Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 I 34



128 I 34

3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. Rudolf Hausherr gegen Erwin Walker sowie Justiz-, Gemeinde-
und Kirchendirektion, Regierungsrat und Grosser Rat des Kantons Bern
(staatsrechtliche Beschwerde)

    1P.339/2001 vom 12. September 2001

Regeste

    Art. 85 lit. a OG; Art. 44, 88 und 89 des Berner Gesetzes über die
politischen Rechte; Art. 2 des Gesetzes über die Regierungsstatthalterinnen
und Regierungsstatthalter. Verletzung des Stimmrechts durch Missachtung
der Wohnsitzpflicht für Regierungsstatthalter.

    Die Wohnsitzpflicht zählt wie die klassischen
Unvereinbarkeitsbestimmungen zum von Art. 85 lit. a OG erfassten
Schutzbereich der politischen Rechte (E. 1a-d).

    Die Stimmrechtsbeschwerde schützt auch das passive Wahlrecht (E. 1e).

    Schaffung von gesetzlich nicht vorgesehenen Ausnahmen von der
Wohnsitzpflicht durch Auslegung (E. 2 und 3)? Regeln und Grenzen der
Auslegung, Auslegungsmethodik (E. 3b). Das Fehlen einer Ausnahmeregelung
stellt in concreto keine echte Lücke dar, die zu füllen der Grosse Rat
befugt wäre (E. 3c, d).

Sachverhalt

    Die Stimmberechtigten des Amtsbezirks Saanen wählten am 26. November
2000 Erwin Walker zum Regierungsstatthalter. Am 29. November 2000 reichte
der unterlegene Kandidat, Rudolf Hausherr, beim Regierungsrat des Kantons
Bern Wahlbeschwerde ein und stellte folgenden Antrag:
      "Der Wahl von Erwin Walker zum Regierungsstatthalter des Amtsbezirks

    Saanen sei die Validierung zu versagen, sofern der Gewählte nicht
auf sein

    Amt als Regierungsstatthalter des Amtsbezirks Obersimmental verzichtet
und

    seinen Wohnsitz in den Amtsbezirk Saanen verlegt."

    Zur Begründung führte er im Wesentlichen an, den Regierungsstatthalter
treffe eine gesetzliche Wohnsitzpflicht. Nach der Instruktion des
Verfahrens durch die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion (JGK)
erkannte der Grosse Rat des Kantons Bern am 2. April 2001:
      "1. Die Wahlbeschwerde vom 29. November 2000 wird abgewiesen.
       2. Das Ergebnis der Wahl vom 26. November 2000 wird nach

    Zusammenstellung der Protokolle wie folgt erwahrt: 'Herr Erwin Walker,

    1953, Lenk, wurde bei einem absoluten Mehr von 955 Stimmen mit 1'286

    Stimmen für den Rest der laufenden Amtsdauer bis zum 31. Dezember
2003 im

    ersten Wahlgang zum Regierungsstatthalter des Amtsbezirkes Saanen
gewählt.
          Weitere Stimmen: Herr Rudolf Hausherr, Bern, 623 Stimmen.'
       (3. - 6.)."

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 18. Mai 2001 wegen Verletzung
des Stimmrechts beantragt Rudolf Hausherr, den "Entscheid des Grossen
Rates des Kantons Bern vom 2. April 2000 (recte: 2001)

betreffend Abweisung der Wahlbeschwerde und Erwahrung der Wahl von Herrn
Erwin Walker zum Regierungsstatthalter des Amtsbezirks Saanen" aufzuheben.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Der angefochtene Entscheid validiert das Ergebnis der
Regierungsstatthalterwahl für den Amtsbezirk Saanen und weist
die Wahlbeschwerde des heutigen Beschwerdeführers als unterlegenem
Kandidaten ab. Dieser macht geltend, die Wahl Erwin Walkers könne nicht
erwahrt werden, falls dieser nicht auf sein Regierungsstatthalteramt im
Amtsbezirk Obersimmental verzichte und seinen Wohnsitz in den Amtsbezirk
Saanen verlege. Der Grosse Rat erachtet dagegen ein Doppelmandat und im
vorliegenden Fall eine Ausnahme von der Wohnsitzpflicht als zulässig. Das
rügt der Beschwerdeführer als Verletzung seines Stimmrechts.

    b) Gemäss Art. 85 lit. a OG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden
betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürgerinnen und Bürger. Die
politische Stimmberechtigung umfasst unter anderem das aktive und passive
Wahlrecht. Mit Stimmrechtsbeschwerde kann die Verletzung sämtlicher im
Zusammenhang mit den politischen Rechten stehenden Vorschriften gerügt
werden (BGE 123 I 97 E. 1b/aa; 120 Ia 194 E. 1b). Ein Anfechtungsobjekt
wird in Art. 85 lit. a OG - anders als in Art. 84 Abs. 1 OG für die
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger
Rechte - nicht genannt. Mit Stimmrechtsbeschwerde sind kantonale
Erlasse anfechtbar, die das Stimm- und Wahlrecht regeln, ebenso wie
Verletzungen von Normen, die den Inhalt des aktiven Stimm- und Wahlrechts
als auch des passiven Wahlrechts umschreiben. Auch Wählbarkeits-
und Unvereinbarkeitsbestimmungen zählen zum von Art. 85 lit. a OG
erfassten Schutzbereich der politischen Rechte (BGE 123 I 97 E. 1;
119 Ia 167 E. 1). Dass auch Unvereinbarkeitsbestimmungen dazu gehören,
wird damit begründet, dass sie die gleichen Wirkungen erzielen können wie
Vorschriften über die Unwählbarkeit. Das Stimmrecht schliesst nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts den Anspruch ein, dass die durch das
Volk gewählten Behörden nicht mit Personen besetzt werden, welche ein
bestimmtes Amt aufgrund einer Unvereinbarkeit nicht übernehmen dürfen
(BGE 116 Ia 242 E. 1a, 477 E. 1a; 114 Ia 395 E. 3b). In BGE 123 I 97
E. 1b hielt das Bundesgericht fest, für die Zulässigkeit der

Stimmrechtsbeschwerde sei entscheidend, dass Vorschriften das Stimmrecht
in ihrer Wirkung direkt berührten, und es bejahte dies grundsätzlich auch
für Ausstandsbestimmungen für Parlamentarier.

    c) Der Grosse Rat ging davon aus, die Frage der Zulässigkeit
des Doppelmandates von Erwin Walker trotz Wohnsitzpflicht für
Regierungsstatthalter im Amtsbezirk sei eine solche der Unvereinbarkeit im
Sinne von Art. 88 Abs. 2 des Gesetzes über die Ausübung der politischen
Rechte vom 5. Mai 1980 (GPR; danach kann mit Wahlbeschwerde geltend
gemacht werden, "dass eine gewählte Person wegen Unvereinbarkeit ihr
Mandat nicht annehmen oder nicht weiter ausüben darf"); der Begriff der
Unvereinbarkeit in dieser Bestimmung sei weit auszulegen, zumal diese
den Schutz des Grundrechtes der Wahlfreiheit bezwecke. Er trat aus diesem
Grunde auf die kantonale Wahlbeschwerde des Beschwerdeführers ein.

    d) Die Wohnsitzpflicht wird nicht zu den klassischen
Unvereinbarkeitsbestimmungen gezählt. Wo diese besteht, ist die
Wohnsitznahme im Gemeinwesen jedoch eine rechtliche Voraussetzung der
Amtsausübung; bei der Wahl wird stillschweigend davon ausgegangen, dass
der Gewählte im Amtsbezirk Wohnsitz nehme, und wenn er dies unterlässt,
kann er sein Amt nicht antreten. Eine Wohnsitzpflicht kann auch als
Wählbarkeitsvoraussetzung ausgestaltet sein. In diesem Falle ist bereits
eine Wahl rechtlich ausgeschlossen und nicht erst der Amtsantritt
(HANGARTNER/KLEY, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2000, Rz. 224 f. und 243
ff.). Eine als Wählbarkeitsvoraussetzung ausgestaltete Wohnsitzpflicht
berührt ohne weiteres das Stimm- und Wahlrecht. Das Gleiche muss aber
auch dort gelten, wo diese rechtlich anders ausgestaltet ist, aber in
gleicher Weise wie klassische Unvereinbarkeitsvorschriften eine faktische
Nichtwählbarkeit (HANGARTNER/KLEY, aaO, Rz. 1416) zur Folge hat.

    Die Pflicht, im Amtsbezirk Wohnsitz zu nehmen, bewirkt, dass
eine gewählte Person das Amt nicht antreten und nicht ausüben kann,
wenn sie diese nicht erfüllt. Sie hat daher im Sinne der angeführten
Rechtsprechung des Bundesgerichts die gleiche Wirkung wie eine Vorschrift
über die Unwählbarkeit oder die klassische Unvereinbarkeit. Der Grosse
Rat betrachtete sie zu Recht als Unvereinbarkeitsvorschrift im weiteren
Sinne des Art. 88 Abs. 2 GPR. Da er mit der Validierung der Wahl Erwin
Walkers diesem erlaubte, das Amt des Regierungsstatthalters im Amtsbezirk
Saanen auch ohne Aufgabe seines Amtes im Obersimmental und Wohnsitznahme in

Saanen anzutreten und auszuüben, berührt der angefochtene Entscheid die
politischen Rechte. In Frage steht der aus dem Stimmrecht fliessende
Anspruch der Stimmberechtigten, dass dieses Amt nicht von einer Person
besetzt wird, die das Amt nicht ausüben darf, wenn sie keinen Wohnsitz
im Amtsbezirk nimmt. Die Stimmrechtsbeschwerde ist daher zulässig.

    e) Der nicht im Amtsbezirk Saanen wohnhafte Beschwerdeführer war an der
Regierungsstatthalterwahl vom 26. November 2000 im Amtsbezirk Saanen zwar
nicht stimmberechtigt, hat indessen als Kandidat daran teilgenommen. Die
Stimmrechtsbeschwerde schützt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
auch das passive Wahlrecht. Der Beschwerdeführer ist daher als unterlegener
Bewerber befugt, die Validierung der Wahl des obsiegenden Bewerbers mit
Stimmrechtsbeschwerde anzufechten (BGE 119 Ia 167 E. 1; 114 Ia 395 E.
3 S. 400).

    Da diese und die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind,
ist auf die Stimmrechtsbeschwerde einzutreten.

    f) Der Regierungsrat macht zwar in der Vernehmlassung geltend, es sei
fraglich, ob der Beschwerdeführer überhaupt rechtzeitig Wahlbeschwerde
erhoben habe. Eine solche müsse nach Art. 89 Abs. 2 GPR binnen dreier Tage
seit der Entdeckung des Beschwerdegrundes eingereicht werden. Erwin Walker
habe bereits vor der Wahl öffentlich erklärt, er wolle in zwei Amtsbezirken
das Amt des Regierungsstatthalters ausüben. Dem Beschwerdeführer wäre
durchaus zuzumuten gewesen, binnen dreier Tage ab Kenntnisnahme dieser
Erklärung Wahlbeschwerde einzureichen. Die binnen dreier Tage nach
der Durchführung der Wahl eingereichte Beschwerde sei daher verspätet,
weshalb der Grosse Rat darauf nicht hätte eintreten dürfen.

    Die Wahlbeschwerde des Beschwerdeführers betraf indessen keine
Vorbereitungshandlung, die er nach Art. 89 Abs. 2 GPR binnen dreier
Tage hätte anfechten können und müssen, sondern eine Unvereinbarkeit
im weiteren Sinne, die nach der Wahl noch hätte beseitigt werden können
(vgl. E. 1c hiervor). Die Einreichung der Beschwerde binnen dreier Tage
nach der Publikation des Wahlergebnisses war daher jedenfalls fristgerecht,
zumal der Grosse Rat anführte, die Beschwerdefrist hätte "frühestens"
am Wahlsonntag zu laufen begonnen. Im Übrigen ist mehr als fraglich, ob
ein solcher Einwand in der Vernehmlassung überhaupt zulässig wäre, nachdem
der Regierungsrat in seinem Antrag an den Grossen Rat zur Behandlung der
Wahlbeschwerde die gegenteilige Auffassung vertreten hatte. Das kann hier
allerdings offen bleiben.

    g) Bei Stimmrechtsbeschwerden prüft das Bundesgericht nicht nur die
Auslegung von Bundesrecht und kantonalem Verfassungsrecht frei, sondern
auch diejenige anderer kantonaler Vorschriften, welche den Inhalt des
Stimm- und Wahlrechts normieren oder mit diesem in engem Zusammenhang
stehen (BGE 120 Ia 194 E. 2; 119 Ia 154 E. 2c; 118 Ia 184 E. 3, je mit
Hinweisen). Die Bestimmungen in Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes über die
Regierungsstatthalterinnen und Regierungsstatthalter vom 16. März 1995
(RstG) und Art. 44 Abs. 2 GPR betreffend die Wohnsitzpflicht, deren
Auslegung vorliegend umstritten ist, betreffen das Stimm- und Wahlrecht
und sind daher frei zu prüfen.

Erwägung 2

    2.- a) Der Grosse Rat hat im angefochtenen Entscheid zunächst geprüft,
ob Doppelmandate - das Innehaben des Regierungsstatthalteramtes in
zwei Amtsbezirken durch eine Person - zulässig seien. Er ist dabei zum
Schluss gekommen, dass die Verfassung des Kantons Bern Doppelmandate
nicht ausschliesse. Gesetzlich seien sie zwar nicht vorgesehen, es
bestehe aber in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit der Doppelmandate
auch kein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers. "Aufgrund einer
teleologischen Auslegung" kommt der Grosse Rat sodann zum Schluss,
"dass für die Beantwortung dieser Frage im bernischen Recht eine Lücke
besteht, die in freier Rechtsfindung geschlossen werden kann." Sei die
Einführung des Doppelmandates auf dem Wege der Lückenfüllung möglich,
müsse als nächstes geprüft werden, ob die gesetzliche Wohnsitzpflicht dem
Doppelmandat entgegenstehe oder ob im vorliegenden Fall Herrn Erwin Walker
eine Ausnahme von der gesetzlichen Wohnsitzpflicht erteilt werden dürfe.

    b) Die Wohnsitzpflicht für Regierungsstatthalter ist in den beiden
folgenden Bestimmungen verankert:

    Art. 2 Abs. 2 RstG lautet:
      "Die Regierungsstatthalterin oder der Regierungsstatthalter wohnt im

    Amtsbezirk."

    Art. 44 Abs. 2 GPR (in der Fassung vom 14. März 1995) lautet wie folgt:
      "Die Regierungsstatthalter sowie die Gerichtspräsidenten müssen nach

    ihrer Wahl in demjenigen Wahlkreis politischen Wohnsitz begründen,
in dem

    sie gewählt worden sind. Artikel 101 Absatz 2 des Gesetzes vom 14. März

    1995 über die Organisation der Gerichtsbehörden in Zivil- und
Strafsachen

    (GOG; BSG 161.1]) bleibt vorbehalten."

    c) Der Grosse Rat hält zunächst fest, dass die in den beiden zitierten
Bestimmungen festgeschriebene Wohnsitzpflicht mit der in Art. 24 BV und
Art. 16 der Verfassung des Kantons Bern vom 16. Juni 1993 (KV) verankerten
Niederlassungsfreiheit vereinbar ist, weil sie durch zwingende dienstliche
Gründe gerechtfertigt sei. So obliege dem Regierungsstatthalter z.B. die
Leitung des Bezirksführungsstabes bei ausserordentlichen Lagen, und er
müsse generell bei Feuerwehr-, Wehrdienst- und Polizeieinsätzen unter
Umständen in kürzester Zeit auf dem Schadenplatz sein. Zudem erfordere
die Ausübung dieses Amtes eine besonders enge Beziehung zur Bevölkerung.

    Ohne weitere Begründung stellt sich der Grosse Rat dann auf
den Standpunkt, die Wohnsitzpflicht für Regierungsstatthalter ohne
Ausnahmemöglichkeit sei eine zu strenge Massnahme, weshalb de lege ferenda
für Einzelfälle eine Ausnahmemöglichkeit geschaffen werden müsse. Im
vorliegenden Fall sei ein starres Festhalten an der Wohnsitzpflicht nicht
unbedingt erforderlich und daher unverhältnismässig, weshalb Erwin Walker
einen Anspruch auf die Erteilung einer Ausnahmebewilligung habe.

Erwägung 3

    3.- Nach den unbestrittenen Ausführungen des Grossen Rates im
angefochtenen Entscheid sieht das Berner Verfassungs- und Gesetzesrecht
für Regierungsstatthalter weder Doppelmandate noch Ausnahmen von der
Wohnsitzpflicht ausdrücklich vor. Der Beschwerdeführer wirft ihm Willkür
vor, weil er, sich über den klaren Gesetzeswortlaut hinwegsetzend, Erwin
Walker eine Ausnahme von der Wohnsitzpflicht zugestanden habe.

    a) Grundlage jeden staatlichen Handelns ist das Recht (Art. 5 Abs. 1
BV, Art. 66 Abs. 2 KV). Der Grosse Rat ist daher, wenn er - wie hier -
in der Funktion als rechtsanwendende Behörde handelt, ohne weiteres an
das Gesetz - hier Art. 2 Abs. 2 RstG und Art. 44 Abs. 2 GPR - gebunden.
Er hält diese Regelung indessen für lückenhaft, weil sie keine Ausnahme von
der Wohnsitzpflicht vorsehe, und sich für befugt, diese Lücke zu füllen.

    b) Für die Auslegung von öffentlichrechtlichen Gesetzesbestimmungen
wie Art. 2 Abs. 2 RstG und Art. 44 Abs. 2 GPR gelten die allgemeinen
Regeln über die Gesetzesauslegung. Danach muss das Gesetz in erster
Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach Wortlaut, Sinn und Zweck und
den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen
Verständnismethode ausgelegt werden. Auszurichten ist die Auslegung auf
die ratio legis, die zu ermitteln dem Gericht bzw. dem zur Entscheidung
berufenen Organ

allerdings nicht nach ihren eigenen, subjektiven Wertvorstellungen, sondern
nach den Vorgaben des Gesetzgebers aufgegeben ist. Der Balancegedanke des
Prinzips der Gewaltenteilung bestimmt nicht allein die Gesetzesauslegung im
herkömmlichen Sinn, sondern führt darüber hinaus zur Massgeblichkeit der
bei der Auslegung gebräuchlichen Methoden auf den Bereich richterlicher
Rechtsschöpfung, indem ein vordergründig klarer Wortlaut einer Norm
entweder auf dem Analogieweg auf einen davon nicht erfassten Sachverhalt
ausgedehnt oder umgekehrt auf einen solchen Sachverhalt durch teleologische
Reduktion nicht angewandt wird. Die Auslegung des Gesetzes ist zwar nicht
entscheidend historisch zu orientieren, im Grundsatz aber dennoch auf die
Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die damit erkennbar getroffenen
Wertentscheidungen auszurichten, da sich die Zweckbezogenheit des
rechtsstaatlichen Normverständnisses nicht aus sich selbst begründen
lässt, sondern aus den Absichten des Gesetzgebers abzuleiten ist, die es
mit Hilfe der herkömmlichen Auslegungselemente zu ermitteln gilt.

    Bei der teleologischen Reduktion handelt es sich nach zeitgemässem
Methodenverständnis um einen zulässigen Akt richterlicher Rechtsschöpfung
und nicht um einen unzulässigen Eingriff in die rechtspolitische Kompetenz
des Gesetzgebers. Unstreitig weist zwar das Gesetzesbindungspostulat
den Richter an, seine Rechtsschöpfung nach den Institutionen des
Gesetzes auszurichten. Es schliesst aber für sich allein richterliche
Entscheidungsspielräume nicht grundsätzlich aus, sondern markiert
bloss deren gesetzliche Grenzen. Die Gesetzesauslegung hat sich
vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die
Rechtsnorm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene
und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige
Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes
Ergebnis aus der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen
pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die
einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung
zu unterstellen. Bei der hier zur Diskussion stehenden Auslegung
organisatorischer Normen kommt der historischen Betrachtungsweise indessen
eine vorrangige Stellung zu, da der Inhalt des Organisationsrechts weit
weniger der Änderung der gesellschaftlichen Vorstellungen unterworfen
ist als derjenige materiellrechtlicher Normen (BGE 112 Ia 208 E. 2a;
HÄFELIN/HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5.Aufl. Zürich 2001,
Rz. 127 ff., insbesondere 129).

    Eine echte Gesetzeslücke liegt nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts dann vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln
unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz weder
nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden
Inhalt eine Vorschrift entnommen werden kann. Von einer unechten oder
rechtspolitischen Lücke ist demgegenüber die Rede, wenn dem Gesetz zwar
eine Antwort, aber keine befriedigende, zu entnehmen ist, namentlich,
wenn die vom klaren Wortlaut geforderte Subsumtion eines Sachverhalts in
der Rechtsanwendung teleologisch als unhaltbar erscheint. Echte Lücken
zu füllen, ist dem Richter aufgegeben, unechte zu korrigieren, ist ihm
nach traditioneller Auffassung grundsätzlich verwehrt, es sei denn, die
Berufung auf den als massgeblich erachteten Wortsinn der Norm stelle
einen Rechtsmissbrauch dar. Zu beachten ist indessen, dass mit dem
Lückenbegriff in seiner heutigen schillernden Bedeutungsvielfalt leicht
die Grenze zwischen zulässiger richterlicher Rechtsfindung contra verba
aber secundum rationem legis und grundsätzlich unzulässiger richterlicher
Gesetzeskorrektur verwischt wird. In differenzierender Auslegung ist daher
vorab zu prüfen, ob der Wortsinn der Norm nicht bereits einem restriktiven
Rechtssinn zu weichen habe, sodann, ob nicht bloss eine teleologisch nicht
unterstützte Redundanz des grammatikalischen Rechtssinns gegeben sei, die
durch eine Reduktion contra verba legis eingeschränkt werden muss. Der
Lückenbegriff taugt diesfalls erst, wenn die teleologische Reduktion
des Wortsinns ergibt, dass die positive Ordnung einer Regelung entbehrt,
mithin eine verdeckte - aber echte - Lücke aufweist, die im Prozess der
richterlichen Rechtsschöpfung zu schliessen ist. Wo jedoch der zu weit
gefasste Wortlaut durch zweckgerichtete Interpretation eine restriktive
Deutung erfährt, liegt ebenso Gesetzesauslegung vor wie im Fall, wo
aufgrund teleologischer Reduktion eine verdeckte Lücke festgestellt und
korrigiert wird. In beiden Fällen gehört die so gewonnene Erkenntnis zum
richterlichen Kompetenzbereich und stellt keine unzulässige berichtigende
Rechtsschöpfung dar (grundlegend BGE 121 III 219 E. 1d/aa mit den dort
zitierten Hinweisen auf die Rechtsprechung und dem Überblick auf die
massgebende Literatur zur Auslegungsmethodik; 126 III 49 E. 2d mit Hinweis
auf den neuesten Aufsatz von RIEMER zur teleologischen Reduktion, in:
recht 17/1999 S. 176 ff.).

    c) Art. 2 Abs. 2 RstG und Art. 44 Abs. 2 GPR regeln die Wohnsitzpflicht
der Regierungsstatthalter, und zwar in dem Sinne, dass nach ihrem klaren
und eindeutigen Wortlaut die Regierungsstatthalter

im Amtsbezirk Wohnsitz haben müssen. Die Regelung ist nach ihrem Wortlaut
lückenlos.

    Die Wohnsitzpflicht für Regierungsstatthalter wurde beim Erlass des
RstG 1995 - also vor bloss sechs Jahren - bewusst beibehalten. Eine
Ausnahmemöglichkeit von der Wohnsitzpflicht wurde allein für
Gerichtspräsidentinnen und -präsidenten eingeführt (Art. 101 Abs. 2
GOG). Wie der Grosse Rat im angefochtenen Entscheid selber ausführt, war
man sich bei der Beratung des RstG "der Problematik der Wohnsitzpflicht in
der heutigen Zeit durchaus bewusst", hielt aber "aufgrund der besonderen
Stellung der Regierungsstatthalterin bzw. des Regierungsstatthalters im
Amtsbezirk an der Wohnsitzpflicht fest, ohne dass eine Ausnahmemöglichkeit
vorgesehen wurde". Anders als für Gerichtspräsidentinnen und
-präsidenten, denen für die Übernahme von Doppelmandaten Ausnahmen von
der Wohnsitzpflicht eingeräumt wurden, nahm man, wie der Grosse Rat an
gleicher Stelle ausführt, in Kauf, dass in den acht kleinen Amtsbezirken in
Zukunft nur noch Teilzeit-Regierungsstatthalterinnen und -statthalter amten
würden. Damit entspricht der Wortlaut der Art. 2 Abs. 2 RstG und Art. 44
Abs. 2 GPR dem Wortsinn, wie ihn der Gesetzgeber diesen Bestimmungen
verleihen wollte.

    d) Fragen kann sich nach dem oben in E. 3b Dargelegten unter
diesen Umständen nur, ob die ausnahmslose Wohnsitzpflicht für
Regierungsstatthalter sachlich unhaltbar und schlicht nicht zu
rechtfertigen ist, sodass eine zweckgerichtete Interpretation im Sinne
der teleologischen Reduktion zum Ergebnis führt, dass - entgegen dem
Wortlaut und dem Willen des historischen Gesetzgebers - die umstrittenen
Bestimmungen in dem Sinne eine echte Lücke aufweisen, als sie keine
Ausnahmeregelung vorsehen, obwohl eine solche unabdingbar ist. Dies ist
jedoch offensichtlich nicht der Fall.

    Wie der Grosse Rat selber - und zu Recht - ausführt (oben E. 2c),
ist die Wohnsitzpflicht für Regierungsstatthalter aus den von ihm
angeführten Gründen sachlich gerechtfertigt. Zwingende Gründe,
Ausnahmen zuzulassen, sind nicht ersichtlich und werden vom Grossen Rat
auch gar nicht vorgebracht. Er legt in keiner Weise dar, inwiefern es
verfassungswidrig oder unverhältnismässig sein könnte, Erwin Walker zur
Wohnsitznahme im Amtsbezirk Saanen zu verpflichten. Ihm ein Doppelmandat
zu ermöglichen, stellt offensichtlich keinen triftigen Grund dar, darauf
zu verzichten. Der Grosse Rat geht weiter davon aus, dass das bernische
Recht keine Doppelmandate für Regierungsstatthalter vorsieht. Selbst wenn
man mit ihm

davon ausgehen wollte, dass insoweit eine echte Lücke vorläge und man
auf dem Wege der Lückenfüllung Doppelmandate zulassen könnte, so wäre
damit noch nicht dargetan, dass der Ausschluss des Doppelmandates für die
Amtsbezirke Obersimmental und Saanen wegen der bestehenden Wohnsitzpflicht
geradezu unhaltbar wäre. Es mangelt daher an einer wesentlichen
Voraussetzung, um für Erwin Walker auf dem Wege einer Auslegung contra
legem die umstrittene Ausnahme von der gesetzlichen Wohnsitzpflicht
einzuführen. Dass ein starres Festhalten an der Wohnsitzpflicht bei
den Verhältnissen in den Amtsbezirken Saanen und Obersimmental "nicht
unbedingt erforderlich" ist, genügt hierfür eindeutig nicht.

    Um die seiner Auffassung nach bestehende Lücke zu füllen, hätte der
Grosse Rat im Übrigen ohnehin eine abstrakte Regelung mit Kriterien für
ein ausnahmsweises Abweichen von der Wohnsitzpflicht treffen müssen,
wie dies voraussichtlich der Gesetzgeber getan hätte, wenn er sich
des Problems bewusst gewesen wäre. Dies haben der Grosse Rat und
Regierungsrat offensichtlich nicht getan. Vielmehr schuf der letztere
erst im Hinblick auf die umstrittene Wahl überhaupt die Voraussetzungen
für ein Doppelmandat, indem er die Pensen der Regierungsstatthalter von
Obersimmental und Saanen auf 55% bzw. 45% reduzierte, um die Kandidatur
von Erwin Walker zu ermöglichen. Ein solches auf einen Einzelfall bezogenes
Vorgehen birgt die Gefahr willkürlicher Entscheide in sich.

    Der Grosse Rat war unter diesen Umständen nicht befugt, sich über
die Wohnsitzpflicht im Amtsbezirk hinwegzusetzen und die streitige
Wahl zu validieren. Wenn er die Lockerung der Wohnsitzpflicht für
Regierungsstatthalter für politisch wünschbar hält, hat er den dafür
vorgesehenen Weg der Gesetzesrevision zu beschreiten, wie er das wiederum
selber im Zusammenhang mit der Prüfung der Verhältnismässigkeit anführt.

    e) Nicht stichhaltig ist der Einwand des Regierungsrates,
der angefochtene Validierungsentscheid dürfe aus Achtung vor dem
demokratisch zustandegekommenen Wahlergebnis nicht aufgehoben werden, da
den Stimmberechtigten bei der Wahl klar gewesen sei, dass Erwin Walker
im Falle eines Sieges in zwei Amtsbezirken amten werde. Er geht schon
deswegen fehl, weil in einem demokratischen Rechtsstaat (Art. 1 Abs. 1 KV)
jedermann und damit auch die Mehrheit der Stimmenden bei einer Wahl an
das Gesetz gebunden und daher nicht befugt ist, sich über die geltenden
gesetzlichen Voraussetzungen der Übernahme des Amtes durch den Gewählten
hinwegzusetzen. Zudem bildete allein die Wahl eines neuen

Regierungsstatthalters Gegenstand der Volksabstimmung und nicht die
Änderung von kantonalen Gesetzesbestimmungen, für die die Stimmberechtigten
im Amtsbezirk Saanen allein ja auch nicht zuständig wären.

    f) Zusammenfassend ergibt sich somit, dass der angefochtene Entscheid
des Grossen Rates gegen die gesetzliche Wohnsitzpflicht verstösst,
weil er die Wahl von Erwin Walker zum Regierungsstatthalter validierte,
obwohl dieser keinen Wohnsitz im Amtsbezirk Saanen hat und auch nicht
gewillt ist, ihn dahin zu verlegen. Damit hat er das passive Wahlrecht
des Beschwerdeführers und auch das aktive und passive Stimmrecht der
übrigen Stimmberechtigten verletzt. Die Rüge ist begründet.