Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 I 81



128 I 81

7. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofs i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Solothurn (staatsrechtliche
Beschwerde)

    6P.36/2001 vom 20. Dezember 2001

Regeste

    Art. 9 BV; Verdacht auf sexuellen Kindsmissbrauch; Begutachtung.

    Für die Abklärung des Wahrheitsgehalts von kindlichen Zeugenaussagen
bei Verdacht auf sexuellen Kindsmissbrauch bestehen fachliche Standards
(E. 2).

    Methodische Grundlagen der aussagepsychologischen Begutachtung (E. 2
und 3).

Sachverhalt

    A.- Am 20. Januar 1997 erschien B. mit ihrer Tochter (geb. 1992) auf
dem Polizeiposten in Zofingen. Sie vermutete sexuelle Übergriffe durch
ihren Ehemann X. Das Kind habe ihr gegenüber nach einem Wochenendbesuch
beim Vater am 14. Januar 1997 solche Angaben gemacht. Auf dem Polizeiposten
wurde das Kind in Anwesenheit der Mutter durch eine Polizeibeamtin
befragt. Nach dem Polizeirapport erwies sich die Befragung als relativ
schwierig; es konnten keine präziseren Angaben erhältlich gemacht werden;
das Kind musste immer wieder zum Thema zurückgeleitet werden, damit es
weitere Angaben machte.

    Am 4. und 10. Februar 1997 wurde das Kind durch eine Sozialpädagogin
des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Aargau
(KJPD) befragt. Am 11. Februar 1997 teilte der KJPD der Kantonspolizei
mit, nach Auskunft der Sozialpädagogin habe das diagnostische Interview
eindeutige Angaben des Kindes zur Art und Weise des sexuellen Missbrauchs
ergeben. Im Bericht vom 20. März 1997 zu den beiden Befragungen führte die
Sozialpädagogin aus, die Aussagen des Kindes, die durch die Darstellung
mit den anatomischen Puppen bestärkt worden seien, wirkten glaubhaft.
Am 6. August 1997 wurde das Videoband der Befragung vom 10. Februar 1997
in Anwesenheit der Parteien visioniert; die als Sachverständige befragte
Sozialpädagogin erklärte, es brauche kein weiteres Gutachten, die Aussagen
des Kindes seien für sie klar.

    In der Folge wurde der KJPD des Kantons Solothurn mit der Begutachtung
des Videobandes vom 10. Februar 1997 beauftragt. Nach den Ausführungen
der beiden Gutachter im Gutachten vom 18. Februar 1998 fanden sich keine
Anhaltspunkte, welche die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Kindes auf dem
Videoband einschränkten. Sie seien aber sehr rudimentär und liessen keine
Rückschlüsse auf den näheren Charakter der Handlungen zu. Die Aussagen,
die mögliche sexuell motivierte Handlungen umschrieben, seien auf Grund
von Suggestivfragen der Sozialpädagogin erfolgt. Das Kind sei Handlungen
von X. ausgesetzt gewesen, die es ängstigten und belasteten. Die Gutachter
hielten Zweifel am Bericht vom 20. März 1997 für berechtigt.

    Im Ergänzungsgutachten vom 2. Februar 1999 führten die beiden Gutachter
aus, die nichtverbalen Aussageelemente auf dem Videoband seien von ihnen
im Gutachten zu wenig berücksichtigt worden. Das Gutachten bedürfe deshalb
einer Korrektur: Die Analyse des rein verbalen Aussageprotokolls führe
zwar hinsichtlich

Glaubhaftigkeit der Aussagen zu einer Pattsituation, indem das Kind eine
ganze Reihe von belastenden delikttypischen Aussagen mache, welche aber
wegen der suggestiven Fragetechnik der Sozialpädagogin zum grösseren
Teil kaum verwertet werden könnten. Berücksichtigten sie hingegen die
nonverbalen Äusserungen, kämen sie zum Schluss, dass das Kind mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit die Aussagen, die es macht, nicht hätte machen
können, wenn nicht ein realer Erlebnishintergrund vorhanden wäre.

    B.- An der Verhandlung vor dem Obergericht des Kantons Solothurn
vom 2./3. November 2000 führte einer der beiden Gutachter aus, nach
dem Gutachtensauftrag sei die Aussagekraft des Videobandes und weniger
die Glaubwürdigkeit der Aussagen des Kindes zu prüfen gewesen. Mit
dem Einbezug der nonverbalen Kommunikationsformen des Kindes und unter
Ausserachtlassung der suggestiven Fragestellung der Untersucherin sei
man im Ergänzungsgutachten zur Erkenntnis gelangt, dass - bei Würdigung
der phänomengemässen Schilderung nicht verstandener Handlungselemente
- ein realer Erlebnishintergrund bestehen müsse. Eine Konstanzanalyse
führe zum selben Ergebnis. Es sei unwahrscheinlich, dass das Kind die
Aussagen erfunden habe. Ebenso könne man eine Suggestion von dritter
Seite ausschliessen. Es sei zwar von einer eingeschränkten, aber trotzdem
bestehenden Zeugnisfähigkeit auszugehen. Dabei habe man eine gewisse
sprachliche Retardierung miteinbezogen.

    Der Gutachter visionierte zudem das Videoband der ersten Befragung des
Kindes vom 4. Februar 1997 und führte aus, die Zuhilfenahme anatomischer
Puppen sei nicht wünschenswert, weil sie Aufforderungscharakter hätten. Das
habe aber keinen Einfluss auf die nonverbalen Kommunikationsformen des
Kindes. Die Befragung habe eine stark suggestive Wirkung auf das Kind. Das
erste Videoband sei als solches nicht verwertbar. Zwar könne die erste
Befragung Auswirkungen auf das verbale Aussageverhalten des Kindes bei der
folgenden Befragung zeitigen; aber diese Einschränkungen seien nicht gross,
weil die Aussagen des Kindes im zweiten Videoband mit jenen gegenüber der
Polizei identisch seien. Zentral sei und bleibe die Aussage der Mutter
gegenüber. Die Konstanzanalyse spreche nach wie vor für die Richtigkeit
der Aussagen des Kindes. Auf die Stärke der nonverbalen Äusserungen des
Kindes im zweiten Videoband habe die erste Befragung keinen Einfluss,
weil diesbezüglich keine Suggestion der Befragerin stattfinde und auch
nicht möglich sei.

    C.- Das Obergericht des Kantons Solothurn erkannte am 2./3. November
2000 X. der mehrfachen Schändung sowie der mehrfachen sexuellen Handlungen
mit Kindern schuldig. Es verurteilte ihn zu 18 Monaten Zuchthaus, mit
bedingtem Strafvollzug und einer Probezeit von drei Jahren.

    D.- X. erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichts aufzuheben.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- d) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Befragungen des
Kindes, die auf dieser Grundlage erstellten Gutachten und die Aussagen
des Gutachters an der obergerichtlichen Verhandlung seien nicht
fachgerecht. Das Gutachten bestätige eine suggestive Fragestellung
und schliesse auf Übergriffe, könne aber keine Angaben dazu machen. Es
kritisiere den Bericht vom 20. März 1997, lasse aber das erste Videoband
ausser Betracht, aus dem sich ergebe, dass das Kind verbal und nonverbal
mit Puppen beeinflusst worden sei. Auch das Ergänzungsgutachten gehe von
falschen Voraussetzungen aus. Die sich aus dem ersten Videoband ergebende
sprachliche und intellektuelle Retardierung des Kindes habe der Gutachter
erst am Verhandlungstag nach Visionierung dieses Videobandes erkannt. Der
reale Hintergrund für das nonverbale Verhalten des Kindes sei in der
ersten Befragung durch die Sozialpädagogin gesetzt worden, an der auch das
"Bisi machen" Thema gewesen sei und dem Kind Geräusch und Gestik und damit
nonverbale Komponenten vorgemacht worden seien. Der Gutachter sehe in der
Zuhilfenahme anatomischer Puppen einen Fehler, begründe aber nicht, weshalb
das keinen Einfluss auf die nonverbale Kommunikationsform des Kindes gehabt
haben solle. Das Urteil sei willkürlich und verletze den Grundsatz in dubio
pro reo. Hierauf ist im Sinne der nachstehenden Erwägungen einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Bei Besonderheiten in der Person oder der Entwicklung des Zeugen
kann eine Begutachtung in Betracht kommen, mit der die Zeugenfähigkeit
oder die Aussagequalität abgeklärt werden soll. Die Zuverlässigkeit
gutachterlicher Diagnosen oder Befunde basiert auf der Verlässlichkeit
der Untersuchung; die Verlässlichkeit kann etwa auch durch die Unschärfe
verwendeter diagnostischer Kategorien beeinträchtigt werden (HANS KIND,
Psychiatrische Untersuchung, 5. Aufl., Berlin 1997, S. 175). Ferner können
auf den

Opferschutz ausgerichtete Bestrebungen mit Rechten des Beschuldigten
in Konkurrenz treten. Therapeuten- und Gutachterstellung sind deshalb
klar zu trennen. Auch bei der forensischen Begutachtung besteht im
Grundsatz Methodenfreiheit. Die Wahl der Methode muss aber begründet
sein. Die wissenschaftlichen Standards müssen eingehalten, der Befund
und die diagnostische Bewertung klar voneinander getrennt und die
Schlussfolgerungen transparent sowie für die Verfahrensbeteiligten
nachvollziehbar dargestellt werden.

    Im Besonderen bestehen für die Abklärung des Wahrheitsgehalts von
kindlichen Zeugenaussagen bei Verdacht auf sexuellen Kindsmissbrauch
fachliche Standards (KLING, Glaubhaftigkeitsgutachten, Standards und
Fehler, in: Heer/Pfister [Hrsg.], Das Kind im Straf- und Zivilprozess,
Bern 2002; FEGERT [Hrsg.], Begutachtung sexuell missbrauchter Kinder,
Neuwied 2001; KRÖBER/STELLER [Hrsg.], Psychologische Begutachtung
im Strafverfahren, Darmstadt 2000; GREUEL, Qualitätsstandards
aussagepsychologischer Gutachten zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen,
in: MschrKrim 83/2000 S. 59 ff.; GREUEL ET AL., Glaubhaftigkeit
der Zeugenaussage, Weinheim 1998; DITTMANN, Die Begutachtung
der Glaubhaftigkeit bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch aus
psychologisch-psychiatrischer Sicht, in: Bauhofer/Bolle/Dittmann/Niggli
[Hrsg.], Jugend und Strafrecht, Chur/Zürich 1998; DITTMANN, Zur
Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen, in: Plädoyer 1997 2 S. 28 ff.;
STELLER/VOLBERT [Hrsg.], Psychologie im Strafverfahren, Bern 1997). Neben
der Überprüfung von Motivationslage und kognitiven Fähigkeiten der
kindlichen Zeugen hat sich die in der erwähnten Literatur beschriebene,
ursprünglich von UNDEUTSCH entwickelte Aussageanalyse heute weitgehend
durchgesetzt. Nach dem empirischen Ausgangspunkt der Aussageanalyse
erfordern wahre und falsche Schilderungen unterschiedliche geistige
Leistungen. Überprüft wird dabei in erster Linie die Hypothese, ob die
aussagende Person unter Berücksichtigung der Umstände, der intellektuellen
Leistungsfähigkeit und der Motivlage eine solche Aussage auch ohne
realen Erlebnishintergrund machen könnte. Methodisch wird die Prüfung
in der Weise vorgenommen, dass das im Rahmen eines hypothesengeleiteten
Vorgehens durch Inhaltsanalyse (aussageimmanente Qualitätsmerkmale,
sogenannte Realkennzeichen) und Bewertung der Entstehungsgeschichte der
Aussage sowie des Aussageverhaltens insgesamt gewonnene Ergebnis auf
Fehlerquellen überprüft und die persönliche Kompetenz der aussagenden
Person analysiert werden. Bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist immer
davon auszugehen, dass die Aussage auch

nicht realitätsbegründet sein kann. Ergibt die Prüfung, dass diese
Unwahrhypothese (Nullhypothese) mit den erhobenen Fakten nicht mehr in
Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen. Es gilt dann die
Alternativhypothese, dass die Aussage wahr sei. Erforderlich ist dafür
besonders auch die Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte
der Aussage (Aussagegenese). Streng abgegrenzt werden die allgemeine
Glaubwürdigkeit, die sich auf die Person bezieht, und die Glaubhaftigkeit,
die nur gerade die spezifische Aussage betrifft und eigentlicher Gegenstand
der aussagepsychologischen Begutachtung ist.

    Die Prüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen ist primär Sache
der Gerichte. Auf Begutachtungen ist nur bei besonderen Umständen
zurückzugreifen (Urteil des Bundesgerichts 6P.48/1999 vom 6. Mai 1999). Das
Gericht würdigt Gutachten grundsätzlich frei (Art. 249 BStP [SR 312.0]). Es
darf in Fachfragen nicht ohne triftige Gründe vom Gutachten abweichen und
muss Abweichungen begründen. Das Abstellen auf nicht schlüssige Gutachten
kann gegen Art. 9 BV verstossen, so wenn gewichtige, zuverlässig begründete
Tatsachen oder Indizien die Überzeugungskraft des Gutachtens ernstlich
erschüttern (vgl. BGE 101 IV 129 E. 3a; 102 IV 225 E. 7b; 118 Ia 144 E.
1c). Willkür liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen
ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation im klaren Widerspruch
stehen, auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender
Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen. Dabei genügt es nicht,
wenn das Urteil sich nur in der Begründung als unhaltbar erweist; eine
Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn es im Ergebnis verfassungswidrig
ist (BGE 127 I 38 E. 2a). Gemäss dem in Art. 32 Abs. 1 BV und in Art. 6
Ziff. 2 EMRK (SR 0.101) verankerten Grundsatz in dubio pro reo ist bis
zum gesetzlichen Nachweis der Schuld zu vermuten, dass der wegen einer
strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist (vgl. BGE 127 I 38 E. 2a;
124 IV 86 E. 2a; 120 Ia 31).

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht bezeichnet als Hauptbelastungsbeweis die klaren
Aussagen des Kindes gegenüber der Sozialpädagogin, die im Videoband
dokumentiert und mit den Angaben auf dem Polizeiposten und gegenüber
der Mutter des Kindes identisch seien. Alle Gutachten attestierten dem
Kind Glaubhaftigkeit der Aussagen und Glaubwürdigkeit der Person. Es
führt aber an anderer Stelle aus, die Aussagen des Kindes seien nicht
eindeutig und bedürften der Interpretation. Das Kind werde von allen
Gutachtern als retardiert qualifiziert. Die Erstbefragung sei völlig
unprofessionell verlaufen;

daraus könne nichts zum Nachteil des Beschwerdeführers abgeleitet
werden. Jedoch seien keine Anhaltspunkte für eine Manipulation zu
finden. Kinder in diesem Alter könnten ihr nonverbales Verhalten
nicht kontrollieren. Auf Grund der Gutachten, insbesondere des
Ergänzungsgutachtens, und der Ausführungen des Gutachters an der
Verhandlung seien die sexuellen Übergriffe belegt.

    a) Das Obergericht bezeichnet die Befragung durch die Sozialpädagogin
als "völlig unprofessionelle Erstbefragung", aus der "nichts zum Nachteil
des Beschwerdeführers abgeleitet werden" könne. Diese Qualifikation
betrifft die beiden Befragungen vom 4. und 10. Februar 1997 und den
entsprechenden Bericht vom 20. März 1997. Vorausgegangen waren bereits
die Befragungen der Polizei am 20. Januar 1997, bei der "keine präziseren
Angaben erhältlich gemacht werden konnten", und der Mutter am 14. Januar
1997. Diese Befragungen sind somit nach dem Obergericht insgesamt als
"unprofessionell" zu bezeichnen. Es stellt dennoch auf diese "Aussagen"
als Hauptbelastungsbeweis ab und erwägt, sie seien durchgehend "identisch"
gewesen; es hatte indessen bereits festgestellt, dass sie nicht eindeutig,
sondern interpretationsbedürftig sind. Es stützt sich dafür auf die
Begutachtung des Videobandes der zweiten Befragung vom 10. Februar
1997. Nach diesem Gutachten finden sich auf dem Videoband, abgesehen von
Antworten auf Suggestivfragen, nur rudimentäre Hinweise darauf, was das
Kind meint; das Videoprotokoll lasse keine verlässlichen Rückschlüsse
über die Art und Weise der Übergriffe zu bzw. die Aussagen seien sehr
rudimentär und liessen keine Rückschlüsse auf den näheren Charakter der
Handlungen zu. Dagegen wird im Ergänzungsgutachten "mit dem Einbezug der
nonverbalen Kommunikationsformen des Kindes und unter Ausserachtlassung
der suggestiven Fragestellung der Untersucherin" auf einen realen
Erlebnishintergrund geschlossen. Erst am Verhandlungstag visionierte
einer der Gutachter das Videoband der ersten Befragung vom 4. Februar
1997 und erklärte, er habe dieses Videoband bis anhin nicht gesehen,
und es sei als solches nicht verwertbar; er sei über die Vorgeschichte
nicht informiert gewesen und habe nicht gewusst, dass das Kind bereits
in psychologischer Behandlung gewesen sei; er stellte zudem fest, dass
nicht bloss eine sprachliche, sondern auch eine kognitive Retardierung
vorliege, dass die Zuhilfenahme anatomischer Puppen nicht wünschenswert
sei, dass das Kind ersichtlich habe spielen und nicht reden wollen, dass
keine Analyse der Entstehungsgeschichte der Aussagen stattgefunden habe
und dass die Aussage der Mutter gegenüber zentral sei und bleibe.

    Den lediglich mit der Prüfung des Videobandes vom 10. Februar 1997 auf
seine Aussagekraft hin beauftragten Gutachtern fehlten somit wesentliche
Beurteilungsgrundlagen. Die Gutachter nahmen keine Untersuchung des
Kindes vor und waren sich über dessen körperlichen und psychischen
Zustand nicht im Klaren. Der gutachterliche Befund und die Beweiswürdigung
beruhen insgesamt auf den tatsächlichen Grundlagen der Erstbefragungen.
Offensichtlich wurde weder eine eigentliche Glaubhaftigkeitsbegutachtung
in Auftrag gegeben noch erstellt. Wenn daher das Obergericht auf
Grund der Gutachten und der (hinsichtlich des ersten Videobandes nur
als behelfsmässig zu bezeichnenden) gutachterlichen Ausführungen an
der Verhandlung annimmt, damit seien die sexuellen Übergriffe belegt,
stellen sich erhebliche Zweifel ein.

    b) Als grundsätzlicher Mangel erscheint das Fehlen einer
ganzheitlichen aussagepsychologischen Untersuchung (KÖHNKEN, Methodik
der Glaubwürdigkeitsbegutachtung, in: Fegert, Begutachtung sexuell
missbrauchter Kinder, S. 29 ff.). Die erste zu berücksichtigende
"Aussage" stammt von der Mutter des Kindes, die keine Tatzeugin ist. Die
polizeiliche Befragung des Kindes ergab "keine präziseren Angaben". Sodann
war das Kind wegen Sprachschwierigkeiten (Stammeln, Dyslalie) und teils
infolge von durch Legospiel verursachten Geräuschen oft nur schlecht
verständlich. Die im gutachterlich erstellten Transkriptionsprotokoll
wiedergegebenen Aussagen des Kindes, die zum grössten Teil durch
suggestive Fragen zustande gekommen sind und nicht dem freien Bericht
entstammen, haben nach Ansicht der Gutachter nur "Annäherungscharakter".
Im Gutachten wie im Ergänzungsgutachten wird angenommen, die verbalen
Aussagen seien wegen der suggestiven Fragetechnik zum grössten Teil kaum
verwertbar. Dennoch spricht das Obergericht von "klaren Aussagen" des
Kindes, sie würden seiner eigenen Wahrnehmung entspringen, es wäre nicht
in der Lage, eine quasi eingetrichterte Geschichte mehrfach wiederzugeben,
ein Kind in seinem Stadium sei der Infiltration nicht zugänglich.

    Ein suggestiver Einfluss des sozialen Umfelds muss nun aber nicht durch
Infiltration oder Auswendiglernen vorgegebener Inhalte geschehen. Das
gesamte familiäre Klima, in dem Gespräche über entsprechende Inhalte
geführt, suggestive Fragen gestellt und einschlägige Äusserungen
des Kindes beifällig entgegen genommen, zumindest nicht hinterfragt
werden, übt den eigentlichen suggestiven Einfluss aus. Auch einfache,
wiederholte Fragen können falsche Gedächtnisinhalte implantieren (KLING,
aaO). Befragungen können

unbeabsichtigt suggestiv Erinnerungsverfälschungen bewirken
(MICHAELIS-ARNTZEN, Zur Suggestibilität von Kleinkindern, in:
Greuel/Fabian/Stadler [Hrsg.], Psychologie der Zeugenaussage,
Weinheim 1997, S. 205 f.). Eine ausserordentliche Dynamik
können Abhängigkeitsverhältnisse und Traumatisierungen entwickeln
(FISCHER/RIEDESSER, Lehrbuch der Psychotraumatologie, 2. Aufl., München
1999, S. 248 ff.). Die Sozialpädagogin weist in ihrem Bericht auf die
Umstände der Erstbekundung hin, dass nämlich der Vater des Kindes das
Sorgerecht beantragt hatte. Den Gutachtern schien das Kind ernsthaft
in Bedrängnis, nicht nur hinsichtlich möglicher sexueller Übergriffe
gefährdet, sondern auch durch die gesamte Situation überfordert.

    c) Diagnostisch relevante Informationen dürfen nur aus der Aussage
selbst bzw. aus dem unmittelbaren Kontext der zu beurteilenden Aussage
gewonnen werden (KÖHNKEN, aaO, S. 30). Dass sich die "Aussagen" des
Kindes wegen des suggestiven Einflusses in dieser Form als zweifelhaft
erweisen, war das Ergebnis des Gutachtens, das im Ergänzungsgutachten
aufrechterhalten wurde. Letzteres schloss erst "mit dem Einbezug der
nonverbalen Kommunikationsformen des Kindes und unter Ausserachtlassung
der suggestiven Fragestellung der Untersucherin" auf einen realen
Erlebnishintergrund. Dieser Schluss erscheint methodisch unzulässig.
Suggestive Fragestellung und sozialpsychologischer Kontext dürfen nicht
ausgeblendet werden. Die Haltung der Befragerin prägt das Gespräch
insgesamt, und dieses muss als Ganzes betrachtet werden. Dass die
Fragestellung auf nonverbale Antworten keinen Einfluss habe, erscheint
fraglich. Nonverbale und paraverbale Verhaltensweisen gelten als zu
inkonsistent, als dass sich darauf die Beurteilung stützen könnte. Auch
kindliches Spielverhalten, insbesondere mit anatomischen Puppen, die
nicht zu diesem Zweck entwickelt wurden, erlaubt keine zuverlässigen
Schlussfolgerungen (KÖHNKEN, aaO, S. 31 f.; DITTMANN, Begutachtung, aaO,
S. 250). Aus keinem wie auch immer gearteten Verhalten des Kindes lässt
sich ein tatsächlich erlittener sexueller Missbrauch mit der notwendigen
Sicherheit ableiten; selbst sexualisierte Verhaltensweisen sind keine
verlässlichen Hinweise auf sexuelle Übergriffe (KLING, aaO). Besteht
ein hoch suggestiver Kontext, sind Hinweisgesten wie Worte auf diesem
Hintergrund zu bewerten; sie haben keinen Hinweiswert auf eigenes Erleben
(VOLBERT, Suggestibilität kindlicher Zeugen, in: Steller/Volbert,
aaO, S. 40 ff.). Bei hoch suggestiven Einflussfaktoren wird sogar die
Anwendbarkeit der aussagepsychologischen

Methode generell in Frage gestellt (GREUEL, aaO, S. 62; KLING, aaO). Bei
der Hypothese einer suggestiven Aussageverfälschung wäre schliesslich eine
Rekonstruktion der Aussagegenese angezeigt gewesen (GREUEL, aaO, S. 63, 69;
KLING, aaO). Der Blick in die Fachliteratur verstärkt mithin die Bedenken.

    d) Nach Prüfung der Aussagegenese ist Kern der aussagepsychologischen
Untersuchung die kriterienorientierte Aussageanalyse anhand der sogenannten
Realkennzeichen. Mit Hilfe der Realkennzeichen, die inhaltliche Qualitäten
einer Aussage beschreiben, wird versucht, zwischen realitäts- oder
erlebnisbegründeten und phantasierten Aussagen zu differenzieren (KÖHNKEN,
aaO, S. 33 ff.; DITTMANN, aaO). Im Gutachten wird festgestellt, infolge
der suggestiven Fragetechnik und des fehlenden freien Berichts könne
eine Prüfung der 19 Realkennzeichen nicht vorgenommen werden. Dennoch
ziehen die Gutachter solche Kennzeichen heran, wie beispielsweise die
"phänomengebundene Beschreibung unverstandener Ereignisse". Dieses
Kennzeichen liegt vor, wenn die Aussage konkrete Schilderungen von
Geschehensabläufen oder Ereignissen enthält, deren Sinn das aussagende
Kind nicht erfassen kann (KÖHNKEN, aaO, S. 36). An der methodisch
vorausgesetzten Aussage für die Prüfung der Realkennzeichen fehlt es
aber nach dem Gutachten weitgehend. Die Gutachter ziehen (denn auch
eher spekulativ) einige spontane Antworten und Aussagen auf offene
Fragen heran, kommen jedoch zum Ergebnis, dass die Sätze auch hier
unverbunden und unpräzise blieben. Erst im Ergänzungsgutachten führen
sie aus: "Berücksichtigen wir hingegen die nonverbalen Äusserungen,
kommen wir zum Schluss, dass das Kind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit
die Aussagen, die es macht, nicht hätte machen können, wenn nicht ein
realer Erlebnishintergrund vorhanden wäre" (oben Bst. A). Dieser neue
Befund in der Fragebeantwortung stellt gegenüber dem Gutachten einen
eigentlichen Bruch dar, ohne dass er methodisch begründet oder klar
gestellt würde. Eine Aussageanalyse lässt sich in keinem Fall gestützt
auf nonverbale Kommunikationsformen unter Ausblendung des suggestiven
Umfelds vornehmen. Die Realkennzeichen beziehen sich auf verbale Aussagen,
nicht auf nonverbales Ausdrucksverhalten. Die Analyse kann daher nur
vorgenommen werden, wenn überhaupt Aussagematerial in geeigneter Qualität
und Quantität vorliegt.

    Die Begutachtung erweist sich daher in methodischer Hinsicht als nicht
dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Standard entsprechend. Diese Kritik
trifft die Gutachter insofern nicht, als sie nicht

mit einer eigentlichen aussagepsychologischen Begutachtung
beauftragt waren; sie haben überdies eindringlich auf Problemfelder
hingewiesen. Hingegen ist zu beanstanden, dass sie als Fachleute
unter diesen Bedingungen überhaupt eine Begutachtung vornahmen
und als hinreichend vertraten. Strafgerichte können zwar nicht eine
aussagepsychologische Begutachtung selbst durchführen. Sie müssen aber
deren Schlüssigkeit beurteilen können.

Erwägung 4

    4.- Zusammengefasst nimmt das Obergericht zwar zunächst an, aus der
Erstbefragung könne nichts zum Nachteil des Beschwerdeführers abgeleitet
werden. Es stellt dann aber auf diese Befragungsergebnisse ab. Es
stützt sich dafür auf eine nicht schlüssige und nicht dem aktuellen
wissenschaftlichen Standard entsprechende Begutachtung. Der Gutachter
kam vor dem Obergericht zum Ergebnis, zentral sei und bleibe die Aussage
des Kindes der Mutter gegenüber; ob man sie als glaubwürdig ansehe oder
nicht, sei Aufgabe des Gerichts und nicht durch ihn zu beurteilen. Damit
weist er auf die forensische Irrelevanz der Begutachtung hin. Auf dieser
Beweisgrundlage ist die Verurteilung des Beschwerdeführers, die sich
wesentlich auf die Begutachtung stützt, nicht haltbar.