Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 V 305



128 V 305

45. Auszug aus dem Urteil i.S. X. GmbH gegen Kantonales Amt für Industrie,
Gewerbe und Arbeit, Bern, und Verwaltungsgericht des Kantons Bern

    C 12/02 vom 28. Juni 2002

Regeste

    Art. 32 Abs. 1 lit. a und Abs. 3 AVIG in Verbindung mit Art. 51
Abs. 1 und 2 AVIV: Anrechenbarer Arbeitsausfall; vom Arbeitgeber nicht zu
vertretende andere Umstände. Die Anbieterin von Canyoning-Touren, die wegen
des von den Behörden zweier Staaten und von den Angehörigen der am 27.
Juli 1999 im Saxetbach (Berner Oberland) tödlich verunglückten Menschen
ausgeübten Drucks auf die Durchführung ihrer Dienstleistung verzichtet,
erleidet einen anrechenbaren Arbeitsausfall, der durch nicht von ihr zu
vertretende Umstände verursacht worden ist.

    Art. 32 Abs. 1 lit. a und Art. 33 Abs. 1 lit. a AVIG: Unvermeidbarer
Arbeitsausfall; normales Betriebsrisiko. Mit der aussergewöhnlichen und
beispiellosen Entwicklung der Geschehnisse im Frühjahr nach dem Unglück
vom Sommer 1999 musste die Versicherte nicht rechnen, weshalb sich
ein ausserhalb des normalen Betriebsrisikos liegender, unvermeidbarer
Sachverhalt verwirklicht hat.

Sachverhalt

    A.- Die X. GmbH bietet seit einigen Jahren u.a.  Canyoning-Touren
im Berner Oberland an. Am 27. Juli 1999 fanden 21 Personen einer
Canyoning-Gruppe den Tod, als sie im Saxetbach von einer Flutwelle
überrascht wurden. Die Tour war von einer Konkurrentin der X. GmbH
organisiert worden. Nach dem Unfall blieben Aufträge für die beiden
Hauptanbieter weitgehend aus.

    Im Frühjahr 2000 gab die Konkurrentin der X. GmbH öffentlich kund,
dass sie vorhabe, ab Mai 2000 erneut Canyoning-Touren im Saxetbach
anzubieten. Nachdem diese Absicht in Australien, dem Heimatland der
meisten Unfallopfer des Unglücks vom 27. Juli 1999, bekannt geworden
war, regte sich unter den Angehörigen dagegen Widerstand, der über
verschiedene Medien und die diplomatische Vertretung Australiens in der
Schweiz an die Öffentlichkeit getragen wurde. Nach Aussprachen, die von
der Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Bern einberufen wurden und
an der auch Vertreter des Eidgenössischen Departements für auswärtige
Angelegenheiten (EDA) teilnahmen, verzichteten die beiden Hauptanbieter
Ende April 2000 vorläufig auf die Durchführung von Canyoning-Touren ab
Mai 2000. Der Betrieb wurde, nachdem sich die Situation beruhigt hatte,
erst Mitte Juni wieder aufgenommen.

    B.- Mit Voranmeldung vom 19. April 2000 ersuchte die X. GmbH um
Ausrichtung von Kurzarbeitsentschädigung ab Mai 2000. Das Kantonale Amt
für Industrie, Gewerbe und Arbeit des Kantons Bern (KIGA) bewilligte mit
Verfügung vom 5. Mai 2000 die Kurzarbeit für den Monat Mai 2000 und erhob
für die Zeit danach Einspruch.

    C.- Die hiegegen vom Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) erhobene
Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid
vom 6. Dezember 2001 gut.

    D.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die X. GmbH sinngemäss,
es sei ihr für den Monat Mai 2000 Kurzarbeitsentschädigung auszurichten.

    Sowohl das KIGA wie auch das seco verzichten auf eine Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das kantonale Gericht hat die massgeblichen Bestimmungen zur
Anrechenbarkeit des Arbeitsausfalles (Art. 32 Abs. 1 lit. a AVIG), zum
normalen Betriebsrisiko (Art. 33 Abs. 1 lit. a AVIG) und zur Branchen-,
Berufs- oder Betriebsüblichkeit von Arbeitsausfällen (Art. 33 Abs. 1
lit. b AVIG) richtig wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.

    Zu ergänzen ist, dass Arbeitsausfälle auch dann anrechenbar sind,
wenn sie auf behördliche Massnahmen, auf wetterbedingte Kundenausfälle
oder auf andere, vom Arbeitgeber nicht zu vertretende Umstände,
insbesondere Transportbeschränkungen oder Sperrungen von Zufahrtswegen
oder Elementarschadenereignisse, zurückzuführen sind (Art. 32 Abs. 3
AVIG in Verbindung mit Art. 51 Abs. 2 lit. c und e AVIV). Sie sind nicht
anrechenbar, wenn der Arbeitgeber sie durch geeignete, wirtschaftlich
tragbare Massnahmen vermeiden oder einen Dritten für den Schaden haftbar
machen kann (Art. 51 Abs. 1 AVIV).

Erwägung 2

    2.- Umstritten und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin vom
1. bis 31. Mai 2000 Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung hat.

    (...)

Erwägung 3

    3.- a) Die Rechtsprechung hat den Begriff des wirtschaftlichen Grundes
gemäss Art. 32 Abs. 1 lit. a AVIG im Einklang mit dem Schrifttum weit
ausgelegt und es insbesondere abgelehnt, wirtschaftliche von strukturellen
Gründen abzugrenzen (ARV 2000 Nr. 10 S. 56 Erw. 4a, mit Hinweisen).
Wirtschaftliche Gründe liegen vor, wenn Faktoren angesprochen sind,
die entweder direkt durch den Markt beeinflusst werden oder sich auf die
Stellung eines Produktes auf dem Markt auswirken. Darunter können auch
behördliche Massnahmen, wie bei Preiserhöhungen eines Produkts zufolge
Wegfalls von Subventionen, verstanden werden.

    b) Es erscheint in casu fraglich, ob wirtschaftliche Gründe zum
Arbeitsausfall im Unternehmen der Versicherten geführt haben. Es ist
eher davon auszugehen, dass sowohl die Beschwerdeführerin als auch ihre
Konkurrentin im Frühjahr 2000 beabsichtigten, den Betrieb des Canyoning
im Saxetbach wieder aufzunehmen, und beide für Mai 2000 eine genügende
Nachfrage nach ihren Leistungen erwarteten. Die Tatsache, dass der Betrieb
im Juni 2000 wieder aufgenommen werden konnte, deutet darauf hin, dass
eine Nachfrage nach der angebotenen Dienstleistung bereits im Mai 2000
bestanden hätte. Die Frage kann indessen offen bleiben, da andere Gründe
zur Anrechenbarkeit des Arbeitsausfalles führen (nachstehende Erw. 4).

Erwägung 4

    4.- Gemäss Art. 51 Abs. 1 AVIV sind Arbeitsausfälle, die auf
behördliche Massnahmen oder andere nicht vom Arbeitgeber zu vertretende
Umstände zurückzuführen sind, anrechenbar, wenn der Arbeitgeber sie nicht
durch geeignete, wirtschaftlich tragbare Massnahmen vermeiden oder wenn
er keinen Dritten für den Schaden haftbar machen kann. Der Bundesrat
hat in Art. 51 Abs. 2 AVIV einen Katalog derartiger Arbeitsausfälle
aufgestellt. Die Aufzählung ist nicht abschliessend.

    a) Gemäss den damaligen Presseberichten haben die beiden Hauptanbieter
im April 2000 auf die Durchführung des Canyoning im Saxetbach vorläufig
"verzichtet". Von einem freiwilligen Verzicht kann indessen nicht
gesprochen werden. Die Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Bern hat der
Beschwerdeführerin am 14. April 2000 die Empfehlung zukommen lassen, mit
der Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit in der Saxetschlucht mit Rücksicht auf
die Gefühle und die Empörung der betroffenen Angehörigen zuzuwarten. In
der Folge lud die Volkswirtschaftsdirektion zu Gesprächen ein. Neben
Vertretern des Kantons nahmen daran auch Mitarbeiter des Bundes teil. Aus
den Protokollen ergibt sich, dass den Anbietern nahegelegt wurde,
von der Wiederaufnahme der Canyoning-Touren vorläufig abzusehen. Der
Vertreter des EDA verglich die Situation mit derjenigen nach dem
Luxor-Attentat. Dies deutet darauf hin, dass der erneute Betrieb des
Canyoning den nationalen Interessen widersprochen und dem Ruf des Berner
Oberlandes als Tourismusregion geschadet hätte. Der Vertreter des KIGA
hielt denn auch in seiner Notiz vom 5. Mai 2000 fest, dass die Firmen auf
Grund der Lagebeurteilung an sich bereit gewesen seien, den Betrieb des
Canyoning im Saxetbach zu verschieben oder darauf gänzlich zu verzichten.

    Es ist demnach festzustellen, dass den Anbietern im April 2000 seitens
kantonaler und eidgenössischer Behörden nahegelegt wurde, einstweilen keine
Canyoning-Touren durchzuführen. Eine entsprechende Verfügung wurde zwar
nicht erlassen, die Beschwerdeführerin und ihre Hauptkonkurrentin standen
jedoch unter erheblichem Druck von Behörden und Öffentlichkeit. Es kann
daher nicht gesagt werden, sie hätten auf die angebotene Dienstleistung
freiwillig verzichtet. Die Umstände, die zur Intervention der Behörden
geführt hatten (Unfall vom Sommer 1999 und dessen Folgen), waren nicht
von der Beschwerdeführerin zu vertreten, weshalb die damit im Zusammenhang
stehenden Arbeitsausfälle grundsätzlich anrechenbar sind, soweit sie nicht
aus besonderen Gründen (nachstehende Erw. 4b) von der Arbeitgeberin zu
tragen sind.

    b) Gemäss Art. 51 Abs. 1 AVIV sind die Arbeitsausfälle nicht
anrechenbar, wenn der Arbeitgeber sie durch geeignete, wirtschaftlich
tragbare Massnahmen vermeiden kann. Die Bestimmung stützt sich auf
Art. 32 Abs. 1 lit. a AVIG, wonach Arbeitsausfälle nur anrechenbar sind,
wenn sie unvermeidbar sind. Nach der Rechtsprechung gelten sodann die
Einschränkungen von Art. 33 AVIG sowohl für die Anrechenbarkeit des
Arbeitsausfalles aus wirtschaftlichen Gründen als auch zufolge eines unter
Art. 32 Abs. 3 AVIG in Verbindung mit Art. 51 AVIV fallenden Sachverhaltes
(BGE 121 V 374 Erw. 2; ARV 2002 S. 60 Erw. 1).

    aa) Die Vorinstanz ist der Auffassung, die Beschwerdeführerin
habe mit Schwierigkeiten hinsichtlich der Wiederaufnahme der Touren im
Saxetbach rechnen müssen. Ein auf Canyoning spezialisiertes Unternehmen
sei derart saison- und wetterabhängig, dass sich, falle der einzige im
Mai begehbare Bach, aus welchen Gründen auch immer, aus, ein spezifisches
Betriebsrisiko realisiere, welches nicht unvermeidbar sei. Das kantonale
Gericht stützt sich damit auf Art. 33 Abs. 1 lit. a AVIG. Wetterbedingte
Einflüsse auf die Durchführung von Aktivitäten in freier Natur gehören
zwar durchaus zum normalen Betriebsrisiko. Daraus kann indessen nicht
geschlossen werden, ein Arbeitsausfall sei stets dann nicht anrechenbar,
wenn ein Bach "aus welchen Gründen auch immer" nicht benutzt werden
könne. So ist ein Arbeitsausfall insbesondere anrechenbar, wenn er durch
Transportbeschränkungen oder Sperrung von Zufahrtswegen verursacht wird
(Art. 51 Abs. 2 lit. c AVIV) oder wie in casu durch andere, nicht von
der Arbeitgeberin zu vertretende Umstände begründet ist.

    bb) Ebenso wenig überzeugt der Standpunkt des seco, es habe sich
ein Betriebsrisiko im Sinne von Art. 33 Abs. 1 lit. a AVIG verwirklicht,
weil die Beschwerdeführerin auf Grund des tragischen Unfallereignisses im
Juli 1999 mit Schwierigkeiten bei der Wiederaufnahme ihres Betriebes habe
rechnen müssen. Zwar trifft es zu, dass die Nachfrage nach Extremsportarten
durch tragische Unfälle beeinflusst werden kann. Solche Ereignisse führen
aber nicht notwendig zu einer tieferen Nachfrage, sondern können auch den
gegenteiligen Effekt haben. Mit derartigen Schwankungen hat ein Anbieter in
der Tat zu rechnen. Im vorliegenden Fall verhielt es sich indessen anders:
Erst 10 Monate nach dem Unglück vom Juli 1999, nämlich im April 2000,
regte sich gegen die Wiederaufnahme des Canyoning im Saxetbach Widerstand
von Seiten der Angehörigen, der Medien und Behörden. Diese Entwicklung
der Geschehnisse war aussergewöhnlich. Vergleichbare Fälle sind nicht
bekannt. Die Beschwerdeführerin hatte daher mit einem derartigen Verlauf
nicht zu rechnen, und es kann nicht gesagt werden, dieser sei branchen-
oder betriebsüblich gewesen oder habe zum normalen Betriebsrisiko gehört.

    cc) Das seco wendet weiter ein, die Beschwerdeführerin hätte die
Arbeitsausfälle vermeiden und auf andere Bäche ausweichen oder andere
Aktivitäten anbieten können. Aus den Akten ist indessen ersichtlich, dass
andere Bäche im Monat Mai gewöhnlich nicht begehbar sind und dass die
Beschwerdeführerin andere Aktivitäten (Bungeejumping) angeboten hat. Mit
dem KIGA ist festzustellen, dass kurzfristig keine Massnahmen ergriffen
werden konnten, um die Arbeitsausfälle zu kompensieren.

    dd) Das seco hält der Beschwerdeführerin zudem vor, ihre
Arbeitsausfälle seien durch Ersatzzahlungen des Kantons Bern gedeckt
worden. In der Tat sind Beiträge aus dem Tourismusfonds des Kantons Bern
zugesprochen worden, die jedoch bloss die Fortbildung von Führern zur
Verbesserung der Sicherheitsvorkehren betrafen. Ersatzzahlungen für Löhne
sind gemäss Schreiben des zuständigen kantonalen Amtes für Entwicklung
vom 11. Mai 2000 nicht geleistet worden.

    ee) Schliesslich bringt das seco vor, die Beschwerdeführerin
habe die auf Abruf eingestellten Mitarbeiter zu Lasten der
Arbeitslosenversicherung ab April 2000 mit vertraglich garantierter
Arbeitszeit weiterbeschäftigt. Das KIGA hat in seinem Schreiben vom
16. März 2000 angeordnet, dass die Beschwerdeführerin Grundlöhne von
mindestens Fr. 3000.- bis Fr. 3500.- monatlich zu bezahlen hat. Zu
Recht macht das Unternehmen geltend, dass es dadurch gezwungen war, die
ausländischen Mitarbeiter mit einem zugesicherten vollen Arbeitspensum
zu beschäftigen, ansonsten die fremdenpolizeiliche Arbeitsbewilligung
verweigert worden wäre. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass mit der
Kurzarbeitsentschädigung die Verhütung von Arbeitslosigkeit als Folge
vorübergehender Arbeitsausfälle angestrebt wird und daher der Ausschluss
strukturell bedingter Arbeitsausfälle als fragwürdig erschiene.

Erwägung 5

    5.- Mithin sind die Voraussetzungen für die Anrechenbarkeit des
Arbeitsausfalles gegeben, weshalb der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben
ist. Die Verwaltung wird die weiteren Voraussetzungen für die Ausrichtung
von Kurzarbeitsentschädigung zu prüfen haben. Dabei wird sie die Frage,
ob wetterbedingte Umstände eine Begehung des Saxetbaches im Mai 2000
überhaupt zuliessen, beantworten müssen. Die Beschwerdeführerin konnte
nämlich nicht ohne weiteres damit rechnen, dass dies im Monat Mai
überhaupt möglich war. Liessen die meteorologischen Verhältnisse die
Begehung nicht zu, fällt der damit zusammenhängende Arbeitsausfall unter
saisonale Beschäftigungsschwankungen im Sinne von Art. 33 Abs. 1 lit. b
AVIG und ist daher nicht anrechenbar. Ebenfalls zu prüfen haben wird die
Verwaltung die Frage, ob der Arbeitsausfall in Folge des Schadenereignisses
nicht durch eine private Versicherung gedeckt war (Art. 51 Abs. 4 AVIV).