beträgt (Art. 16 Abs. 2 lit. i AVIG).

    b) Dieser Wortlaut von Art. 16 Abs. 2 lit. i AVIG steht in Widerspruch
zu Art. 85 Abs. 1 lit. c AVIG, wonach die kantonale Amtsstelle über die
Zumutbarkeit einer Arbeit entscheidet. Die Vorinstanz hat diesbezüglich
ausgeführt, abzustellen sei auf die letztgenannte Bestimmung, da diese von
einem Entscheid über die Zumutbarkeit der Arbeit spreche, währenddem in
Art. 16 Abs. 2 lit. i AVIG bloss von einer diesbezüglichen Erklärung die
Rede sei. Diese Auslegung erscheint zwar möglich, überzeugt aber insofern
nicht ganz, als auch mit "Erklärung" der zumutbaren Arbeit eigentlich
nur der Entscheid gemeint sein kann.

    c) Zur Entstehungsgeschichte von Art. 16 Abs. 2 lit. i AVIG ergibt sich
Folgendes: Die Botschaft zur Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes
vom 29. November 1993 (BBl 1994 I 340 ff.) sah keine Bestimmung zur Frage
des zumutbaren Lohnes vor. Im Rahmen der Beratungen der ständerätlichen
Kommission wurde ein Antrag angenommen, wonach eine Arbeit noch zumutbar
sei, die 10% weniger Lohn als die Arbeitslosenentschädigung biete. Dieser
Lösung stimmte der Ständerat am 14. März 1994 zu (Amtl.Bull. 1994 S 234
f.). Im Differenzbereinigungsverfahren entwarf dann die Subkommission des
Nationalrates den Gesetzestext, welcher in der Folge von den Kommissionen
der beiden Räte und von den Räten (Amtl.Bull. 1994 N 1571, Amtl.Bull. 1995
S 95 ff.) angenommen wurde.

    Umstritten war in der Beratung der nationalrätlichen Subkommission
die Frage, ob der Entscheid über die Ausnahmeregelung der tripartiten
Kommission allein oder dem RAV zukomme. Die Subkommission beschloss,
dass die tripartite Kommission die Zustimmung in jedem einzelnen Fall zu
erteilen habe. Zuständig für den Entscheid seien indessen die Kantone. Aus
diesem Anlass hielt der Vertreter des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe
und Arbeit (heute: Staatssekretariat für Wirtschaft) fest, Partner für
den Bund seien die Kantone; das RAV sei hingegen Teil der kantonalen
Amtsstellen.

    Aus dieser Entstehungsgeschichte wird ersichtlich, dass die gesetzliche
Bestimmung erst im Verlaufe der Beratungen eingebracht wurde. Eine
genaue Koordination mit dem übrigen Gesetzestext konnte daher nicht
ohne weiteres sichergestellt werden. Zudem ergibt sich, dass für den
Gesetzgeber einzig zur Diskussion stand, ob die Entscheidbefugnis bei der
tripartiten Kommission oder beim Kanton liegen solle. Der Gesetzgeber hat
sich für die letztgenannte Lösung entschieden, indessen die Zustimmung
der tripartiten Kommission zur Voraussetzung gemacht. Eine Koordination
mit dem damals schon geltenden Art. 85 AVIG ist nicht erfolgt. Diese
Entstehungsgeschichte legt den Schluss nahe, dass die Einsetzung des RAV
als zuständige Entscheidbehörde ein gesetzgeberisches Versehen darstellt.

    d) Dass es sich um ein gesetzgeberisches Versehen handelt, ergibt sich
auch aus dem systematischen Zusammenhang des Gesetzes. Durch die Erklärung,
eine Arbeit sei zumutbar und eine versicherte Person sei zu deren Annahme
verpflichtet, erlischt der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung
(vgl. hiezu THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit,
Rz 336). Gleichzeitig wird ein Anspruch auf Kompensationszahlungen
ausgeschlossen. Es ist nach der Systematik des Gesetzes offensichtlich,
dass für diesen Entscheid nicht das RAV, sondern die kantonale Amtsstelle
(Art. 85 Abs. 1 lit. c AVIG), allenfalls die Arbeitslosenkasse (Art. 81
Abs. 1 lit. a AVIG), zuständig ist.

    Der Kanton Thurgau hat dem AWA gestützt auf Art. 85b Abs. 1 AVIG in
Verbindung mit § 3 Abs. 2 der Verordnung des Regierungsrates zum Gesetz
über Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit vom 3. Dezember 1996 (Thurgauer
Rechtsbuch 837.11) die Kompetenz gegeben, dem RAV verschiedene Aufgaben
zu übertragen; ein formeller Erlass mit einer entsprechenden Liste ist
jedoch nicht ersichtlich und auch nicht geltend gemacht. Auch in § 5
dieser Verordnung findet sich der Entscheid über die zumutbare Arbeit
nicht bei den dem RAV übertragenen Aufgaben.

    Mit der Vorinstanz ist daher festzustellen, dass entgegen dem Wortlaut
von Art. 16 Abs. 2 lit. i AVIG der Entscheid über die zumutbare Arbeit
nicht in der Kompetenz des RAV, sondern der kantonalen Amtsstelle liegt.