Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 I 59



128 I 59

5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. M. und I. gegen Orange Communications SA, Einwohnergemeinde Worb,
Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion sowie Verwaltungsgericht des Kantons
Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde)

    1A.62/2001 und 1P.264/2001 vom 24. Oktober 2001

Regeste

    Anwendbarkeit von Art. 6 Ziff. 1 EMRK bei Beschwerden gegen eine
Mobilfunksendeanlage.

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist anwendbar, wenn ein Beschwerdeführer geltend
macht, auf seinem Grundstück seien die Immissions- oder Anlagegrenzwerte
der NISV überschritten (E. 2).

Sachverhalt

    Die Orange Communications SA reichte am 30. April 1999 bei der Gemeinde
Worb ein Baugesuch ein für das Erstellen einer GSM-Mobilfunkanlage
(drei Antennen im Frequenzbereich 1800 MHz mit einer äquivalenten
Strahlungsleistung [ERP] von je 710 W) auf

der in der Landwirtschaftszone liegenden Parzelle Worb Nr. 611
"Hölzlihüsi". Hiergegen gingen mehrere Einsprachen ein, u.a. von M. und
I. Der Regierungsstatthalter von Konolfingen erteilte am 2. Juni 1999 die
Ausnahmebewilligung gemäss Art. 24 des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1979
über die Raumplanung (RPG; SR 700); die Baukommission Worb erteilte am 14.
September 1999 die Gesamtbaubewilligung und wies die Einsprachen ab.

    Gegen den Gesamtbauentscheid erhoben M., I. und weitere
Beteiligte zunächst Baubeschwerde an die kantonale Bau-, Verkehrs-
und Energiedirektion (BVE) und anschliessend Beschwerde an das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Am 5. März 2001 wies das
Verwaltungsgericht die Beschwerde ab, soweit auf sie eingetreten wurde.

    Hiergegen erhoben M. und I. am 9. April 2001
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde ans
Bundesgericht. Die Beschwerdeführer, deren Wohnungen mindestens 280 m vom
geplanten Antennenstandort entfernt sind, beantragen im Wesentlichen,
das Urteil des Verwaltungsgerichts und die mitangefochtenen Entscheide
der Vorinstanzen seien aufzuheben. Vorgängig sei die Verordnung vom
23. Dezember 1999 über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV;
SR 814.710) auf ihre Gesetzes- und Verfassungsmässigkeit zu überprüfen.

    Das Bundesgericht ist auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht
eingetreten und hat die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen, soweit
darauf einzutreten war.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) In formeller Hinsicht rügen die Beschwerdeführer zunächst
eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (SR 0.101) und Art. 30 BV, weil
das Verwaltungsgericht ihren Antrag auf Durchführung einer mündlichen
Verhandlung abgelehnt hat. Das Verwaltungsgericht verneinte einen
Anspruch auf eine öffentliche Parteiverhandlung gemäss Art. 6 EMRK:
Zum einen hätten die Beschwerdeführer eine Verhandlung ausdrücklich nur
"im Sinne des rechtlichen Gehörs" verlangt und nicht unter Berufung auf
Art. 6 EMRK; zudem sei diese Bestimmung gar nicht anwendbar.

    aa) Es erscheint fraglich, ob der Antrag auf Durchführung einer
mündlichen Verhandlung unter Berufung auf das rechtliche Gehör als
eindeutiger Verzicht auf den Anspruch auf eine öffentliche

Verhandlung gemäss Art. 6 EMRK ausgelegt werden kann (zu den
Verzichtsvoraussetzungen vgl. Urteile des Europäischen Gerichtshofs
i.S. Schuler-Zgraggen c. Schweiz vom 24. Juni 1993, Serie A Bd. 263
Ziff. 58; i.S. Sauger c. Österreich vom 28. Mai 1997, Recueil des arrêts
et décisions 1997 S. 881 ff. Ziff. 58-63; i.S. Gustafson c. Schweden vom
1. Juli 1997, Recueil 1997 S. 1149 ff. Ziff. 47, je mit Hinweisen), zumal
die Beschwerdeführer vor Verwaltungsgericht nicht anwaltlich vertreten
waren. Die Frage kann allerdings offen bleiben, wenn Art. 6 Ziff. 1 EMRK
auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist.

    bb) Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf,
dass seine Sache in Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und
Verpflichtungen in billiger Weise öffentlich von einem unabhängigen und
unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird.

    In seiner neueren Rechtsprechung bejaht das Bundesgericht das Vorliegen
von "zivilrechtlichen" Ansprüchen im Sinne von Art. 6 EMRK im Bau- und
Planungsrecht, wenn ein Nachbar die Verletzung von Normen geltend macht,
die auch seinem Schutz dienen. Diese Normen umschreiben den Umfang der
Nutzungsrechte des Nachbarn; werden solche Normen verletzt, wird er somit
in seinen "civil rights" im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK berührt und kann
sich auf diese Bestimmung berufen (BGE 127 I 44 E. 2c S. 45 f.). Nicht
anwendbar ist dagegen Art. 6 EMRK, wenn lediglich die Einhaltung
öffentlichrechtlicher Bestimmungen verfolgt wird (vgl. auch JOCHEN
ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention,
EMRK-Kommentar, 2. Aufl., S. 191).

    Das Bundesgesetz vom 7. Oktober 1983 über den Umweltschutz
(Umweltschutzgesetz, USG; SR 814.01) bezweckt im Bereich des
Immissionsschutzes, Menschen gegen schädliche oder lästige Einwirkungen
zu schützen (Art. 1 Abs. 1 USG); zudem sollen im Sinne der Vorsorge
Einwirkungen, die schädlich oder lästig werden könnten, frühzeitig begrenzt
werden. Diese beiden Schutzzwecke (Schutz vor schädlichen und lästigen
Einwirkungen einerseits, vorsorgliche Emissionsbegrenzung andererseits)
werden in Art. 11 ff. USG aufgegriffen: Gemäss Art. 11 Abs. 2 USG sind
Emissionen unabhängig von der bestehenden Umweltbelastung im Rahmen der
Vorsorge so weit zu begrenzen, als dies technisch und betrieblich möglich
und wirtschaftlich tragbar ist (Abs. 2); die Emissionsbegrenzungen werden
verschärft, wenn feststeht oder zu erwarten ist, dass die Einwirkungen
unter Berücksichtigung der bestehenden Umweltbelastung schädlich oder
lästig werden (Abs. 3). Für die Beurteilung der

schädlichen oder lästigen Einwirkungen legt der Bundesrat durch Verordnung
Immissionsgrenzwerte fest (Art. 13 Abs. 1 USG).

    Soweit es um den Schutz vor schädlichen oder lästigen Immissionen
geht, dient die Emissionsbegrenzung nicht nur dem öffentlichen
Interesse am Umweltschutz, sondern bezweckt den Schutz der Personen,
die im näheren Umkreis der emittierenden Anlagen wohnen. Art. 6 EMRK
ist somit einschlägig, wenn ein Beschwerdeführer geltend macht, die
Immissionsgrenzwerte seien auf seinem Grundstück überschritten. Dagegen
erscheint es fraglich, ob dies generell auch dann gilt, wenn der
Beschwerdeführer nur eine weitergehende vorsorgliche Emissionsbegrenzung
verlangt, da diese der Prävention dient und unabhängig von einer konkreten
Umweltgefährdung angeordnet wird. Im Bereich der nichtionisierenden
Strahlung sind allerdings die Anlagegrenzwerte nicht als Emissions-,
sondern als Immissionsgrenzwerte (recte: Immissionsgrenzwerte, i.S.v. am
Ort des Einwirkens gemessenen Belastungswerten) ausgestaltet, die an
"Orten mit empfindlicher Nutzung" einzuhalten sind. Sie sollen den
bestehenden Unsicherheiten über mögliche biologische (nicht thermische)
Langzeitwirkungen im Niedrigdosisbereich Rechnung tragen (vgl. BUWAL,
Erläuternder Bericht zur NISV vom 23. Dezember 1999, S. 5 f.). Sie geben
einen Anspruch auf Einhaltung der Anlagegrenzwerte u.a. in Räumen, in
denen sich Personen regelmässig während längerer Zeit aufhalten. Auch
diese Bestimmungen sind deshalb als nachbarschützend zu qualifizieren.

    Art. 6 EMRK wäre daher anwendbar, wenn die Beschwerdeführer
geltend machen würden, auf ihrem Grundstück seien die Immissions- oder
Anlagegrenzwerte der NISV überschritten. Das ist jedoch nicht der Fall:
Die Beschwerdeführer stellen vielmehr generell die Gesetzmässigkeit der
NISV in Frage und kritisieren das von Mobilfunkanlagen für die gesamte
Bevölkerung ausgehende Risiko.

    cc) Die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK wäre nach der Rechtsprechung des
EGMR überdies - unabhängig von der Ausgestaltung des nationalen Rechts - zu
bejahen, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ernsthafte Auswirkungen
für die Gesundheit oder körperliche Integrität der Beschwerdeführer zu
befürchten wären (vgl. Urteile i.S. Balmer-Schafroth c. Schweiz vom
26. August 1997, Recueil 1997 S. 1346 ff. Ziff. 30 ff., insbes. Ziff. 40;
i.S. Athanassoglou u. Mitb. c. Schweiz vom 6. April 2000, in: VPB 2000
Nr. 136 Ziff. 45 ff.). Das Verwaltungsgericht hat jedoch eine derartige

Gefahr für die - in beträchtlicher Entfernung von der Antennenanlage
wohnenden - Beschwerdeführer zu Recht verneint.

    dd) Nach dem Gesagten hat das Verwaltungsgericht Art. 6 EMRK nicht
verletzt, als es von der Durchführung einer öffentlichen Parteiverhandlung
absah.