Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 V 29



128 V 29

6. Auszug aus dem Urteil i.S. F. gegen IV-Stelle des Kantons Thurgau und
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau I 697/99 vom 4. Februar 2002

Regeste

    Art. 28 Abs. 2 IVG: Ausserordentliche
Invaliditätsbemessungsmethode. Erwerbliche Gewichtung der
invaliditätsbedingten Beeinträchtigung des Leistungsvermögens eines
Selbstständigerwerbenden im Rahmen der ausserordentlichen Bemessungsmethode
(Anwendungsfall).

Sachverhalt

    A.- F. (geboren 1941) führt seit 1964 ein eigenes
Coiffeurgeschäft. 1987 erlitt er einen Skiunfall, bei welchem er sich
eine Schulterdistorsion zuzog. Im Laufe des Jahres 1996 nahmen die damit
in Zusammenhang stehenden Beschwerden zu, sodass er sich am 17. Januar
1997 einer Rotatorenmanschettenrekonstruktion unterziehen musste. In
der Folge war er ab 16. Januar 1997 zu 100% und ab 6. Mai 1997 zu 50%
arbeitsunfähig (Bericht des Dr. med. R., Spezialarzt für Innere Medizin,
vom 1. April 1998). Mit Anmeldung vom 27. Februar 1998 ersuchte F. um
Zusprechung einer Invalidenrente.

    Die IV-Stelle des Kantons Thurgau lehnte sein Begehren mit der
Begründung ab, dass keine rentenbegründende Erwerbseinbusse von mindestens
40% vorliege (Verfügung vom 29. März 1999).

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies die AHV/IV-Rekurskommission
des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 22. Oktober 1999 ab.

    C.- F. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheids sowie die Zusprechung einer ganzen
Invalidenrente beantragen.

    Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV)
verzichtet auf eine Stellungnahme.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 4 Abs. 1 IVG gilt als Invalidität die durch
einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von
Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich
bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit.

    Nach Art. 28 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf eine ganze
Rente, wenn er mindestens zu 66 2/3%, auf eine halbe Rente, wenn er
mindestens zu 50% oder auf eine Viertelsrente, wenn er mindestens zu 40%
invalid ist; in Härtefällen hat der Versicherte nach Art. 28 Abs. 1bis
IVG bereits bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40% Anspruch auf
eine halbe Rente.

    Bei erwerbstätigen Versicherten ist der Invaliditätsgrad auf Grund
eines Einkommensvergleichs zu bestimmen. Dazu wird das Erwerbseinkommen,
das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung
allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei
ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum
Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden
wäre (Art. 28 Abs. 2 IVG). Der Einkommensvergleich hat in der Regel in
der Weise zu erfolgen, dass die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen
ziffernmässig möglichst genau ermittelt und einander gegenübergestellt
werden, worauf sich aus der Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad
bestimmen lässt. Insoweit die fraglichen Erwerbseinkommen ziffernmässig
nicht genau ermittelt werden können, sind sie nach Massgabe der im
Einzelfall bekannten Umstände zu schätzen und sind die so gewonnenen
Annäherungswerte miteinander zu vergleichen. Lassen sich die beiden
hypothetischen

Erwerbseinkommen nicht zuverlässig ermitteln oder schätzen, so ist in
Anlehnung an die spezifische Methode für Nichterwerbstätige (Art. 27
IVV) ein Betätigungsvergleich anzustellen und der Invaliditätsgrad nach
Massgabe der erwerblichen Auswirkungen der verminderten Leistungsfähigkeit
in der konkreten erwerblichen Situation zu bestimmen. Der grundsätzliche
Unterschied des ausserordentlichen Bemessungsverfahrens zur spezifischen
Methode (gemäss Art. 28 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 26bis und 27
Abs. 1 IVV) besteht darin, dass die Invalidität nicht unmittelbar nach
Massgabe des Betätigungsvergleichs als solchem bemessen wird. Vielmehr ist
zunächst anhand des Betätigungsvergleichs die leidensbedingte Behinderung
festzustellen; sodann aber ist diese im Hinblick auf ihre erwerbliche
Auswirkung besonders zu gewichten. Eine bestimmte Einschränkung im
funktionellen Leistungsvermögen eines Erwerbstätigen kann zwar, braucht
aber nicht notwendigerweise, eine Erwerbseinbusse gleichen Umfangs zur
Folge zu haben. Wollte man bei Erwerbstätigen ausschliesslich auf das
Ergebnis des Betätigungsvergleichs abstellen, so wäre der gesetzliche
Grundsatz verletzt, wonach bei dieser Kategorie von Versicherten
die Invalidität nach Massgabe der Erwerbsunfähigkeit zu bestimmen ist
(ausserordentliches Bemessungsverfahren; BGE 104 V 137 Erw. 2c; AHI 1998
S. 120 Erw. 1a).

Erwägung 2

    2.- Entgegen der Ansicht des Versicherten kommt vorliegend die Methode
des ausserordentlichen Bemessungsverfahrens zur Anwendung, da auf Grund
der Tatsache, dass auch invaliditätsfremde Faktoren - Strukturänderungen im
Coiffeurgewerbe und die vom Versicherten selbst angeführten Abschreibungen
infolge des Umbaus - das Geschäftsergebnis beeinflusst haben und deshalb
nicht ohne weiteres von der Einkommenseinbusse auf den Invaliditätsgrad
geschlossen werden kann (vgl. Erw. 1).

Erwägung 3

    3.- a) Dr. med. R. attestierte dem Beschwerdeführer in seinem Beruf
als Coiffeur (Arbeiten auf der Horizontalen) eine Arbeitsfähigkeit von 50%
(eines Vollzeitpensums) und für Tätigkeiten ohne diese Arbeitshaltung, wie
z.B. Bürotätigkeiten, eine solche von 100% (Bericht vom 1. April 1998).
Entgegen der Ansicht des Versicherten kann auf diese Aussage abgestellt
werden, zumal er seit seinem Skiunfall im Jahre 1987 beim betreffenden Arzt
in Behandlung ist, dieser seinen Gesundheitszustand deshalb besonders gut
kennt und sich dessen Einschätzung mit der Beurteilung des Dr. med. B.,
Spezialarzt für Orthopädie, Klinik X., deckt (Bericht vom 23. Januar 1998).

    Nach dem Gesagten ist der Bemessung des Invaliditätsgrades eine
Arbeitsfähigkeit von 50% bezüglich der Tätigkeit als Coiffeur sowie von
100% bezüglich der Leitung des Betriebs zu Grunde zu legen.

    b) Gemäss den Abklärungen des Berufsberaters verwendete der
Beschwerdeführer vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung 75%
seiner gesamten Arbeitszeit für die Ausübung des Coiffeurberufs und 25% für
die Erledigung administrativer Arbeiten sowie die Betriebsleitung. Davon
ist in der Folge auszugehen.

    c) Im Rahmen des Betätigungsvergleichs ergibt sich eine Einschränkung
von 50% als Coiffeur, vollumfängliche Arbeitsfähigkeit als Betriebsleiter
sowie eine Arbeitsaufteilung in 75% Coiffeurtätigkeit und 25%
Betriebsleitung/Administration.

Erwägung 4

    4.- Es muss nun ermittelt werden, inwiefern sich die leidensbedingte
Behinderung bei der Arbeit in erwerblicher Hinsicht auswirkt
(wirtschaftliche Gewichtung).

    a) Der Bemessung des Invaliditätsgrades durch die Vorinstanz kann nicht
gefolgt werden. Einerseits stellt sie bezüglich des "Valideneinkommens"
nur auf die letzten beiden Jahre vor Eintritt des Gesundheitsschadens
sowie beim "Invalideneinkommen" lediglich auf das erste Jahr nach dessen
Eintritt ab. Andererseits vermag die Ermittlung des "bereinigten"
Gewinns nicht zu überzeugen. Nicht nachvollziehbar ist aber insbesondere
die Gleichstellung des arithmetischen Mittels aus Betätigungsvergleich
und angeblichem Gewinnrückgang mit dem Invaliditätsgrad. Zudem nimmt sie
einen Einkommensvergleich vor. Die ausserordentliche Methode ist jedoch
keine Untervariante der allgemeinen Methode, da sie in jenen Fällen
zur Anwendung gelangt, in welchen selbst eine hypothetische Ermittlung
der Erwerbseinkommen nicht möglich ist (BGE 104 V 137 Erw. 2c); sie
lehnt sich vielmehr an die spezifische Methode (Art. 27 IVV) an, indem
sie einen Betätigungsvergleich verlangt, welcher danach erwerblich zu
gewichten ist (BGE 104 V 138 Erw. 2c). Wenn nun aber eine Ermittlung
der Einkommen möglich wäre, wird die Anwendung der ausserordentlichen
Methode hinfällig, und es könnte die Bemessung des Invaliditätsgrades
direkt nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs erfolgen.

    b) Um die gesetzlich geforderte wirtschaftliche Gewichtung vorzunehmen,
bietet sich an, den Wert der verschiedenen Betätigungen im Verhältnis
zueinander festzustellen und mit der Einschränkung im jeweiligen
Tätigkeitsbereich in Beziehung zu setzen. Bei der Geschäftsführung, welche
die Versicherten in der Regel weiterhin uneingeschränkt ausüben können,
muss geprüft werden, welcher

Wert ihr im Vergleich zu den übrigen, vom Versicherten nicht mehr oder nur
noch reduziert ausgeübten Tätigkeiten zukommt. Dabei ist vom Grundsatz
auszugehen, dass der Funktion als Geschäftsführer ein grösseres Gewicht
als der branchenspezifischen Tätigkeit zukommt (vgl. AHI 1998 S. 123
Erw. 3). Da die Geschäftsführung keinen direkten Ertrag abwirft, sondern
Arbeiten umfasst, die in der Regel unabhängig vom Geschäftsgang zu
erledigen sind (Buchhaltung, Abrechnung der Mehrwertsteuer, Werbung,
Kundenakquisition, etc.), kann der Wert dieser Arbeit nicht aus
den Betriebsergebnissen ermittelt werden. Ebensowenig ist von dem
um die invaliditätsfremden Faktoren bereinigten Gewinn oder Umsatz
auszugehen. Denn einerseits kommt die ausserordentliche Methode - wie
oben dargelegt - gerade dann zum Zug, wenn kein Vergleich der Einkommen
möglich ist; andererseits würde dabei die leidensbedingte Behinderung
nach dem Betätigungsvergleich ein zweites Mal berücksichtigt. Da somit
nicht auf die Betriebsergebnisse abgestellt werden kann, sind statistische
Werte heranzuziehen. Dies bewirkt weder eine Schlechterstellung noch eine
ungenauere Invaliditätsermittlung der Selbstständigerwerbenden gegenüber
den Unselbstständigerwerbenden, wird doch bei letzteren ebenfalls auf
statistische Löhne (Schweizerische Lohnstrukturerhebung; LSE) abgestellt,
wenn die konkrete Festsetzung des Invalideneinkommens nicht möglich ist.

    c) Für die Bemessung des wirtschaftlichen Werts einer Tätigkeit liegt
es nahe, von den diesbezüglichen, möglichst einzelfallbezogenen Ansätzen
auszugehen; diese könnten etwa bei den branchenspezifischen Berufsverbänden
erfragt werden. Die konkrete erwerbliche Gewichtung sieht für Fälle wie
den vorliegenden wie folgt aus:
      Tätigkeit  | T (Anteil an  | B (Behinderung| s
      (Ansatz | Gesamttätigk.)| in Tätigkeit) | in Fr./h)
      _______________|_______________|_______________|___________
      Geschäftsführer|     25%      |      0%      |   ? Fr./h Coiffeur
      |     75%      |     50%      |   ? Fr./h T1 x B1 x s1 + T2 x B2
      x s2 -------------- = Invaliditätsgrad T1 x s1 + T2 x s2

    Dabei entspricht T dem Anteil der entsprechenden Tätigkeit an der
Gesamttätigkeit (= T1 + T2 = 100%) in Prozenten, B der Arbeitsunfähigkeit
in der jeweiligen Tätigkeit in Prozenten und s dem Lohnansatz für die
betreffende Tätigkeit.

    d) Im Falle des Versicherten wäre demnach zu ermitteln, was für ein
Stundenansatz einem Coiffeur mit seiner Erfahrung sowie einem angestellten
Geschäftsführer bei einem Salon der Grösse des beschwerdeführerischen
Betriebs in der Stunde bezahlt werden müsste. Die notwendigen Angaben
könnten etwa beim Berufsverband der betroffenen Branche eingeholt
werden. Vorliegend kann die zahlenmässige wirtschaftliche Gewichtung jedoch
offen bleiben; denn die Tätigkeit als Geschäftsführer ist im Vergleich
zur Arbeit als Coiffeur zumindest gleichwertig, wenn nicht höher zu
veranschlagen (vgl. AHI 1998 S. 123 Erw. 3), sodass der Invaliditätsgrad
die allein im Bereich der Coiffeurtätigkeit vorliegende Behinderung (50%
von 75%, d.h. 37.5%) ungeachtet der tatsächlichen monetären Grössen nicht
übersteigen kann, weshalb auf jeden Fall ein nicht rentenbegründender
Invaliditätsgrad resultiert.

    e) In diesem Zusammenhang ist auch auf das zwischenzeitlich
überarbeitete Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit
(KSIH; vormals Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit, WIH)
des BSV zu verweisen, welches in Rz 3115 ebenfalls eine Möglichkeit der
Invaliditätsbemessung aufzeigt. Diesbezüglich ist jedoch zu präzisieren,
dass bei dieser Lösung - welche rechnerisch einen Einkommensvergleich
vornimmt, was angesichts des Umstandes, dass der ausserordentlichen Methode
die spezifische und nicht die allgemeine Methode zu Grunde liegt, zu
Bedenken Anlass gibt (vgl. oben Erw. 4a) - bei den hypothetischen Einkommen
zumindest nicht einfach auf die schweizerische Lohnstrukturerhebung des
Bundesamtes für Statistik (LSE) abgestellt werden darf, sondern deren
Ermittlung unter Berücksichtigung der einzelfallbezogenen Kriterien
(Betriebsgrösse, Branche, Erfahrung des Betriebsinhabers, etc.) zu
erfolgen hat.