Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 V 143



128 V 143

25.Auszug aus dem Urteil i.S. K. gegen Visana Krankenversicherung und
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt K 172/00 vom 22. April 2002

Regeste

    Art. 25 und Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG; Art. 17 lit. d Ziff. 1 und Art.
17 lit. d Ziff. 3 KLV: Abgrenzung zwischen ärztlicher und zahnärztlicher
Behandlung.

    - Die im Vordergrund stehenden Kriterien für die Abgrenzung zwischen
ärztlicher und zahnärztlicher Behandlung sind der Ansatzpunkt und die
therapeutische Zielsetzung der Behandlung. Vom Ansatzpunkt her sind
zahnärztliche Behandlungen - wie bereits gemäss konstanter Rechtsprechung
zum KUVG - grundsätzlich therapeutische Vorkehren am Kausystem. Als
weiteres entscheidendes Kriterium dient die therapeutische Zielsetzung, die
sich danach bestimmt, welcher Körperteil oder welche Funktion unmittelbar
therapiert oder verbessert werden soll.

    - Die Therapie mittels einer Aufbissschiene zwecks Entlastung der
Kiefermuskulatur und der Kiefergelenke ist eine ärztliche Behandlung.

Sachverhalt

    A.- Die 1940 geborene K. ist bei der Visana krankenversichert.
Sie leidet an chronischem Asthma bronchiale, an chronischer Sinusitis und
an vegetativer Dystonie. Zudem steht sie seit 1994 wegen Beschwerden in
den Kiefergelenken bei Dr. med. dent. C. in Behandlung. Die diagnostizierte
artikuläre Dysfunktion und Tendomyopathie wurden durch eine Physiotherapie
für die Kaumuskulatur sowie durch eine Schienentherapie mittels
Michiganschiene behandelt. Für die definitive prothetische Rekonstruktion
des Gebisses ersuchte Dr. med. dent. C. die Visana im Dezember 1996 um
Kostengutsprache.

    Mit Verfügung vom 7. Mai 1997 verneinte die Visana nach Rücksprache
mit ihrem Vertrauenszahnarzt Dr. med. dent. A. die Ausrichtung
von Leistungen aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
an die von Dr. med. dent. C. geplante zahnärztliche Behandlung. Im
Einspracheverfahren wurde PD Dr. med. dent. B., Leitender Arzt Zahnmedizin
der Klinik X., mit einer Begutachtung beauftragt. Gestützt auf den Bericht
vom 15. Februar 1999 und die Stellungnahme des Vertrauenszahnarztes vom
8. März 1999 wies die Visana die Einsprache mit Entscheid vom 19. März
1999 ab.

    B.- Mit Beschwerde liess K. die Übernahme der Kosten für die
von Dr. med. dent. C. vorgesehenen zahnärztlichen Behandlungen
aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung beantragen. Das
Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt (seit April 2002:
Sozialversicherungsgericht) holte bei Prof. Dr. med. et Dr. med. dent. P.,
Kiefer- und Gesichtschirurgie der Kliniken des Spitals Y., ein Gutachten
ein. Gestützt auf dieses Gutachten vom 25. November 1999 sowie
auf diejenigen des Prof. Dr. med. E. vom 10. Februar 1999 und des PD
Dr. med. dent. B. vom 15. Februar 1999 wies das Versicherungsgericht des
Kantons Basel-Stadt die Beschwerde mit Entscheid vom 30. August 2000 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K. wiederum die Übernahme
der Kosten für die notwendigen zahnärztlichen Behandlungen durch die
obligatorische Krankenpflegeversicherung beantragen.

    Die Visana schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei
zahnärztlichen Behandlungen, rechtliche Grundlagen; s. BGE 128 V 136
Erw. 2 mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- Für die Beurteilung der vorliegend streitigen Leistungspflicht
aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ist klarzustellen, dass
zwischen ärztlichen und zahnärztlichen Behandlungen zu unterscheiden ist.

    a) Sowohl Art. 31 Abs. 1 KVG wie auch die Art. 17-19 KLV sprechen von
"zahnärztlichen Behandlungen", die durch bestimmte Erkrankungen bedingt
sind oder die Behandlung bestimmter Erkrankungen unterstützen. Die
zahnärztlichen Behandlungen einerseits und die Erkrankungen andererseits
stehen in einer Wechselwirkung. Die von der sozialen Krankenversicherung
zu übernehmenden zahnärztlichen Behandlungen müssen entweder die Folge
("bedingt") und die bestimmten Erkrankungen die Ursache sein (Art. 17
und 18 KLV) oder die zahnärztlichen Behandlungen müssen die Behandlung
bestimmter Erkrankungen unterstützen (Art. 19 KLV). Keineswegs verhält
es sich so, dass die Behandlungen aller aufgeführten Erkrankungen zu
zahnärztlichen Behandlungen geworden sind. Die Behandlung maligner
Tumore im Gesichts-, Kiefer- und Halsbereich (Art. 17 lit. c Ziff. 2
KLV) beispielsweise wird niemand im Ernst als zahnärztliche Behandlung
aufgefasst wissen noch deren Behandlung davon abhängig machen wollen,
ob das Tumorleiden vermeidbar gewesen sei.

    Noch deutlicher zeigt sich dies in Art. 18 KLV, wo in gleicher
Weise eine Wechselwirkung zwischen der schweren Allgemeinerkrankung als
Ursache und der zahnärztlichen Behandlung als Folge besteht. Die beiden
Bestimmungen Art. 17 und 18 KLV unterscheiden sich nicht grundsätzlich,
sondern lediglich hinsichtlich der örtlichen Nähe von Erkrankung als
Ursache und zahnärztlicher Behandlung als Folge. Während die Erkrankungen
gemäss Art. 17 lit. c, d, e und f KLV in der Nähe der Zähne und des
Parodonts liegen und diese damit durch direkte Einwirkung schädigen
können, ist bei den meisten der in Art. 18 KLV aufgelisteten schweren
Allgemeinerkrankungen ein solch enger Bezug nicht vorhanden. Besonders
augenfällig zeigt sich hier, dass die Behandlung der schweren
Allgemeinerkrankung und die zahnärztliche Behandlung nicht das Gleiche
sind und dass die erste klarerweise eine ärztliche Behandlung darstellt
(BGE 128 V 135).

    b) Die im Vordergrund stehenden Kriterien für die Abgrenzung zwischen
ärztlicher und zahnärztlicher Behandlung sind der Ansatzpunkt und die
therapeutische Zielsetzung der Behandlung.

    aa) Stellt man zunächst auf den Ansatzpunkt ab, sind zahnärztliche
Behandlungen - wie bereits gemäss konstanter Rechtsprechung zum KUVG -
grundsätzlich therapeutische Vorkehren am Kausystem. Darunter fallen die
Behandlung der Zähne, des Zahnhalteapparates sowie die Behandlung an den
Organbereichen, die ein künstliches Gebiss aufzunehmen haben (BGE 120 V
195 Erw. 2b).

    bb) Als weiteres entscheidendes Kriterium dient die therapeutische
Zielsetzung, die sich danach bestimmt, welcher Körperteil oder welche
Funktion unmittelbar therapiert oder verbessert werden soll (vgl. GEBHARD
EUGSTER, Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht
[SBVR], Soziale Sicherheit, Fn. 333).

    cc) Einige Beispiele mögen der Veranschaulichung dienen: Während
etwa bei der Überkronung eines schadhaften Zahnes Ansatzpunkt und
therapeutische Zielsetzung den gleichen Zahn betreffen, können sie auch
verschiedene Bereiche erfassen. Eine Aufbissschiene beispielsweise, die
nicht zur Verbesserung der Funktion der Zähne bei der Zerkleinerung der
Nahrung, sondern zur Entlastung arthrotischer Kiefergelenke angebracht
wird, setzt zwar am Zahnapparat an, bezweckt aber die Therapierung der
Kieferarthrose. In solchen Fällen wird im Allgemeinen der therapeutischen
Zielsetzung das grössere Gewicht beizumessen sein, was bedeutet, dass das
Anbringen einer solchen Aufbissschiene als ärztliche Massnahme anzusehen
ist. Umgekehrt liegt eine zahnärztliche Behandlung vor, wenn sie die Zähne
als solche oder ihre vordringliche Funktion zur Zerkleinerung der Nahrung
(Verbesserung der Bissverhältnisse) betrifft. Daran ändert auch nichts,
wenn der Ansatzpunkt der Behandlung im Kieferbereich ausserhalb des
Zahnapparates und des Parodonts liegt. Die therapeutische Zielsetzung,
die auf eine Verbesserung dieser Funktion gerichtet ist, gibt den Ausschlag
und macht die Behandlung zu einer zahnärztlichen.

    c) Die genannten Kriterien dürften im Allgemeinen zur Unterscheidung
zwischen zahnärztlicher und ärztlicher Behandlung ausreichen. Soweit
es nötig sein sollte, könnten ergänzend weitere sachdienliche Kriterien
herangezogen werden.

Erwägung 5

    5.- Während die Kosten für eine ärztliche Behandlung von der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei gegebenen Krankheitswert
nach Massgabe von Art. 25 KVG zu übernehmen sind, richtet sich die
Leistungspflicht für eine zahnärztliche Behandlung nach Art. 31 Abs. 1
KVG in Verbindung mit Art. 17 ff. KLV.

    a) Die durchgeführte Therapie mittels einer Michiganschiene setzte
wohl an den Zähnen an; therapeutische Zielsetzung war aber klarerweise
die Entlastung der Kiefermuskulatur und der Kiefergelenke. Damit fallen
vorliegend Ansatzpunkt und therapeutische Zielsetzung auseinander. Es
ist kein Grund ersichtlich, von der Regel abzuweichen, wonach der
therapeutischen Zielsetzung grösseres Gewicht beizumessen ist (Erw.
4b/cc). Damit liegt eine ärztliche Behandlung vor. Die Kosten hiefür
und für Massnahmen mit der gleichen therapeutischen Zielsetzung sind
demzufolge - nachdem der Krankheitswert der Kiefergelenksbeschwerden
gestützt auf die medizinischen Akten ohne weiteres zu bejahen ist -
von der Beschwerdegegnerin nach Massgabe von Art. 25 KVG zu übernehmen,
und demzufolge unabhängig davon, ob die Erkrankung der Versicherten in
Art. 17 ff. KLV aufgeführt ist.

    Der Vollständigkeit halber ist in diesem Zusammenhang darauf
hinzuweisen, dass Zahnärzte und Zahnärztinnen für ärztliche Behandlungen
in der Mundhöhle, die nicht zahnärztliche Vorkehren im engeren Sinne sind
und die trotzdem fast ausschliesslich von Zahnärzten und Zahnärztinnen
vorgenommen werden, auch unter Geltung des KVG als Leistungserbringer
und Leistungserbringerinnen anerkannt sind (BGE 128 V 135).

    b) Die Übernahme der Kosten für zahnärztliche Behandlungen durch
die obligatorische Krankenpflegeversicherung setzt voraus, dass die
Erkrankung der Versicherten in Art. 17 ff. KLV aufgeführt ist. Zu prüfende
Anknüpfungspunkte sind vorliegend die Kiefergelenksarthrose gemäss Art. 17
lit. d Ziff. 1 KLV und die Kondylus- und Diskusluxation gemäss Art. 17
lit. d Ziff. 3 KLV.

    Aus dem Gutachten des PD Dr. med. dent. B. vom 15. Februar 1999 können
keine Schlüsse hinsichtlich des Vorliegens einer dieser Erkrankungen
gezogen werden. Der gerichtlich bestellte Experte Prof. Dr. med. et
Dr. med. dent. P. sodann sagt in seinem Gutachten vom 25. November
1999 unter Ziff. 3, radiologisch (OPT) könne rechts eine beginnende
Kiefergelenksarthrose vermutet werden. Er legt jedoch nicht dar, wie
er zu dieser Diagnose gelangt. Anzunehmen ist, dass er dies aus dem
Röntgenbefund, den er unter der Anamnese in Ziff. 1.a wiedergibt,
ableitet, wonach bezüglich der Kiefergelenke rechtsseitig eine
Abflachung festzustellen sei. Im Atlas der Erkrankungen mit Auswirkungen
auf das Kausystem (SSO-Atlas), herausgegeben von der Schweizerischen
Zahnärzte-Gesellschaft SSO, wird hiezu ausgeführt, dass frühe Veränderungen
an der Gelenksoberfläche konventionell-radiologisch nicht erkennbar seien,
sondern erst die "zunehmende Abflachung". Eine solche Abflachung scheint
für die Diagnose des Gutachters verantwortlich zu sein. Im Sinne einer
sorgfältigen Abklärung des Sachverhaltes ist der Experte noch danach
zu fragen. Er wird in diesem Zusammenhang auch zu erklären haben,
was es bedeutet, wenn er diese Diagnose vermutet, insbesondere ob mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit von einer Kiefergelenksarthrose auszugehen
sei. Eine Kiefergelenksarthrose für sich allein vermag, wie oben dargelegt,
die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für die
Kosten der zahnärztlichen Behandlung grundsätzlich zu begründen. Nachdem
aber der Gutachter ohnehin nochmals zu befragen ist und auch der Fall in
Betracht zu ziehen ist, dass er die überwiegende Wahrscheinlichkeit für
das Vorliegen einer Kiefergelenksarthrose verneint, ist er auch anzuhalten,
zu prüfen (allenfalls mit Magnet-Resonanz-Tomographie), ob eine Kondylus-
und/oder Diskusluxation vorliegt.

    Die Sache ist deshalb an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie diese
Abklärungen bei dem von ihr bestellten Gutachter noch durchführen kann.

Erwägung 6

    6.- Sollte sich aufgrund der nachzuholenden Abklärungen ergeben,
dass die Beschwerdegegnerin für die Kosten der zahnärztlichen Behandlung
grundsätzlich leistungspflichtig ist, hat das Gericht entweder selber
abzuklären oder durch die Beschwerdegegnerin abklären zu lassen, welche
Massnahmen unter dem Gesichtswinkel des Art. 17 KLV zur Behandlung des
Leidens notwendig und im Sinne von Art. 32 Abs. 1 KVG wirksam, zweckmässig
und wirtschaftlich sind. Allfällige Kosten sind in jedem Fall nur soweit
zu übernehmen, als die zahnärztliche Behandlung durch eine oder durch
beide der oben erwähnten Erkrankungen bedingt ist.