Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 128 I 149



128 I 149

13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft und Haftrichter des Bezirksgerichts
Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)

    1P.202/2002 vom 2. Mai 2002

Regeste

    Art. 5 Ziff. 3 EMRK; Art. 31 Abs. 3 Satz 2 BV; § 58 StPO/ZH.
Untersuchungshaft; besondere Kollusionsgefahr bei Kindsmissbrauch.
Tragweite des Beschleunigungsgebots bei psychiatrischer Begutachtung
des Angeschuldigten.

    Die Rüge, das Beschleunigungsgebot sei verletzt, ist
im Haftprüfungsverfahren nur soweit zu beurteilen, als die
Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der
Untersuchungshaft in Frage zu stellen und zu einer Haftentlassung zu führen
(E. 2.2).

    Kollusionsgefahr bejaht auf Grund der besonderen Beziehung des
mutmasslichen Täters zu den missbrauchten Kindern, auch wenn diese ihre
belastenden Aussagen bereits gemacht haben und die Untersuchung weitgehend
abgeschlossen ist (E. 3).

    Verletzung des Beschleunigungsgebotes bei monatelanger Untätigkeit
des Gutachters, der mit der psychiatrischen Begutachtung des in
Untersuchungshaft gehaltenen mutmasslichen Täters befasst ist (E. 4)?

Sachverhalt

    Die Bezirksanwaltschaft Zürich führt gegen X. ein Strafverfahren
u.a. wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern und Drohung. Sie
wirft ihm insbesondere vor, sich verschiedene Male an mehreren unter
16-jährigen Knaben vergangen zu haben und diesen für die geleisteten
Dienste (gegenseitiges Onanieren, Oral- und Analverkehr) Geld und
Haschisch gegeben zu haben. X. wurde am 22. Dezember 2000 verhaftet
und am 25. Dezember 2000 in Untersuchungshaft gesetzt. Am 10. Juli 2001
bewilligte die zuständige Bezirksanwältin den vorzeitigen Strafantritt,
widerrief diese Verfügung indessen tags darauf wieder, als bekannt
wurde, dass X. versucht hatte, zwei Briefe an der Briefkontrolle
vorbeizuschmuggeln. Am 29. Oktober 2001 bewilligte die Bezirksanwältin
den vorzeitigen Strafantritt, wobei sie X. jeden Kontakt mit den

Geschädigten untersagte. Am 7. März 2002 stellte X. ein
Haftentlassungsgesuch, welches vom Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich
am 14. März 2002 abgewiesen wurde.

    Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde im Sinne der
Erwägungen ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.  Untersuchungshaft kann im Kanton Zürich (u.a.) angeordnet werden,
wenn der Angeschuldigte eines Vergehens oder Verbrechens dringend
verdächtig ist und die Gefahr besteht, dass er in Freiheit Spuren oder
Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu verleiten suchen
oder die Abklärung des Sachverhaltes auf andere Weise gefährden könnte
(§ 58 der Strafprozessordnung vom 4. Mai 1991, StPO). Liegt ausser dem
allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts Kollusionsgefahr vor,
steht einer Inhaftierung auch unter dem Gesichtswinkel der persönlichen
Freiheit von Art. 10 Abs. 2 BV grundsätzlich nichts entgegen.

    Der Beschwerdeführer bestreitet, dass Kollusionsgefahr vorliege
und macht geltend, das Beschleunigungsgebot sei krass verletzt worden,
weshalb er aus der Haft zu entlassen sei.

    2.1  Kollusion bedeutet, dass sich der Angeschuldigte mit
Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten ins
Einvernehmen setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst. Die
Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass ein
Angeschuldigter die Freiheit dazu missbraucht, die wahrheitsgetreue
Abklärung des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu gefährden. Dabei
genügt nach der Rechtsprechung die theoretische Möglichkeit, dass der
Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte nicht, um die Fortsetzung
der Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen, vielmehr müssen konkrete
Indizien für eine solche Gefahr sprechen (BGE 123 I 31 E. 3c; 117 Ia 257
E. 4b und c).

    2.2  Nach Art. 5 Ziff. 3 EMRK und Art. 31 Abs. 3 Satz 2 BV darf eine
an sich gerechtfertigte Untersuchungshaft die mutmassliche Dauer der
zu erwartenden Freiheitsstrafe nicht übersteigen (BGE 105 Ia 26 E. 4b
mit Hinweisen).

    2.2.1  Die Rüge, das Strafverfahren werde nicht mit der
verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung
geführt, ist im Haftprüfungsverfahren nur soweit zu beurteilen,
als die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der
Untersuchungshaft in Frage zu stellen und zu einer Haftentlassung zu
führen.

Dies ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und zudem die
Strafverfolgungsbehörden, z.B. durch eine schleppende Ansetzung der
Termine für die anstehenden Untersuchungshandlungen, erkennen lassen,
dass sie nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, das Verfahren nunmehr
mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen
Beschleunigung voranzutreiben und zum Abschluss zu bringen.

    2.2.2  Ist die gerügte Verzögerung des Verfahrens weniger gravierend,
kann offen bleiben, ob eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes
vorliegt. Es genügt diesfalls, die zuständige Behörde zur besonders
beförderlichen Weiterführung des Verfahrens anzuhalten und die Haft
gegebenenfalls allein unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Fristen
zu bestätigen. Ob eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes gegeben ist,
kann in der Regel denn auch erst der Sachrichter unter der gebotenen
Gesamtwürdigung (BGE 124 I 139 E. 2c) beurteilen, der auch darüber zu
befinden hat, in welcher Weise - z.B. durch eine Strafreduktion - eine
allfällige Verletzung des Beschleunigungsgebotes wieder gut zu machen ist.

Erwägung 3

    3.

    3.1  Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer schon aufgrund seiner
weit gehenden Geständnisse (u.a.) dringend verdächtig ist, mehrere Knaben
wiederholt missbraucht zu haben.

    3.2  Kollusionsgefahr hat der Haftrichter im angefochtenen Entscheid
angenommen, weil die Darstellung der umstrittenen Vorfälle durch den
Beschwerdeführer in einigen zumindest für die Strafzumessung wesentlichen
Punkten von derjenigen der Geschädigten abweiche, sodass er durchaus
noch ein Interesse haben könne, auf deren Aussagen einzuwirken. Dass er
nicht vor Kollusionshandlungen zurückschrecke, habe er bereits bewiesen,
indem er versucht habe, Briefe an A. und B. an der Briefkontrolle der
Bezirksanwältin vorbeizuschmuggeln. Vom Therapie-Zwischenbericht vom
25. Februar 2002, in welchem dem Beschwerdeführer bescheinigt wird,
dass er sich heute "bewusst von den Beziehungen zu den jugendlichen
Opfern" distanziere, zeigte sich der Haftrichter wenig überzeugt, da der
Beschwerdeführer die Bezirksanwältin noch am 5. Dezember 2001 ersucht
hatte, einem Teil der Opfer Briefe schreiben zu dürfen, da er an der
Kontaktsperre sehr leide.

    3.3  Der Beschwerdeführer wendet dagegen zwar insbesondere ein, er
habe beim aktuellen Stand der Untersuchung gar keine Möglichkeit mehr,
zu kolludieren, da die Untersuchung praktisch

abgeschlossen sei. Es fehlten unbestrittenermassen nur noch das
psychiatrische Gutachten und die Schlusseinvernahme. Sollten die
jugendlichen Opfer bei diesem Stand des Verfahrens (unter seinem Einfluss)
ihre Belastungen plötzlich zurückziehen, wäre dies völlig unglaubhaft und
würde den Sachrichter mit Sicherheit nicht von seiner Unschuld überzeugen.

    3.4  Für die Annahme von Kollusionsgefahr genügt es indessen bereits,
dass - wie hier - konkret befürchtet werden muss, der Beschwerdeführer
werde in Freiheit auf Opfer und Zeugen einwirken, um den Ausgang des
Verfahrens zu beeinflussen. Ob dieses Unterfangen mehr oder weniger
aussichtsreich ist, ist nicht entscheidend, da auch eine Gefährdung der
Wahrheitsfindung genügt. Eine solche ist hier aufgrund der bei sexuellen
Handlungen mit Kindern bestehenden besondern Beziehung zwischen Täter und
Opfer zu bejahen. Der Haftrichter bemerkt in diesem Zusammenhang zudem
zu Recht, dass zumindest eine Erschwerung und Verlängerung des Verfahrens
eintreten könnte, wenn die Opfer ihre Belastungen unter dem Einfluss des
Beschwerdeführers zurückzögen, da sie dann möglicherweise noch einmal
befragt werden müssten. Der Haftrichter hat daher die Verfassung nicht
verletzt, indem er Kollusionsgefahr annahm.

Erwägung 4

    4.

    4.1  Den Vorwurf der Verletzung des Beschleunigungsgebotes begründet
der Beschwerdeführer damit, dass er bereits im März 2001 ein vollständiges
Geständnis abgelegt habe, worauf die Bezirksanwältin am 11. Mai 2001
Dr. Arnuld Möller von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich mit
seiner Begutachtung beauftragt habe. Am 5. Juli 2001 habe die letzte
eigentliche Untersuchungshandlung - die Befragung von Zeugen und des
Beschwerdeführers - stattgefunden. Da Dr. Möller bis zum September
nichts von sich habe hören lassen, habe sich seine Verteidigerin mit
ihm in Verbindung gesetzt und dabei die Zusicherung erhalten, er werde
das Gutachten bis Ende Dezember 2001 fertigstellen. Am 20. Dezember 2001
habe Dr. Möller der Bezirksanwältin telefonisch mitgeteilt, er habe beim
Aktenstudium festgestellt, dass ihm das Geschädigtenumfeld teilweise
persönlich bekannt sei, weshalb er sich als befangen erachte und das
Gutachten nicht erstellen könne. Die Bezirksanwältin habe daraufhin Frau
Dr. Wyler van Laak mit seiner Begutachtung beauftragt, obwohl der von ihm
vorgeschlagene Dr. Stephan Kauf in der Lage gewesen wäre, ein Gutachten
innert kürzerer Frist zu erstellen.

    4.2  Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 22.  Dezember 2000
und damit seit gut 1 1/3 Jahren in Haft. Überhaft droht daher zur Zeit
noch nicht, da dem einschlägig vorbestraften Beschwerdeführer nach den
zutreffenden Ausführungen des Haftrichters, auf die verwiesen werden kann,
eine deutlich höhere Strafe droht.

    4.3  Hingegen ist unbestritten, dass die Untersuchung faktisch 8 Monate
ruhte, weil der mit der Begutachtung des Beschwerdeführers beauftragte
Dr. Möller solange untätig blieb, nur um sich anschliessend nach einem
ersten Aktenstudium für befangen zu erklären. Diese in einem Haftfall
unentschuldbare Verzögerung haben objektiv die Strafverfolgungsbehörden
zu vertreten, auch wenn der zuständigen Bezirksanwältin subjektiv kein
Vorwurf zu machen ist.

    Diese hat nach der Absage Dr. Möllers auch prompt reagiert
und am 14. Januar Frau Dr. Wyler van Laak mit der Begutachtung des
Beschwerdeführers beauftragt, welche dessen Fertigstellung für den
August 2002 in Aussicht stellt. Sie hat sich somit für die Erstellung des
psychiatrischen Gutachtens rund 7 Monate ausbedungen, was angesichts der
notorischen Überlastung zu derartigen Gutachten befähigter Sachverständiger
als akzeptabel erscheint. Es lag auch im Ermessen der Bezirksanwältin,
den vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen Dr. Stephan Kauf abzulehnen,
da dieser nach seinen eigenen Angaben nicht auf die Begutachtung von
Sexualstraftätern spezialisiert ist.

    4.4  Unter diesen Umständen erweist sich die Auffassung des
Haftrichters als zutreffend, dass die von Dr. Möller verursachte
8-monatige Verfahrensverzögerung zwar gravierend ist und dementsprechend
vom Sachrichter angemessen zu berücksichtigen sein wird, dass
sie aber noch nicht derart krass ist, dass sie eine Haftentlassung
rechtfertigen könnte. Es handelt sich indessen um einen Grenzfall, und
die Strafverfolgungsbehörden sind dementsprechend gehalten, das Verfahren
nunmehr mit besonderer Beförderung zu behandeln; weitere von ihnen zu
vertretende erhebliche Verzögerungen wären unter dem Gesichtspunkt des
verfassungs- und konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebotes nicht
mehr vertretbar und müssten zur Entlassung des Beschwerdeführers aus der
Untersuchungshaft führen.